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Siebentes Kapitel.

Anna war gerade in diesem Augenblick von einem entsetzlichen Traum erwacht. Nachdem sie auf ihr Zimmer gegangen war, hatten die Erinnerung an die bösen Gedanken, die sie in Magnus erweckt, und die Vision, wie er, wenn irgend etwas geschehen sollte, sagen würde: »Du hast mir den Gedanken eingegeben, Mutter,« sie beunruhigt. Um ihre Selbstvorwürfe zum Schweigen zu bringen, hatte sie in einem Gebet um Vergebung gefleht, in dem sie dem lieben Gott versicherte, daß sie niemals an Diebstahl oder Raub, sondern nur an Magnus und Elin und an die durch ihr dringendes Zureden verlorene Erbschaft gedacht hätte, und daß es doch sehr grausam schiene, daß andere Leute so viel über ihre Bedürfnisse hätten, während ihre Kinder Not leiden müßten.

Dann war sie zu Bett gegangen, und die Stimme des Fremden, die den ganzen Abend hindurch unklare Erinnerungen in ihr erweckt hatte, begann von neuem sie zu beunruhigen, und nun, da das Licht erloschen und sie nicht mehr durch des Fremden Gesicht irregeführt wurde, wußte sie, an wen seine Stimme sie erinnerte. Es war eine ihr so teure Stimme, eine Stimme, die ihr stets nahe war, Oskars Stimme, die sie nie wieder hören sollte.

Nachdem dieser Gedanke sich Annas unter Herzklopfen bemächtigt hatte, sah sie den Fremden mit ganz anderen Augen an. Sein Lachen klang nicht länger grausam, und das was er von sich selbst hinsichtlich des schlechten Sohnes gesagt hatte, erschien ihr rührend. Und während sie seiner armen, so vergeblich ihres verlorenen Sohnes harrenden Mutter gedachte und deren Freude bei seiner baldigen Rückkehr und bei seinen Worten: »Mutter, Mutter! Hier bin ich endlich, und wir werden uns nie wieder trennen!« sich ausmalte, floß ihr das Herz in Mitgefühl über, und sie bedauerte, daß sie, als er zu Bette gegangen war, nicht freundlicher zu ihm gewesen war.

Dann war sie eingeschlafen, und der Traumgott hatte sie in jene schöne Zeit zurückversetzt, wo sie zwei Knaben bei sich zu Hause hatte, einen dunklen und einen blonden, und der Vater den dunklen ungerecht bestrafte und seine ernste, düstere Seele es nicht zulassen wollte sich zu rechtfertigen, und wie der blonde dann sein Geständnis herausgeschluchzt und gesagt hatte: »Es war nicht Magnus, ich war es, Papa« – und wie einen Augenblick später zwei glückliche, kleine Köpfe auf demselben Kissen Seite bei Seite gelegen und fröhlich gelacht hatten.

In dem beweglichen Kaleidoskop ihres Traumes hatte sich dies Bild kaum verschoben, als Anna mit dem vollen Bewußtsein, Oskars Stimme: »Mutter! Mutter! Mutter!« rufen zu hören, erwachte. Sie dachte, es müsse der Fremde gewesen sein, der in seinem Schlafe gerufen hätte, denn die Porzellanfiguren auf ihrem Toilettentisch schienen noch zu klirren, als sie jedoch aufhorchte, hörte sie nichts.

Dann kehrte die Erinnerung an Magnus' Versuchung wie ein Donnerschlag bei heiterem Himmel ihr wieder ins Gedächtnis zurück, und sie stand auf, um nach ihres Sohnes Zimmer zu gehen und sich zu versichern, daß er dort sei.

Magnus war überhaupt nicht in seinem Bette gewesen!

Noch mit dem Licht in der Hand und in ihrem Nachtkleid eilte Anna in die Halle und rief im Flüsterton nur halb verwirklichter Furcht: »Magnus! Magnus!«

Es erfolgte keine Antwort.

