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Fünfter Teil.

 

»Bei Gott!, oft Besserung von Herzen ich versprach.
Doch war der Sinne mächtig ich bei diesem Schwure?
Denn als der Frühling endigte mein Ungemach
Mit Sonnenschein und Rosen, – die Reue war verschwunden.«

 

Erstes Kapitel.

In seinem Elend und seiner Schande wandte sich Oskar Stephenson nach London.

Vor allen anderen Städten der Welt ist London das Heim des Ausgestoßenen, die Zuflucht des Entehrten und Verworfenen, das Asyl des moralisch Aussätzigen, das Grab des moralischen Selbstmörders. Hier wird ihm Dunkelheit und eine Art von Reinigung geboten, wenn er sich in die wirbelnden Wogen der Sechsmillionenstadt stürzt, und sie hält Wort, aber verlangt auch ihre Strafgelder. Ihre Strafgelder bestehen in Heimatlosigkeit, Freundlosigkeit und Verlassenheit – aber vor allem in Verlassenheit. Es gibt keine zweite Verlassenheit wie die Verlassenheit Londons. Die Verlassenheit eines schutzlosen Bootes auf offener See, bei undurchdringlichem Nebel, oder die Verlassenheit einer weglosen Heide bei blendendem Schneesturm ist für die menschliche Seele nicht so trostlos wie die Verlassenheit von Londons überfüllten Verkehrsadern, mit den endlosen Reihen vorüberziehender unbekannter Gesichter.

Innerhalb eines Jahres lernte Oskar die Verlassenheit Londons in ihrer ganzen Qual, ihrer äußersten Bitterkeit kennen.

Als er sich auf dem Deck der »Laura« von seiner Mutter trennte, steckte sie ihm eine Börse in die Tasche, wie sie es zu tun pflegte, wenn er als Knabe aufs Gymnasium ging oder einen Ferienausflug machte. Die Börse enthielt fünfzig Pfund in Gold und Scheinen, und dies bildete mit dem wenigen, was er selbst besaß, sein ganzes Vermögen und alles, womit er der Zukunft die Stirn bieten konnte. Er war nicht mehr jung genug, um es für unerschöpflich zu halten, und nicht so sanguinisch, daß er erwartete, die Welt würde einem gesunkenen Manne zu Füßen fallen; so versuchte er sparsam zu leben und seine Mittel zu Rate zu halten.

Die erste Nacht in London brachte er im Hotel im Trafalgar Square zu, wo er mit Thora und Helga auf der Reise nach Italien logiert hatte; aber abgesehen davon, daß es für seine jetzigen Mittel zu kostspielig war, rief es auch zu viele tragische Erinnerungen wach, und er zog am nächsten Tage in eines der ersten Häuser einer Seitenstraße, die vom Strand zum Flusse hinunterführt. Seine Wohnung bestand aus einem einzigen Zimmer einer oberen Etage, das dumpf nach Teppichen und Vorhängen roch und auf die benachbarten Dächer und zahllose rote Ziegelschornsteine hinaussah.

In dieser Behausung gewann Oskar Stephenson seinen ersten Einblick in die Londoner Verlassenheit. Sechs Monate vergingen, ohne daß er ein anderes zum Hause gehörendes Gesicht gesehen hätte, als das seiner Hauswirtin, und ohne von seinen Mitbewohnern mehr zu wissen, als daß sein Zimmernachbar niemals abends heimkehrte, als bis die große Uhr von Westminster zwölf geschlagen hatte, und daß er »Vorwärts, christliche Soldaten!« in verschiedenen Abstufungen alkoholischer Unsicherheit zu pfeifen pflegte, während er zu Bette ging.

Bevor die sechs Monate zu Ende gingen, war Oskar seiner Wirtin verschuldet; er hatte keine regelmäßige Beschäftigung gefunden und keine Aussicht, als die unmittelbar bevorstehende, obdachlos, mittellos, freundlos und allein zu sein.

Es würde zu weit führen, die Stadien zu schildern, die er durchlief, bevor er in diese Lage geriet. In bezug auf diesen Lebensabschnitt ist diese Geschichte die Geschichte jener großen Armee von Unglücklichen und Ausgestoßenen, die nach London wie zu einem Heiligenschrein flüchten, und die ihr Leben nur fristen, indem sie vor seinen Türen liegen dürfen. Alle seine Bemühungen waren fehlgeschlagen. Er war jung und tatkräftig, aber niemand brauchte ihn. An einigen Stellen lag die Schwierigkeit in seinen fehlenden Zeugnissen; bei anderen erregte seine höhere Bildungsstufe Argwohn. Für die eine Stellung war er zu gut, für die andere nicht gut genug. In einer Welt voll Arbeit fand sich keine Tätigkeit für ihn.

