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Zweites Kapitel.

Es war gerade der Zeitpunkt, wo ein junger englischer Komponist ein gewisses Aufsehen durch eine Oper erregte, die er über »König Olaf« geschrieben hatte. Dasselbe Thema hatte Oskar häufig beschäftigt, und seine Phantasie auf das lebhafteste angeregt, in jenen fieberhaften Tagen, als er noch gehofft hatte, ein Musiker zu werden, und die blendenden Träume von Ruhm waren noch nicht so erstorben in ihm, daß er es sich zu versagen vermocht hätte, am Abend der ersten Aufführung um Covent Garden herumstreifen.

Er wußte, daß er keinen Pfennig besaß und daß sein Anzug schäbig und sein Schuhzeug in jämmerlichem Zustand war, während er unter den Bogen dahinschlenderte und das Publikum kommen sah. Wagen fuhren vor und setzten ihre Insassen ab – die Königin erschien mit ihren Hofdamen, der Premierminister, und schließlich der König. Mit einem noch elenderen und verlasseneren Gefühl als je wandte er sich ab, als ihn eine Hand auf die Schulter klopfte und eine bekannte Stimme fröhlich zu ihm sagte:

»Hallo! Ist es denn möglich?«

Es war Neils Finsen, sein ehemaliger Schulkamerad, in elegantem Gesellschaftsanzug unter einem schönen, pelzbesetzten Überzieher.

»Hörte, du wärst in London, wußte aber nicht, wo ich dich finden sollte. Möchte dich recht bald sehen, alter Junge. Wo wohnst du denn?«

Sobald er ein erstickendes Gefühl in der Kehle überwunden hatte, antwortete ihm Oskar und Finsen sagte darauf:

»Soll ich zu dir kommen, oder willst du mich lieber hier aufsuchen?«

»Ich komme zu dir,« sagte Oskar.

»Gut! Aber wann? Paßt es dir morgen um zwölf Uhr?«

»Mir ist jede Zeit recht.«

»Glücklicher Mann! Also morgen um zwölf in meinem Bureau. Freue mich, dich endlich gefunden zu haben. Dachte immer, du würdest mich aufsuchen und wunderte mich, was in aller Welt wohl aus dir geworden sei. Adieu! Schrecklich viel zu tun heute abend, genügte für ein ganzes Regiment. Übrigens, wenn du die Aufführung hören möchtest – kann dir allerdings keinen Sitzplatz versprechen, aber wenn du hinten auf dem Balkon stehen magst – ja? Nun dann komm hier entlang. Johnson! Führen Sie den Herren hinein und geben Sie ihm, was gerade noch zu haben ist. Adieu, adieu!«

Bevor Oskar wieder zu Atem gekommen war, saß er schon im Dämmerlicht auf der letzten Reihe des zweiten Ranges, etwas beschämt und gedemütigt, aber doch wie geprickelt von seltsamer Erregung. Er wußte später nie genau, wie alles weitere gekommen war. Er vergaß, daß sein Geld zu Ende war, daß er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte, daß seine Beinkleider ausgefranst und seine Schuhe abgetreten waren. Er fühlte nur, daß er aus den gemeinen Verhältnissen der letzten sechs Monate plötzlich in eine Atmosphäre gelangt war, die Lebenshauch für seine Seele bedeutete.

Als der Dirigent erschien – es war der junge Komponist selbst – reckte Oskar den Hals aus, um ein flüchtiges Bild von dem Manne zu gewinnen, der im Begriffe stand, den Triumph zu erringen, der, wenn das Schicksal es nicht verhindert hätte, vielleicht ihm selbst zuteil geworden wäre, und als die Oper begann, lauschte er mit atemloser Spannung. Sie war gut, menschlich empfunden und modern, die Harmonie vortrefflich, die Instrumentierung sicher und gewandt, die Form verriet eine meisterhafte Beherrschung des geheimnisvollen Wesens der Musik, und dennoch fehlte etwas. Was war es wohl, was fehlte? Es fehlte das Lebensblut des rauhen alten Nordlandes. Der Engländer vermochte es ihr nicht zu geben, denn die Wurzel dieser Kraft lag nicht in ihm. Aber er hätte es gekonnt, denn sein Blut war das Blut der Wikinger, der Flosi und Snorri und das Erics und Olafs und all der mächtigen Leute der alten Zeit.