Sie horchte an des Fremden Türe und glaubte ein Geräusch innen zu vernehmen, wagte aber nicht einzutreten oder zu klopfen.

»Magnus! Magnus!« flüsterte sie wieder, aber auch jetzt kam keine Antwort. Sie hörte das Wiehern des Pferdes, das rund um das Haus herum zu rennen schien, und es überlief sie eisig, denn der Laut hörte sich in der Nacht wie der Schrei einer körperlosen Seele an. Dann folgte der dumpfe Lärm bellender Hunde, und sie wußte, daß es ihre eignen waren, und daß sie in dem Nebengebäude eingeschlossen sein mußten. Dies erweckte einen neuen Gedanken in ihr, und sie lief nach der Haustüre, um zu sehen, ob sie geöffnet worden war.

Die Türe war unverriegelt!

Sie wollte sie gerade öffnen und noch einmal rufen, als sie ein Geräusch hinter sich hörte. Es kam aus des Fremden Zimmer, und wie sie ihr Ohr dicht an die Türe preßte, hörte sie Schluchzenslaute. Jemand schluchzte drinnen.

Sie kannte die tiefe, unterdrückte Stimme. Es war Magnus. Er lag auf den Knien oder ausgestreckt auf dem Boden und schluchzte als ob sein Herz brechen wollte. Darauf versuchte Anna unerschrocken die Türe zu öffnen, fand sie aber von innen verriegelt.

»Magnus! Magnus!« flüsterte sie, er antwortete jedoch nicht.

Sie war nun überzeugt, daß die entsetzliche Tat geschehen sein müsse. Die Ungewißheit hatte ihre Furcht nur verdoppelt, aber Mitleid und Liebe besiegten jedes andere Gefühl, und in ihrem Nachtkleide niederkniend, flüsterte sie durch das Schlüsselloch hindurch:

»Magnus! Magnus! Öffne die Türe. Es ist nur deine alte Mutter! Es war alles meine Schuld, Liebster! Laß mich ein!«

Das unterdrückte Schluchzen drinnen fuhr fort, und keine andere Antwort wurde ihr zuteil. Dann durchklang das rund umher herrschende Schweigen draußen der Laut von Schlittenglocken. Erst glaubte sie, es müsse nur ein Sausen vor ihren Ohren sein, aber die Glocken wurden lauter und kamen näher, und dann begannen die Hunde im Nebenhause wieder zu bellen.

Die Furcht verwandelte sich in Entsetzen, die Notwendigkeit der Verheimlichung wurde ihr klar, und sie klopfte an die Schlafstubentüre und rief in erschrecktem Flüstertone:

»Magnus, es kommt jemand. Warte bis er fort ist. Mache kein Geräusch. Komme nicht heraus. Sage mir nur, daß du mich hörst.«

Das Schluchzen hörte auf, aber Magnus antwortete nicht. Unterdessen näherten die Schlittenglocken und das Peitschenknallen, das Hohü des Kutschers und das Schnauben der im weichen Schnee trabenden Pferde sich mehr und mehr.

»Magnus! Magnus!« rief Anna laut mit letzter Anstrengung, wurde aber durch das nahe »Hallo! Hallo! Heda!« einer draußen rufenden Stimme unterbrochen – und dann sprang sie mit der Absicht, die Haustüre zu verriegeln, auf.

Ehe sie ihren Vorsatz jedoch ausführen konnte, erscholl ein metallenes Klopfen an der Fensterscheibe, und eine Stimme rief: »Gott sei mit euch!« und dann folgten eilige Fußtritte auf der äußeren Treppe. Darauf wandte Anna sich um und floh in ihr Schlafzimmer zurück.

Während des Ankleidens hörte sie das Öffnen der Haustüre und die Fußtritte verschiedener Menschen in der Halle. Sie schienen sehr glücklich und vergnügt, denn sie lachten und unterhielten sich fröhlich miteinander, und das Haus tönte von ihrem Lärme wieder.