Die schleichende Marter dieser ersten sechs Monate nährte die Schmach und das Elend seines Zusammenbruchs und untergrub seinen moralischen Mut beinahe gänzlich. Als ein Tag dem anderen folgte, und das Gefühl der Nutzlosigkeit sich immer mehr vertiefte, kam er sich wie ein armer, freundloser und verlassener Junge vor. Er hatte unrecht getan und war bereit, die Strafe auf sich zu nehmen, aber die große, unwiderstehliche, unwiderlegbare Welt ging grausam mit ihm um. Sie wollte unter keiner Bedingung Frieden mit ihm schließen. Sie ließ ihn ohne Hoffnung, Rat, Ermutigung oder Trost – sie ließ ihn allein. Dieses Gefühl des Alleinstehens, für nichts und für niemand in der Welt von Bedeutung zu sein, verbunden mit dem Entsetzen, eines Tages in nichts zu versinken und zu wissen, daß es niemand erfahren oder sich darum kümmern würde, das war härter zu ertragen als Armut, ja als Schande selbst.

Als die Wolken am düstersten erschienen, überwand er den letzten Rest seines Stolzes und wandte sich an die paar Freunde seines Vaters in England, die in seinen sorglosen Studienjahren so freundlich und in der glücklichen Zeit seiner Flitterwochen so außerordentlich gastfrei zu ihm gewesen waren. Er wandte sich an den Professor in Oxford, sprach sich offen zu ihm über seine Vergehen aus und verhehlte ihm nicht, was er gelitten; er bat ihn um seinen Einfluß und seine Unterstützung zur Erlangung einer Bibliothekar- oder Unterbibliothekarstelle, oder irgendeiner Beschäftigung, die ihm den notwendigsten Lebensunterhalt verschaffen würde, und die Antwort, die er erhielt, war umgehend und von höflichster Form, aber kalt wie ein Eisberg. Er wandte sich an den Bankier in London und bat ihn um eine Buchhalter- oder Schreiberstelle, oder um eine Stellung als Bote, ja selbst als Pförtner, und die Antwort, die er erhielt, war glatt wie eine Hundszunge und ebenso ungeeignet, zu helfen oder zu heilen. Und nun machte er die bittere Erfahrung, daß die ihm in besseren Zeiten erwiesene Freundlichkeit nicht ihm selbst, sondern nur seines Vaters Sohn gegolten hatte, und daß er sich um sein Erbe gebracht habe und nicht mehr seines Vaters Sohn sei.

Inzwischen verlebte er seine Tage, sowie auch einen Teil seiner Nächte auf den Straßen. Hier trieb er sich wie ein hilfloses Stück Treibholz im brausenden Strome des Lebens umher, immer weiter getragen und doch nirgends hingelangend, immer entlang schwimmend und doch niemals einen Fortschritt machend. Der unaufhörliche Wirbelstrom in den geschäftlichen Verkehrsadern quälte ihn furchtbar, aber die Leere der stilleren Gassen marterte ihn noch weit mehr, und die Öde des Sonntagmorgens im Strand peinigte ihn am schlimmsten, denn sie war voll von Erinnerungen an den Sonntagmorgen in Island, mit seiner Atmosphäre von Frieden und Ruhe und dem Klange der Kirchenglocken.

Als er die tiefste Stufe von Verlassenheit und Hoffnungslosigkeit erreicht hatte, schrieb er zum erstenmal nach Hause.

 

»Liebste Mutter,« schrieb er, in seinem stickigen Zimmer sitzend, mit dem Blick auf die Dächer, »Du hast natürlich erwartet früher von mir zu hören, und ich würde gewiß schon früher geschrieben haben, wenn ich nicht auf eine ungestörte, ruhige Stunde gewartet hätte, in der ich Dir alles erzählen konnte, was ich erlebt habe, seit wir uns auf dem Dampfer trennten, und ich Dein liebes Gesicht in dem Boote verschwinden sah. Diese Stunde scheint aber nie zu kommen, und so muß ich mir ein paar Momente abstehlen, um Dir zu sagen, daß es mir gut geht und alles sich glatt entwickelt.«

 

»Die gute alte Seele, warum sollte ich ihr das Herz schwer machen?« dachte er.

 

»Du wirst leicht begreifen, daß man in einer großen Stadt wie London, besonders, wenn man wieder von unten auf anfängt und soviel zu tun und soviele Menschen zu besuchen hat, kaum eine Stunde für sich selbst erübrigen kann und keinen ruhigen Augenblick zum Briefschreiben findet. Aber das verhindert mich nicht, bei jeder Gelegenheit an Dich zu denken, was ich täglich und stündlich tue.«

 

»Das ist wenigstens wahr,« sagte er sich und fuhr kühn mit seinen liebevollen Erfindungen fort.