Oskar hörte in dieser Nacht nicht, wie sein Stubennachbar mit schleppendem Schritt die Treppe heraufkam und beim Zubettgehen mit trunkener Stimme »Vorwärts christliche Soldaten« pfiff; und als seine Wirtin am anderen Morgen heraufkam, um wie gewöhnlich mit ihm zu reden, da war er sich kaum bewußt, was sie sagte, ausgenommen, daß es wohl eine Art von Protest oder Drohung war, auf die er es gar nicht der Mühe wert hielt einzugehen, oder sie durch Versprechungen zu begütigen, wie er es sonst zu tun pflegte.

Der Rausch des vergangenen Abends hielt ihn noch gefangen, als er sich aufmachte, um seine Verabredung inne zu halten. Die Musik ließ wieder ihren Lockruf an ihn erschallen; wie eine Sirene rief sie ihn heraus aus seiner Freundlosigkeit und Verlassenheit, aus seiner Erniedrigung und Verborgenheit, seiner Armut und Schande, aus der mitleidslosen Grausamkeit der überfüllten Verkehrsadern und der schmutzigen Gemeinheit düsterer Gassen zum Glanz des Erfolgs und des Ruhms.

»Komm herein, alter Junge,« rief die vertraute Stimme von gestern, und Oskar befand sich in Finsens Bureau.

»Nun höre einmal,« sagte Finsen und nahm sein Pincenez ab, »wie lange bist du schon in London?«

»Sechs Monate – beinahe sieben,« sagte Oskar.

»Und was hast du getan?«

»Nichts.«

»Du glücklicher Kerl! Gar nichts?«

»Ja, ich habe doch etwas getan, und zwar mit ziemlichem Fleiße.«

»Nun, was denn?«

»Not gelitten.«

Finsen lachte laut auf, aber Oskar lachte noch lauter. Er hatte noch nicht gefrühstückt.

»Wir machen das alle zu irgendeiner Zeit durch,« sagte Finsen, »und es ist gut, wenn man es gleich zu Anfang übersteht. Ich gratuliere dir also, alter Junge, und nun zu etwas Geschäftlichem. Ich bin hier Direktor und führe die Geschäfte für ein Konsortium. Unter vier Augen, wie wir in Island sagen, habe ich nämlich die Absicht, eine Reihe Konzerte zu geben und sehe mich nach frischem Material um. Du komponierst doch?«

»Früher einmal,« sagte Oskar.

»Verstehe,« sagte Finsen. »Dein Leben ist in letzter Zeit etwas aus dem Geleise geraten, und du wirst nicht eher wieder etwas Ordentliches schreiben, bis du wieder in Routine kommst. Aber ich weiß, was du früher gemacht hast, und das ist gut genug für mich. Ich hörte ein paar von deinen Sagaliedern, wie du wohl weißt, und ich muß sagen, für einen Mann, der sich die ganze Harmonielehre eigentlich allein beigebracht hat, fand ich sie wunderbar. Aber Helga sagt mir – Helga Neilsen meine ich, von der ich ab und zu höre –«

Oskar zuckte zusammen, als ob ihn ein Peitschenschlag getroffen hätte.

»Helga sagt mir,« fuhr Finsen fort, »daß du voriges Jahr in Island ein paar Sachen gemacht hast, die die Sagalieder weit hinter sich zurücklassen, und wenn du meinst, daß wir sie hier probieren könnten –«

»Sie sind fort,« sagte Oskar.

»Ich weiß,« sagte Finsen. »Ich habe gehört, was aus ihnen geworden ist. Aber du hast vielleicht Abschriften?«

»Keine einzige.«

»Oder du hast vielleicht noch das eine oder andere davon im Kopf?«

»Nun, auch so ist die Sache nicht ganz hoffnungslos. Du bist ja eine Persönlichkeit, die einen gewissen Einfluß in Island besitzt.«

»Früher einmal,« sagte Oskar.

»Nun, ich riskiere es wohl auch auf eigene Gefahr, – mein Vater ist Kreisrichter und wird es wahrscheinlich noch weiter bringen; wenn dir also daranliegt und du deine Einwilligung dazu gibst, dann bekommen wir die Dinger wohl noch wieder.«

Ein Nebel stieg zwischen Oskars Augen und Finsens Antlitz auf. »Du meinst doch nicht –«

»Gewiß meine ich es. Wenn die Stücke nur halb so gut sind wie Helga sagt, dann sind sie wohl der Mühe wert. Jedenfalls will ich es auf ihr Urteil hin riskieren und dir etwas geben, damit du über die erste Zeit fortkommst; und haben wir das Zeug hier, dann will ich einen Morgen daran wenden, es mit dem Orchester zu probieren und du kannst die Probe leiten.«

Finsens Gestalt schwankte in dem Nebel, der sich zwischen ihm und Oskars Augen erhob.

