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Siebentes Kapitel.

Als Oskar die Nachricht vom Tode seines Vaters erhielt, hatte er einen der glücklichsten Zeitabschnitte seines Lebens hinter sich. Sein Erfolg als Orchesterdirigent war durchschlagend und einträglich gewesen, und als die Konzerte in Covent Garden aufhörten, waren ihm sofort anderweitige Engagements angeboten worden.

»Siehst du wohl! Habe ich es nicht gleich gesagt?« hatte Helga gemeint. »Aber dies ist noch gar nichts gegen den Ruf, den du dir machen wirst, wenn du dich entschließest, als Komponist aufzutreten.«

»Ach, davon kann gar nicht die Rede sein,« hatte Oskar kopfschüttelnd geantwortet, aber es hatte ihn doch gefreut und glücklich gemacht.

Er hatte seine elende Wohnung in Shortstreet verlassen und war in dasselbe Haus mit Helga und Finsen an der Ecke von Piccadilly und Green Park gezogen. Hier lebten die drei Freunde so harmlos und natürlich wie Kinder miteinander und beachteten die Einschränkungen wenig, die die Gesellschaft für das Benehmen von Männern und Frauen vorschreibt.

Helgas Wohnzimmer war der allgemeine Rendezvous-Platz und die Männer machten mit größter Zwanglosigkeit davon Gebrauch. Oskar war fast immer dort zu finden, ausgenommen an den Vormittagen, wo Helga in der Musikschule war und an den Abenden, die er selbst im Theater zubrachte.

Keine Stunde war zu früh und auch kaum eine zu spät für Oskars Besuche bei Helga. Er aß mit ihr zusammen, spielte mit ihr, las mit ihr und half ihr bei ihren Übungen. Mozart, Cherubini, Onslow, Macfarren, Parry und wieder Mozart – ihre ganze Arbeit bestand in Spiel, und ihr Spiel war nur Musik.

Helga war äußerst befriedigt, Oskar immer um sich zu haben, der ihr stets half, sie immer lobte, ermutigte und begeisterte, und er war überglücklich, sich ganz ihrem Dienste widmen zu können. Der Gedanke, daß dies alles war, was sie von ihm verlangte, kam ihm keinen Augenblick.

An ihren freien Tagen und Abenden gingen sie in Konzerte und Opernhäuser, hörten die englischen Gottesdienste und die Messen in den katholischen Kirchen. Sie hörten die alten Meisterwerke immer wieder, lernten fast alle neuen Opern, Oratorien, Symphonien und Orgelphantasien kennen und studierten die Methoden der großen Sänger und Klavierspieler, die in London auftraten. Es war ein einziges, endloses Gastmahl der Musik, das sie an der Tafel der Liebe genossen.

Auch gesellige Vergnügungen boten sich ihnen, und Sonntags hatten sie offenes Haus. Mitunter speisten sie zu Mittag oder Abend mit ihren neuen Freunden in Restaurants und brachten sie, die fast alle Freunde von Finsen waren, mit nach Hause, wo man in Helgas Zimmern bei Kartenspiel und Unterhaltung bis ein, zwei, drei Uhr früh zusammenblieb. Es war ein sorgloses, verantwortungsloses, zwangloses Leben, das ein wenig dem Leben Oskars auf der Universität oder Helgas Leben bei ihrer Mutter in Kopenhagen glich, und das nicht geringe Gefahren in sich barg, woran sie allerdings niemals dachten.

Oskar wurde nur durch einen einzigen Gedanken beunruhigt, der sich um Finsen drehte. Ein gewisser Stolz, mit dem er zuerst Finsens Interesse für das Mädchen, das er liebte, und das ihn liebte, aufgefaßt hatte, machte bald der Eifersucht Platz. Er war eifersüchtig auf den Einfluß, den Finsen auf Helga ausübte, auf seine Beaufsichtigung ihrer Laufbahn, auf seine Macht über ihr Geschick. Nach und nach wurde eine nagende Sorge daraus, bis schließlich jedes freundliche Wort, das Helga mit Finsen wechselte und jedes Lächeln, das sie ihm spendete, Oskars Herz zu durchbohren schien.