Als sie aus der Badstofa heraustrat, kam sie auf den Postjungen zu, der, um Wasser zu einem warmen Trunk für seine Pferde zu kochen, auf dem Wege nach dem Elthause war, und als sie in die Halle zurückkehrte, fand sie die Türe und die Fenstervorläden geöffnet und das Tageslicht hereinströmend und den Postillon selbst mit verschiedenen Reisenden vor, den bis über die Ohren verhüllten Faktor und die sich gerade aus den Falten eines weißen Bärenpelzes herauswickelnde Margret Neilsen eingerechnet.

Sie wurde von allen mit einem »Hallo!« empfangen, und der Postillon sagte: »Da sind wir endlich, wie Sie sehen! Gestern konnten wir wegen des Schneesturmes nicht durchkommen, der Faktor aber bestand darauf, daß ich sofort nach Ende desselben gestern abend elf Uhr noch mich aufmachen mußte – elf Uhr!«

»Nun, wir schlachten auch nicht jeden Tag ein Schwein, wie?« sagte der Faktor, und während die Männer sich zuplinkten und lachten, sagte Margret Neilsen:

»Und wie geht es dir denn, Anna?«

Anna stand sprachlos und geisterbleich da, so daß der Faktor sagte: »Wir scheinen ihr einen gehörigen Schreck eingejagt zu haben, denn sie sieht aus, als ob sie einen Geist gesehen hätte. Wo ist denn aber Magnus?«

»Magnus? O – irgendwo draußen,« sagte Anna.

»Und wie geht es meiner lieben Elin?« sagte Tante Margret.

»Die ist noch nicht auf,« sagte Anna.

»Dann werde ich zu ihr gehen und sie wecken. Welches ist ihr Zimmer – dieses hier?« sagte Tante Margret, sich dem Fremdenzimmer nähernd.

»Nein, nein,« sagte Anna, sie aufhaltend und sich mit dem Rücken gegen die Türe stellend. »Das dort,« und Tante Margret verschwand in Elins Schlafzimmer.

»Und nun,« sagte der Faktor, allen ringsherum zuplinkend, »wie steht es mit dem anderen?«

Anna blickte den Faktor in stummem Entsetzen an.

»Mit dem Neuangekommenen, meine ich? Rührt sich wohl noch nicht, wie?«

»Dem Neuangekommenen?«

»Nun, Gast, Freund oder wie du ihn immer nennen magst.«

»Welchen Freund?«

»Nun, der Freund, der gestern abend kam, selbstverständlich.«

Anna, die nie in ihrem Leben eine Lüge gesagt hatte, wollte es nun tun, brachte es aber nicht fertig. »Ich verstehe dich nicht, Faktor,« sagte sie mühsam.

»Nun!« sagte der Faktor, und fügte dann, als ob er sich eines Besseren besänne, hinzu: »Ich dachte mir wohl, daß er dich, nachdem er solange abwesend und vermeintlich tot war, nicht erschrecken wollte. Aber weißt du noch immer nicht, wer er ist?«

Anna zitterte und sagte: »Von wem sprichst du eigentlich, Oskar Neilsen?«

»Von dem schlanken blonden Mann mit dem zugespitzten Bart, der gestern abend, Aufnahme suchend, in dein Haus kam.«

Anna war sprachlos vor Schrecken, und die Anwesenden, ihr Schweigen mißverstehend, wurden plötzlich sehr ernst. »Sollte es möglich sein, daß er gestern abend in dem Schneetreiben sich verirrt hätte?« sagte einer. »Aber er kannte ja jeden Schritt und hätte seinen Weg mit verbundenen Augen finden können,« sagte ein anderer. »Aber in einer solchen Nacht,« warf ein Dritter ein. »Bis an das Rasthaus ist er jedenfalls gelangt.« »Aber der Junge dort sagte ihm wohl, daß er nie das Ende seiner Reise sehen würde.«

»Ja, dies scheint wirklich bedenklich,« sagte der Faktor. »Der Minister wollte ihn so gern für die Nacht im Regierungsgebäude behalten, er schien aber so ungeduldig, dich zu sehen –«

» Mich zu sehen?« sagte Anna.