»Du meinst, ich soll meine Einwilligung geben zur Ausgrabung –«

»Warum denn nicht? Es ist doch kein unerhörtes Unternehmen. Und wenn es je eine Berechtigung hatte, so ist es hier der Fall. Kompositionen, die der Welt Freude bereiten und Haufen Geld einbringen könnten, dürfen doch nicht in einem Grabe verscharrt liegen bleiben –«

»Eher will ich Hunger leiden,« sagte Oskar, von seinem Stuhle aufstehend.

»Mein lieber Junge,« sagte Finsen und setzte sein Pincenez wieder auf, »du sagst mir ja, daß du damit schon jetzt beschäftigt bist. Aber hier hast du die schönste Aussicht, es nicht mehr zu brauchen, und wenn –«

»Lieber will ich Hungers sterben,« sagte Oskar und wandte sich der Türe zu.

»Unsinn, alter Bursche! Wenn die Dinge an der Stelle, wo sie liegen, irgendwelchen Nutzen hätten, dann würde ich deine Gefühle respektieren. Aber so vermodern sie ganz einfach und werden bald völlig verschwunden sein. Was du dir dabei gedacht hast sie zu vergraben, mußt du selbst am besten wissen – ich gestehe, daß ich es für einen rechten Don Quixotestreich hielt – aber es hat jedenfalls seinen Zweck erfüllt. Und nun liegen sie da – diese Schöpfungen des Genies, wofür ich bereit bin sie zu halten, – und die dir möglicherweise einen Namen machen und der Anfang eines Vermögens für dich sein könnten, während du –«

»Ich will lieber in einer Gosse sterben, als sie anrühren,« sagte Oskar und stürzte ohne ein Wort des Abschieds aus dem Zimmer hinaus.

Worte vermögen nicht die Seelenpein zu schildern, die er während des übrigen Tages erlitt. Der Rausch des vergangenen Abends war verflogen, und er machte die ganzen Qualen eines Geistes durch, der sich an einer verlorenen Hoffnung aufrecht erhalten hat. Wenn er noch im mindesten unklar gewesen wäre über die Bedeutung des blinden Reuegefühls, das ihn bestimmt hatte, seine Kompositionen seinem toten Weibe ins Grab zu legen, so war er es jetzt nicht mehr. Es war Gottes Strafe gewesen, den einzigen Weg, der zu Ruhm und Erfolg, ja zum einfachen Lebensunterhalt führen konnte, wie durch eine Grabespforte zu verschließen.

Stunde auf Stunde durchwanderte er, von dem Gefühl beherrscht, daß ein Ausweg aus der Lebensweise, die er jetzt führte, nicht mehr zu erhoffen war, die Straßen. Er würde Tag für Tag tiefer sinken, ganz allmählich, bis die Flut über ihm zusammenschlüge, oder bis er mit Gottes Hilfe ein Landstreicher oder Ausgestoßener geworden sein würde.

Es dauerte lange, bis er sich entschließen konnte in seine Wohnung zurückzukehren, und als er es endlich tat, fand er, daß die Haustür sich nicht mit dem Schlüssel öffnen ließ, den er in der Tasche hatte. Er klingelte daher und ein kleines Mädchen für alles kam augenscheinlich aus ihrem Schlafzimmer herunter, mit aufgewickelten Haaren und leicht übergeworfenen Kleidungsstücken.

»Warum haben Sie denn die Tür verriegelt, mein Kind?« sagte er. »Wußten Sie denn nicht, daß ich noch nicht zu Hause war?«

»O ja, Herr, aber die Frau sagte mir, ich sollte Ihnen nur sagen, Ihre Stube wäre vermietet, und Sie könnten Ihren Koffer bekommen, wenn Sie ihr die schuldige Miete bezahlten.«

»Heißt das soviel, daß ich an die Luft gesetzt bin?«

»Es ist nicht meine Schuld, Herr, und tut mir sehr leid.«

Oskar und das Mädchen sahen sich einen Augenblick hilflos an, dann drehte er sich um und schritt die Straße hinauf, mit einem ganz neuen Gefühl im Herzen – der beschämenden, trostlosen Empfindung, kein Dach über seinem Haupte zu haben. Was es heißt, nachts in einer großen Stadt obdachlos zu sein, das kann nur der Mensch nachfühlen, der es selbst durchgemacht hat. Armut und Entbehrung sind nicht das Härteste, was es hierbei zu ertragen gibt, sondern das Gefühl äußerster Unwürdigkeit, der Gedanke, daß man für die Welt weniger zu bedeuten hat als die Hunde, denn für diese wird gesorgt, oder die Pferde, denn sie werden gut untergebracht.

