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Zehntes Kapitel.

Oskar war gerade noch imstande, seine Kräfte soweit zusammenzunehmen, daß er den Bahnhof erreichte, den Zug herausfand, und ein leeres Coupé zweiter Klasse erwischte, dann brach er vollständig zusammen. Ihm war wie einem Stück Vieh zumute, das man ins Schlachthaus gestoßen hat, und das in allen Nerven und Sinnen erschüttert ist.

Er blickte zu der Lampe an der Coupédecke auf, und da er Rauch darumschweben sah, glaubte er, der Wagen brenne, aber als er genauer hinsah, war der Rauch fort, und nun wußte er, daß seine Sehkraft gelitten hatte und nahm an, er würde blind. In seinen Ohren lärmte und dröhnte es und er glaubte erst, es wäre das Rasseln des Zuges; aber als dieser stillhielt, hörte das Dröhnen nicht auf und nun wußte er, daß sein Gehör gelitten hatte und nahm an, er würde taub. Zwei Beamte kamen in das Coupé, um die Billets zu kontrollieren, aber trotzdem er sah, wie sich ihre Lippen bewegten, konnte er doch nicht hören, was sie sagten, oder richtig erfassen, was sie von ihm wollten, bis sie sich anschickten, den Wagen zu verlassen. Da stockte das Geräusch einen Augenblick in seinem Kopf, und er hörte, wie der eine zu dem andern sagte: »Er ist betrunken, der arme Teufel!«

Dies währte die ganzen Nachtstunden hindurch, und als der Morgen heraufdämmerte, sollte er noch Furchtbareres erfahren. Beim ersten Lichtstrahl erwachte seine Seele und mit einem scharfen Schmerz, gleich den Nachwehen bei einem Flintenschuß, wurde ihm klar, wo er war und was er getan hatte. Er entfloh den Folgen der vielleicht niedrigsten und nichtswürdigsten Handlung, deren ein Mensch überhaupt fähig ist, einer Handlung, die deshalb so gemein und nichtswürdig ist, weil es kein Gesetz für ihre Bestrafung gibt.

Mochte er bisher auch noch so tief gesunken sein, diese Verderbtheit hatte er noch nicht erreicht gehabt. Tiefer konnte ein Mann nicht geraten, der noch leben und den Mitmenschen und dem Auge des Lichtes gegenübertreten will. Und er hatte diese Tiefe erreicht, er, Oskar Stephenson, der Sohn des Gouverneurs seines Heimatlandes! Als er an seinen Vater dachte, dankte er Gott, daß der Tod ihn hinweggerafft hatte, bevor diese Schande ihn traf. Aber dieser Gedanke war an sich zu hart zu ertragen – er vermochte ihn nicht auszudenken.

Jede Arterie seines Körpers schien zu bluten, jede Sehne schien zerrissen zu sein. Als die Sonne aufging und ihn in seiner grausigen Einsamkeit beschien, da war es ihm, als ob sie ihm sein Gehirn verbrenne, und er riß die Rouleaus herunter, um sie auszuschließen.

Nun fingen die weiblichen Mitreisenden an, sich auf dem Gange vor den Coupés umher zu bewegen, und Helga fiel ihm ein. Obgleich ihm alles Vorgefallene soweit entrückt schien, als ob es einer anderen Existenz angehörte, sah er doch immer noch ihr erschrecktes Gesicht vor sich, wie sie in der vorigen Nacht von ihm wegtrat, und ihn in dem gräßlichen Augenblick allein stehen ließ, wo er aller Voraussicht nach die Strafe zu zahlen hatte für das Verbrechen, zu dem sie ihn verlockt hatte. Er verachtete sie wegen dieser Feigheit, er verabscheute sie wegen dieses Verrats, er haßte sie um ihrer selbst willen und sagte sich, daß nun nie mehr, solange er noch lebte, die Liebe zu Helga wieder die Herrschaft über ihn erlangen solle.