»Natürlich, nach seiner langen Abwesenheit. Merkwürdig! Höchst merkwürdig! Aber willst du etwa gesagt haben, daß gestern abend überhaupt kein Reisender hier gewesen ist?«

Ein blasser Schatten von dem was der Faktor eigentlich meinte, durchfuhr Annas Sinn, und der vorhergehende Schreck verwandelte sich in Entsetzen. Was hatte Magnus in blinder Leidenschaft und Verzweiflung getan? Aber selbst dann noch überwog der Wunsch ihren Sohn zu retten, alle übrigen Empfindungen in ihr, und sie wollte gerade alle Kenntnis über den Fremden ableugnen, als die Türe sich hinter ihr öffnete, und eine Stimme über ihre Schulter hinwegrief:

»Ja, ein Reisender ist gestern abend hier angekommen, er ist aber schon in aller Frühe heute morgen wieder fortgegangen.«

Es war Magnus, und nachdem Anna sich umgewandt und ihm ins Gesicht geblickt hatte, entfuhr ihr ein tiefer Erleichterungsseufzer. In seinen Zügen hatte, seit sie ihn zuletzt gesehen, eine geheimnisvolle und wunderbare Veränderung sich vollzogen. Die düstere Anmaßung der Verzweiflung war aus denselben verschwunden, irgend etwas hatte Licht in seine finstere Seele getragen, und er sah wie ein Mensch aus, der von der unmittelbaren Gegenwart Gottes kam.

»Dies ist aber merkwürdiger als alles,« sagte der Faktor. »Es war bekannt geworden, daß er eine große Summe Geldes in der Bank aufgenommen hatte, und es wurde allgemein vermutet, daß er dieses Gut auf der Versteigerung damit zu erstehen gedachte.«

»Ja,« sagte Tante Margret, aus Elins Schlafstube tretend, »um es seiner alten Mutter zu schenken.«

Und darauf hörte man Elins sanfte Stimme fragen: »Ist der Kreisrichter schon da?«

»Wer fragt nach dem Kreisrichter?« antwortete der denselben Augenblick eintretende Kreisrichter selbst.

»Der Fremde, Herr, gab mir dies Taschenbuch gestern abend und beauftragte mich, es Ihnen vor Beginn der Versteigerung heute zu übergeben.«

»Für mich wird dasselbe indes wohl nicht sein,« sagte der Kreisrichter, der mit dem Taschenbuch an den Tisch getreten war und es geöffnet hatte, und nun von dem zuerst herausfallenden Stück Papier die Aufschrift las: »An Elin, Oskars Tochter, von Christian Christiansson.«

»Ein Geschenk für Elin vielleicht?« sagte der Faktor.

»Ein Tausendkronenschein!« rief der Kreisrichter.

Die Freude der Anwesenden machte sich in lauten Glückwünschen Luft, als der Kreisrichter die Seiten des Taschenbuchs auseinanderklappend, sagte: »Wartet! Da ist noch mehr – viel mehr! Ein – zwei – drei – fünzigtausend – noch einer – noch einer und« – dann folgte dem schnellen Rascheln der Banknoten der freudige Ruf: »Zweihunderttausend Kronen!«

»Derselbe Betrag, den er der Bank entnahm,« sagte der Faktor.

»Küsse mich, mein Herzenskind!« rief Tante Margret.

»Mich ebenfalls, Enkelin!« rief der Faktor.

Anna blickte erstarrt umher, und Magnus wie jemand, der wünschte, daß die Erde ihn verschlänge. Der Faktor aber schwatzte unter Rufen und Lachen weiter:

»Nun wird mir alles klar. Er hat das Geld dem Mädchen geschenkt, es aber ihren Verwandten und Freunden überlassen, ihr mit Rat in bezug auf seine Anwendung zur Seite zu stehen.«

Elins blaue Augen blickten noch voller Erstaunen im Kreise herum, als der Faktor sie von neuem küßte und zu ihr sagte: »Nun Kleine, und wer denkst du wohl, hat dir dies große Vermögen zurückgelassen?«

»Christian Christiansson,« sagte das Mädchen.