Sein Geld war zu Ende und er hatte kein Gepäck bei sich, das es ihm ermöglicht hätte, ein anderes Quartier zu finden, so ging er denn die untere Regentstreet entlang, über Piccadilly fort, durch lärmendes Gedränge – junge, Zigaretten rauchende Frauenzimmer, lachende und singende junge Leute, ein zerfetztes Mädchen, das von einem Polizisten fortgeschleppt wurde – weiter und weiter ging sein Weg bis er an eine breite ruhige Straße kam, wo eine Reihe Wagen vor einem glänzend erleuchteten Hause wartete, und dort hielt er mit seinem zwecklosen Herumwandern inne und lauschte auf die Musik, die durch die offenen Fenster herausdrang.

Er hatte sich gerade zum hundertsten Male gefragt, wie es wohl zuginge, daß er, der bis vor kurzem der verzärtelte Sohn seines Vaters gewesen war – eines Gouverneurs seines Volkes und eines gerechten Richters – sich jetzt in den Straßen von London herumtrieb, ohne einen Pfennig in der Tasche und ohne ein Dach über seinem Haupte, als die Tür aufging und ein ältlicher Herr mit bloßem Kopfe heraustrat, um ein paar Damen an ihren Wagen zu geleiten. Da erwachten seine betäubten Sinne und er sah, wo er sich befand. Er stand vor dem Hause des Freundes seines Vaters, des Bankiers. Die Erinnerung tauchte in ihm auf an die noch so nahe und doch so ferne Zeit, als er selbst mit Thora und Helga die Gastfreundschaft dieses Hauses genossen hatte, und damit der Bankier ihn nur nicht in dem Landstreicher erkennen möchte, der zu so unpassender Stunde hier herumstreifte, drehte er kurz um und ging eilig davon.

Nichts was ihn in dieser bösen Nacht betroffen, hatte seine Gefühle so verletzt und ihm so deutlich gezeigt, daß es keine Rettung aus seiner entsetzlichen Lage gab. Sollte es ein Teil seiner Strafe sein, daß er, selbst wenn seine Sinne schliefen, immer an die vergangenen Zeiten erinnert werden mußte? War dies der Fall, dann wurde ja das Leben unertragbar und seine Existenz eine ewige Hölle. Vergaß die Natur denn niemals? Vergab Gott nie?

Eine halbe Stunde später wanderte er am Quai entlang, vorbei an all dem aufgehäuft ruhenden Unrat, den die Stadt bei Nacht an das Flußufer wirft; und während sein verstörter Blick die Wellen der Themse streifte, die beim elektrischen Licht aufblitzten und flimmerten, fragte er sich, ob er, um aller weiteren Qual überhoben zu sein, nicht ein Ende machen solle.

Welch ein Gedanke war es, der ihn zurückhielt? War es die Erinnerung an sein totes Weib, die ihm ein sicherer Schutz vor jeder Sünde und eine beständige Begeisterung sein sollte? Nein!

Ein unergründliches Schicksal wollte es, daß es der Gedanke an das eine Wesen war, dessen Liebe ihn zugrunde gerichtet hatte – der Gedanke an Helga. Trotz seines feierlichen Versprechens an den Gouverneur konnte er nicht umhin, an sie zu denken. Noch war kein Tag so dunkel gewesen, daß er nicht abends beim Zubettgehen und morgens beim Erwachen an sie gedacht hätte. Sie war gegangen, sie trafen vielleicht nie wieder zusammen, ihre Liebe war eine Seite seines Lebens, die er durchgestrichen und für immer umgeschlagen hatte, und doch standen ihre Augen ihm immer vor und ihr Lächeln war der einzige Sonnenschein, der sein Antlitz traf.

Der Gedanke an Thora war etwas Süßes und Heiliges für ihn, was er sorgfältig eingehüllt und in den Lavendel der Erinnerung gelegt hatte; aber der Gedanke an Helga war warm und lebendig und verließ ihn nie. Er war ihm auch jetzt nahe und er rettete seine Seele von Verzweiflung und seinen Leib vom Tode.


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