Er sprach mit ihr darüber, und sie lachte ihn wegen seiner Torheit aus. Ihre zärtlichen Worte und Liebkosungen verscheuchten seine Unruhe wohl für kurze Zeit, aber sie kehrte immer wieder zurück. Schließlich schien es ihm, als ob Finsen darauf poche, daß er derjenige sei, der alle Mittel und Wege angebe, und als ob die Freunde seine Haltung der Moralität entsprechend auslegten, die in diesen Kreisen herrschte. Um endlich das geheime Nagen seines Herzens zu stillen, schlug Oskar vor, sie sollten sich verheiraten. Warum auch nicht? Es war kein Hindernis mehr vorhanden, und allen falschen Auffassungen wurde sofort ein Ende bereitet.

In Erinnerung an die Vergangenheit glaubte er, daß Helga diesem Vorschlag freudig zustimmen würde, aber die Zeiten hatten sich geändert, seit sie in Island zusammen waren, und ein freudloses Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie mit dem Kopfe schüttelte. Sie machte ihm klar, wie verhängnisvoll eine Heirat in diesem Stadium für ein Mädchen in ihrer jetzigen Stellung sein würde – verhängnisvoll für ihre Ziele, ihren Ehrgeiz, ihre Beziehung zu dem Publikum, und vor allem zu den Männern, auf deren Gunst sie rechnen mußte – bis er sich fast so beschämt fühlte, als ob er ihr etwas Strafbares vorgeschlagen hätte.

»Aber warum brauchst du eifersüchtig zu sein?« sagte sie und trat ihm näher, um ihn zu umarmen. »Wenn er es ist, dann wäre wohl Grund dafür vorhanden.«

Sie schlang die Arme um seinen Hals und fügte hinzu: »Geschäft ist Geschäft, wie du weißt, und ich werde wohl künftig noch manche Dinge tun müssen, die keiner von uns wünschen würde – wenn,« flüsterte sie, ihren Kopf an seine Brust schmiegend, »mein böser Bube nicht endlich einwilligt, sich selbst und seinem Genius treu zu sein, und mir verspricht, die großen Werke zu schreiben, von denen ich weiß, daß er sie schreiben kann, und die ich dann in der ganzen Welt singen werde. Dann,« rief sie leidenschaftlich und mit funkelnden Augen aus, während ihre Arme seinen Nacken fest umschlangen, »dann wird er sehen, was ich zu leisten imstande bin.«

Auf diese und ähnliche Ausbrüche antwortete Oskar »Nein, nein«, oder »Es ist unmöglich«, oder »Sprechen wir nicht mehr davon«; aber Helgas immer wiederholte schmeichelnde Worte und Liebkosungen glichen dem Wasser sonnenbeglänzter Rinnsale, das auf den Schnee und den gefrorenen Felsen herabtröpfelt und schließlich die Lawine zum Stürzen bringt.

Die Tage vergingen, ohne daß sie sie zählten – sechs Monate, ein Jahr, anderthalb Jahre und endlich rückte die Zeit heran, wo Helga, dem aufgestellten Programm entsprechend, die Musikschule verlassen und ihre Gesangstunden in Paris beginnen sollte. Die Aussicht auf eine baldige Trennung war ein beständiges Schreckgespenst für Oskar, der sich vergeblich bemühte, Pläne zu erdenken, die sie verhindern könnten. Da kam ihm das geheime Spiel des Schicksals zu Hilfe, das die Menschen Zufall nennen, und entriß ihn dem blinden Wüten menschlicher Leidenschaft und brachte ihn mit einem Schlage an das erstrebte Ziel.

Finsen kam eines Tages in Helgas Wohnzimmer gestürzt, ganz erfüllt von großen Neuigkeiten. Das Konsortium eines Theaters und Kasinos an einem der Hauptorte der Riviera hatte sich an ihn gewandt wegen eines Orchesterdirigenten, der imstande wäre, eine Opernsaison zu leiten; er hatte Oskar empfohlen; seine Empfehlung war angenommen worden, und es blieb ihm überlassen, die Bedingungen mit dem Neuangestellten zu regeln und ihn unverzüglich abreisen zu lassen.

Wenn der heimliche Wunsch, Oskar von Helga zu trennen, seinen Plan beeinflußt hatte, so wurden Finsens Hoffnungen sofort durchkreuzt, denn Helga rief aus:

»O wie herrlich! Aber wenn Oskar die Opernsaison zu leiten hat, warum kann ich dann nicht mitgehen? Er kann mich an dem fremden Ort unter angenommenem Namen in kleinen Rollen herausbringen, wo mich niemand kennt, und das ist eine viel bessere Übung für mich als aller dramatischer Unterricht der ganzen Welt.«

»Wundervoller Gedanke!« rief Oskar, und Finsen mußte, nicht ganz überzeugt, zustimmen.