»Gewiß. Aber weißt du auch, wer Christian Christiansson ist? Nein? Du auch nicht, Anna?«

Anna stand zitternd am Rande der Entdeckung. »Wer?« fragte sie, aber mehr mit den Lippen als mit der Stimme.

»Nun Oskar – dein Sohn Oskar, der durchaus nicht tot, sondern zurückgekommen ist, um alles wieder gut zu machen! Ich habe es immer gewußt, daß ein guter Kern in meinem Patensohn stecke!«

Die Wahrheit offenbarte sich Anna in einem Freudenwirbel – Freude, daß ihr Sohn am Leben, daß er zurückgekehrt sei, um ihr Vertrauen auf ihn zu rechtfertigen, Freude ebenfalls, wenn auch mit einem Tropfen des Schmerzes untermischt, daß er wieder gegangen und ferneres Unheil mit Magnus abgewandt sei. Ein Gebet entströmte ihrem Herzen, und sie wäre am liebsten auf die Knie gesunken.

»Mein Sohn!« sagte sie in atemlosem Flüstern.

»Mein Vater!« sagte Elin mit einer Innigkeit, wie sie das Wort nie vorher ausgesprochen hatte.

Die Gesellschaft schwatzte und lachte nun fröhlich durcheinander, die beiden Frauen aber – die alte und die junge – blickten sich nach Magnus um. Er stand mit tränenüberflutetem Gesicht im Hintergrund. Es war nicht das erstemal, daß die Wahrheit sich ihm enthüllt hatte. Sie war wie ein jäher Blitzstrahl den Augenblick vor ihm niedergefahren, als er das Fremdenzimmer betreten und verwirklicht hatte, daß Gott doch etwas für Seine Kinder in dieser Welt tut.

»Mutter – Elin!« stammelte er, ihnen seine geöffneten Arme entgegenstreckend.

»Es ist das Wunder, nicht wahr?« sagte das Mädchen.

Es war das Wunder in der Tat.

In Thingvellir fand keine Versteigerung an dem Tage statt, als aber die Glocken für den Gottesdienst läuteten, ging die ganze Versammlung zur Kirche. Das hölzerne kleine Gotteshaus war von Andächtigen gefüllt, denn es war Neujahrstag, und die Bauern waren mit ihren Frauen und Kindern aus der ganzen Nachbarschaft herbeigeritten gekommen. Sie saßen in ihren dicken Fausthandschuhen und Schneeschuhen und in dem Dunst ihres hauchenden Atems soweit den Kirchengang hinauf, wie das viereckige Altargitter es nur immer erlauben wollte, und rund um die achteckige Kanzel herum, ja, sogar zwischen dem Abfall, dem Gerümpel, und den Fleischdosenfässern, die auf der Galerie aufbewahrt wurden.

Der Faktor, seine Responsorien lauter Stimme beantwortend und die Gesangsnummern auf die kleine Blechplatte schiebend, war dort; Elin, aus deren unschuldigen blauen Augen die Verwunderung noch immer nicht ganz weichen wollte, war dort; Anna mit ihrer geteilten Glückseligkeit und einem von Dankbarkeit überfließenden Herzen war dort, und (am merkwürdigsten von allem) Magnus selbst war dort, ein ausgewechselter und gedemütigter Mensch.