Einen Augenblick fluchte er ihr. Im nächsten weinte er bitterlich. Konnte es Helga sein, an die er in dieser Weise dachte? Helga, die ihm viele Jahre lang so unendlich viel gewesen war, die ihm so nahe, so unaussprechlich nahe getreten war – näher als Vater und Mutter – näher – der Himmel verzeihe es ihm – als Weib und Kind? Helga, die von morgen bis abend mit ihm zusammengewesen war, deren sanfte Stimme stets an sein Ohr geklungen hatte, die seinem Herzen stets gegenwärtig gewesen war, als Ermunterung, Stütze und Begeisterung? Helga, die er geliebt hatte und ewig lieben würde, mochte sie ihm auch antun was sie wollte, und mochte auch er mit ihr tun, was er wollte? Gott erbarme sich seiner! Gott stehe ihm bei!

Obgleich seine Zärtlichkeit und seine Tränen eigentlich stärker waren als sein Haß und Zorn, beschloß er doch, daß Helga für ihre Treulosigkeit und ihre Selbstsucht bestraft werden müsse und daß er die Strafe zu vollstrecken habe. Man brauchte sich jetzt nicht erst zu fragen, worin diese Strafe zu bestehen habe. Vier Worte, die wie ein dumpfer Trommelwirbel vor seinen Ohren gedröhnt hatten, als er aus den Kasinogärten davonstürzte, dröhnten ihm noch immer im Ohr: Oskar Stephenson ist tot! Er war sich zuerst durchaus nicht klar, daß der Direktor sie wirklich ausgesprochen hatte, da sie so genau den Wunsch wiedergaben, der in seiner eigenen Brust aufgewallt war. Aber Oskar Stephenson war wirklich tot, und die Worte, die ihn vor Scham hätten zermalmen müssen, rüttelten ihn stärker auf als ein Trompetenstoß.

Wenn Oskar Stephenson tot war, dann war der in Thoras Sterbezimmer abgelegte Schwur ebenfalls tot! Dieser Schwur, der ihn für seine Untreue und für alle seine Verstöße gegen Liebe und Pflicht bestrafen sollte, indem er ihm die Befriedigung seines größten Stolzes, die Erfüllung seiner höchsten Hoffnungen versagte. Aber welcher Stolz konnte Oskar Stephenson befriedigen und welche Hoffnungen ihm erfüllt werden, wenn sein Name ausgelöscht war und er für alle Welt, mit Ausnahme von sich selbst, tot blieb?

Seine fiebernde Seele fand in dieser Leidensstunde, daß die Schlußfolgerung stimmte, und Oskar glaubte, wie in einem Spiegel alles vor sich zu sehen, was er zu tun hatte. Er mußte einen anderen Namen annehmen, sich in London vergraben, und sich an die einzige Aufgabe machen, für die er geschaffen war. Er mußte eine Oper schreiben, was er jetzt tun durfte, da Oskar Stephenson tot war und er unter dem Namen eines anderen Mannes lebte.

Die Oper mußte in seinem eigenen Lande spielen, in der einsamen Großartigkeit seiner unbetretenen Gletscher und der starren Erhabenheit seiner verbrannten Ebenen, und die Geschichte mußte einer der feurigen Sagas desselben ernsten, alten Landes entnommen sein. Und wenn nach vielen Tagen und Monaten, ja vielleicht nach Jahren, in denen er das Brot der Armut in Einsamkeit und Verlassenheit aß, seine Aufgabe vollendet war, und er sie wie eine Taube aus seiner Arche in die Welt geschickt hatte, dann würden die Menschen erfahren, daß eine neue Stimme zu ihnen gedrungen war, und der Name Islands würde auf den Lippen der Welt sein.