 

»Ich weiß, mein liebes Mamachen wird vor allem wissen wollen, wie es mit meinem leiblichen Wohlsein steht, und ich beeile mich, ihr zu melden, daß ich es mir nicht besser wünschen kann. Das Haus ist groß und schön und liegt ein wenig abseits von der größten Verkehrsflut, wo herrliche, von Pferden gezogene Wagen (Omnibusse genannt), und gepolsterte Schlitten auf Rädern (Hansoms genannt) Tag und Nacht in riesiger Zahl daherrollen und einen Lärm verursachen wie der Ellidafluß, wo er sich in den Fjord ergießt. Aber mein Schlafzimmer, in dem ich diesen Brief schreibe, ist ruhig, gemütlich und bequem, und meine Wirtin ist ein gutes kleines Geschöpf, die mich täglich besucht und immer sehr freundlich und mütterlich für mich sorgt.«

 

Die Feder flog während des Schreibens immer flotter über das Papier und seine Handschrift wurde groß und nachlässig.

 

»Ich mache täglich neue und einflußreiche Bekanntschaften und sehe alle die Gesichter leibhaft vor mir, die wir aus Bildern kennen. Gestern ging ich im Park an der Königin vorbei, die, wie Du weißt, ja eine unserer Prinzessinnen ist. Ich fühlte mich daher veranlaßt, sie zu grüßen und sie erwiderte meine Verbeugung mit der anmutigsten Höflichkeit. Den Premierminister sehe ich häufig, denn er wohnt ganz in meiner Nähe und die Wohnungen und Bureaus fast aller Staatsminister sind kaum einen Steinwurf weit von meiner Behausung entfernt. Auf eine oder die andere Weise komme ich stets mit den leitenden Persönlichkeiten in England zusammen, und wenn ich nachts mein Fenster öffne, dann kann ich das Licht sehen, das im Glockenturm über den Parlamentshäusern brennt.

Du siehst also, daß mich das Leben in diesem mächtigen Maelstrom menschlicher Tätigkeit wunderbar interessiert, und wenn ich nicht so oft schreibe, wie ich müßte, dann darf meine ängstliche kleine Mama sich nicht einbilden, daß es mir nicht gut geht, sondern muß immer denken, daß keine Nachrichten gute Nachrichten sind, und daß ich von zahllosen Beschäftigungen in Anspruch genommen bin.

Wenn ich gelegentlich eine einsame Stunde habe« – hier zitterte die Feder in seinen Fingern, und die Schrift wurde undeutlich – »dann denke ich an zu Hause und was dort wohl vorgehen mag und was die Leute jetzt über mich sagen. Ich habe wohl kein Recht mich zu beklagen, was sie auch sagen mögen, aber mitunter, wenn ich in einer sternklaren Nacht nach anstrengendem Tagewerk in meine Wohnung zurückkehre und zur Milchstraße hinaufblicke und denke, das ist der Weg in meine Heimat, dann geht es wie ein Schwert durch meine Seele, daß bei meinem letzten Fortgehen meines Vaters Tür sich vor mir verschlossen hat und ich nichts mehr von Magnus gesehen habe.

Wie geht es beiden, und wie geht es Dir und dem Faktor und Tante Margret und wie – oh, wie geht es unserer lieben kleinen Elin? Mein süßes, süßes Kind! Was würde ich darum geben, es wieder zu sehen! Ist es gewachsen? Sieht es seiner armen Mutter noch so ähnlich? Fängt es schon an etwas zu unterscheiden? Es wird bald genug anfangen zu pappeln und zu schwatzen. Wird es aufwachsen, ohne etwas von seinem Vater zu erfahren? Oder wird es vielleicht Schlechtes von ihm denken? Wenn ich eines Tages nach Island zurückkehre (und es wird sicher geschehen), um die zerrissenen Fäden meines Lebens wieder aufzunehmen, und ich finde dann, daß man das Gemüt meines eigenen Kindes gegen mich vergiftet hat, dann weiß ich nicht, was geschieht; ich glaube, ich würde sofort wieder umkehren, und meine Existenz für immerdar auslöschen.

Aber ich will mir dies nicht einmal als entfernte Möglichkeit vorstellen, und inzwischen arbeite ich Tag und Nacht, um mir einen neuen Beruf zu gründen und ich komme ja glänzend vorwärts, wie Du siehst. So leb denn wohl, Liebste, Gott segne Dich und segne alle zu Hause, denn wir werden alle noch wieder gute Freunde sein. – Oskar.

P. S. – Ist Helga noch in Island, oder hat der Faktor seine Drohung wahr gemacht und sie nach Dänemark zurückgeschickt? Ich sollte eigentlich nicht an sie denken, da ich es dem Gouverneur versprochen habe, aber ich kann es nicht lassen, und ich kann es auch nicht lassen nach ihr zu fragen.«


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