Alle blickten überrascht auf Magnus, Magnus aber blickte auf niemand. Während der Pastor den Text (»Wir alle sind, den Schafen gleich, vom Wege abgewichen«) und die Bibelworte (»Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein«) verlas, und während seiner ganzen einfachen Predigt über den bekehrten Sünder am Kreuze, über die Kürze des Lebens, die Kraft der Erlösung und die Gewißheit der Trennung durch den Tod, und selbst noch während der Kirchenälteste den Choral (»Weinen dauert eine Nacht, mit dem Morgen kommt die Freude«) und die Gemeinde den Schlußgesang anstimmte, und während Elins junge, silberne, zur runden Kirchendecke emporsteigende Stimme ihm ihrer Mutter Stimme ins Gedächtnis zurückrief, saß Magnus still da, sein Gesicht dem Altarbild zugekehrt.

Es stellte einen weißgekleideten, unter warmem, südlichem Laubwerk daherschreitenden, die Kranken am Wege heilenden Christus dar, und während er auf ihn hinsah, überkam eine große Weiche sein Herz und er gedachte des gesegneten und doch entsetzlichen, jüngstvergangenen Augenblicks, als es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen war, und seine nackte Seele sich seinem Schöpfer von Angesicht zu Angesicht gegenüber befunden hatte.

Es war der Augenblick, da er mit Mordgedanken im Sinne und in Auflehnung gegen Gott des Fremden Zimmer betreten, die Türe hinter sich verschlossen und dann gefunden hatte, daß sein Opfer ihm unter den Händen entschlüpft war, und eine furchtbare Stimme vor seinem Ohr geschallt und ihm zugerufen hatte: »Halt! oder die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde.«

Nach beendetem Gottesdienst gab es viel Händeschütteln und Beglückwünschen außerhalb des Kirchentores, denn das Gerücht von dem, was sich in Annas Hause zugetragen hatte, war von Mund zu Mund gegangen, Magnus jedoch reichte seiner alten Mutter den Arm und ging mit ihr allein nach Hause, ausgenommen Elin, die eine Strophe aus dem letzten Choral vor sich hinsingend, neben ihnen her durch den Schnee schritt.

Das junge Volk jagte in seiner Freude über den ersten Schnee mit seinen Ponys hin und her; die Älteren durchsprachen gruppenweise die aufregende Tagesneuigkeit, und der Faktor, der in sein Plaid gehüllt mit einem befriedigten Ausdruck sich daherwiegte, grüßte jedermann und lud all' und jeden zu einer Tasse Kaffee nach der Pachtausspannung ein.

Es war jedoch mehr als eine Tasse Kaffee, was er für sie in Bereitschaft hatte, denn während Magnus von der Überraschung wie gelähmt schien, hatte er den Oberbefehl übernommen und angeordnet, daß ein Lamm geschlachtet werden und Tante Margret, um es zu braten, zu Hause bleiben solle.

Das Mittagsmahl war ein reich besuchtes und ein lang ausgedehntes, denn jeder war dazu willkommen, und ehe es sein Ende erreichte, erhob sich der Faktor, um eine Gesundheit auszubringen.

»Jede Kappe hat ein Ende,« sagte er, »und ich bin so glücklich, Ihnen allen mitteilen zu können, daß die Wolke, die solange über der Pachtausspannung, über Anna Magnusson und über meiner Familie gehangen hat, nun für immer verschwunden ist. »Zeig mir den Mann und nicht den Tisch,« heißt es in einer unserer Sagas, in diesem Falle aber haben wir den Tisch und nicht den Mann zu zeigen. Der wird vermutlich um diese Stunde auf dem Wege nach Reykjavik sein, und wenn Prophezeiung dasselbe ist wie eines weisen Mannes Mutmaßung, so vermute ich, daß er einen so stürmischen Empfang finden wird, wie ihn kein Mensch je zuvor auf dieser alten Insel gehabt hat. Brüder und Schwestern, ich bitte euch, stoßt mit mir an auf Annas langverlorenen Sohn, unseren langverlorenen Sohn, Islands langverlorenen Sohn – Oskar Stephenson!«

Der Toast wurde mit Hochrufen und Gläserklingen aufgenommen, Anna jedoch trank nicht, und Magnus senkte das Haupt auf die Brust herab.


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