Wenn sich dann die Leute fragten, wer der war, der in Jahren der Verborgenheit und der Arbeit alle diese Kunst und dieses Geheimnisvolle der Musik gelernt hatte, dann würde er kein Zeichen von sich geben, denn seine Lippen waren ja versiegelt, aber eine würde sein Geheimnis verstehen: Helga, und sie würde beschämt und vielleicht reuevoll zu ihm zurückkehren, ihm zu Füßen fallen und rufen: »Ich habe unrecht getan; vergib mir und nimm mich wieder an dein Herz!«

Dann würde er ihr zur Antwort geben: »Du bist zwischen mich und mein süßes junges Weib getreten, du überredetest mich zu der Tat, die ihr das Herz brach und sie tötete, du verlocktest mich zu dem Verbrechen, das meinen Vater ruinierte, und zu dem Vergehen, das mich selbst zerstörte, und dann verließest du mich, und ließest mich meine Strafe allein tragen. Ich habe dich daher aus meinem Leben ausgelöscht, habe dich abgeschnitten wie ich ein verfaultes Glied abschneiden würde, das den ganzen Körper mit dem Tode bedroht. Ich liebe dich – ja, ich kann nie aufhören, dich zu lieben – das ist die Strafe, die ich ewig zu tragen habe – aber es kann keine Gemeinschaft mehr zwischen uns geben – wir trennen uns jetzt für immer – dein Weg liegt dort – der meine hier – Lebe wohl!«

Während der Zug dahinrollte, empfand er eine rasende Freude an dieser Aussicht, die ihren Anfang und ihr Ende in dem Gedanken hatte, daß Oskar Stephenson tot sei. Im Lichte dieses Gedankens blickte er auf sein vergangenes Leben zurück, und viele Dinge, die ihm schwer verständlich erschienen waren, wurden ihm jetzt ganz klar. Wieder und immer wieder hatte er versucht, auf seinem abwärtsführenden Wege einzuhalten, und nie hatte er es vermocht. Ehe er sich noch von der Erniedrigung seines vergangenen Lebens aufraffen konnte, hatte er seinen Kelch bis zur Hefe leeren und in die tiefste Tiefe hinabsinken müssen, wo ihn Dunkelheit und der Schatten des Todes bedeckten. Aber jetzt war Oskar Stephenson endlich tot! Gott sei Dank! Gott sei Dank!

Wie merkwürdig, daß gerade in dem Augenblick, wo Helga ihn zu der schändlichen Tat verlockte, die ihn, wenn sie geglückt wäre, für immer zu ihrem Sklaven und zum Sklaven ihrer Sünde gemacht hätte, sie ihn durch einen der schreckensvollen Schritte des Todes zum Leben und zur Freiheit führte! Wie geheimnisvoll und wie mächtig, aber auch wie zynisch waren die Schicksalsmächte, die mit übernatürlichen Schwingen das Leben von Männern und Frauen umschweben und ihre kleinen Antriebe von Liebe, Haß, Rache und Selbstsucht wie die Figuren auf dem Schachbrett des Schicksals hin und herschieben!

In dieser Stimmung gelangte er nach Paris, und da er drei Stunden warten mußte, bis der Zug nach Calais ging, wanderte er durch die Straßen, bis er in den Mittelpunkt der Stadt kam und vor einem Café Platz nahm, um ein Brötchen zu essen und eine Tasse Kaffee zu trinken. Es war sechs Uhr früh und die Zeitungsverkäufer riefen die Abendblätter aus. Er kaufte eins, um die Wartezeit hinzubringen und hatte es noch nicht aufgeschlagen, als er schon auf der Vorderseite seinen Namen so deutlich hervorstechen sah, als ob er mit verschiedener Farbe gedruckt sei.

Ein paar Augenblicke schien ein Nebelschleier zwischen seinen Augen und der Zeitung zu wallen, aber endlich las er den Abschnitt. Es war ein Telegramm aus Nizza, das unter der Überschrift »Selbstmord in einem Kasino« einen verstümmelten Bericht über die Ereignisse des vorigen Abends brachte, den augenscheinlich der Direktor veranlaßt hatte, um sich und sein Haus zu decken, und der mit folgenden Worten schloß:

 

»Der Tote stammte aus Island und soll ein Sohn des kürzlich verstorbenen, hochgeachteten General-Gouverneurs jenes Landes sein.«


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