Gerade in dieser Zeit, als diese letzte Laune des Glücks Oskar lachte, und er sich, während Helga nach Paris schrieb, um ihre Gesangstunden hinauszuschieben, zum Aufbruch nach der Riviera vorbereitete, kam der Brief aus Island und traf ihn wie ein Donnerschlag. Der Anblick des von Magnus adressierten, schwarz geränderten Kuverts hatte ihm das Blut zu Kopf getrieben. Er vermochte nicht gleich den Mut zu fassen, es zu öffnen. Mit einem Gefühl von Ohnmacht und Betäubung steckte er den Brief in die Tasche und ging in den Park hinunter, um Luft zu schöpfen und nachzudenken.

Er hatte seiner Mutter seit der ersten Zeit in seiner früheren Wohnung nicht wieder geschrieben, da er sich fürchtete, von Shortstreet aus etwas von seiner Armut zu verraten oder von Piccadilly aus etwas über Helga zu erwähnen. Dadurch hatte auch er seit Annas Brief nichts von Hause gehört; die einzigen Nachrichten, die ihn erreicht hatten, waren durch Finsens Vater gekommen und betrafen hauptsächlich öffentliche Angelegenheiten – den Niedergang des Tauschhandels, die Annahme des neuen Gesetzes und den Fortgang der Wahlen.

Jemand, der ihm angehörte, war gestorben – wer konnte es sein? Aus keinem anderen Grunde, als daß die kleine Elin die jüngste und zarteste von allen war, nahm er an, daß es das Kind sein müsse. Sein armer mutterloser Liebling! Er machte sich Vorwürfe, durch eine alles beherrschende Leidenschaft gänzlich in Anspruch genommen, so wenig an das Kind gedacht zu haben. Und doch hatte er ihrer gedacht und Pläne gemacht, eines Tages zu ihr zurückzukehren, wie es sein Recht und seine Pflicht war. Was er an Thora gesündigt hatte, wollte er durch Liebe und Sorgfalt für ihr Kind gut zu machen suchen. Aber dieses Sühneopfer war jetzt vielleicht unmöglich, und sein süßes Kind weilte bei der Mutter im Himmel.

Oskar dachte, daß von allem Mißgeschick, das ihn daheim befallen konnte, der Tod seines Kindes das schlimmste sein würde, aber als er endlich den Brief öffnete und sah, daß es sein Vater war, der von ihm gegangen war, war sein Kummer doch noch größer. Sein lieber Vater, der ihn vielleicht inniger als irgendein anderer auf der Welt geliebt und dem er es so schlecht gelohnt hatte! Er dachte an die Fälschung und hätte vor Scham vergehen mögen; er dachte an das Versprechen, mit Helga zu brechen, und fühlte sich von Reue zermalmt. Sein Vater, der ihn verzärtelt hatte, und der so gern stolz auf ihn gewesen wäre, und so große Hoffnungen auf ihn gesetzt hatte, die nun nie erfüllt werden konnten, war in Island gestorben, weit fort in Island, und hatte ihn bis an seinen Tod geliebt!

Auf einer Bank unter einem Baum sitzend, versuchte er den Brief, dies in der unorthographischen Nachschrift seiner Mutter wiederklingende Schluchzen, so gut es das scheidende Tageslicht und der sich vor seine Augen legende Nebel erlaubten, noch einmal zu lesen, bis ihm ein Parkwächter auf die Schulter klopfte und ihn daran erinnerte, daß die Tore geschlossen würden, und dann drang das dumpfe Brausen des Londoner Straßengewirrs weiter an sein Ohr.

Helga hatte ihn am Nachmittag in ihrem Zimmer erwartet, um die letzten Vorbereitungen für ihre Reise zu treffen, aber die Sonne ging unter, es wurde Abend, die Nacht brach herein und er kam nicht. Am andern Morgen trat er gesenkten Hauptes und zögernden Schrittes bei ihr ein, und sie sah, daß etwas vorgefallen war.

»Du hast schlechte Nachrichten bekommen, Oskar, – was ist geschehen?«

»Mein Vater ist tot,« antwortete er, und dann saßen sie sich ein paar Augenblicke stumm gegenüber.

Helga faßte sich zuerst – ihr Hirn drehte sich wie ein Schwungrad, – und sie sagte kaum hörbar:

»Und was denkst du zu tun?«

»Ich denke zurückzukehren,« sagte Oskar.

»Nach Island zurück?«

»Ja – zu meiner Mutter und zu meinem Kind.«

Er hob die Augen und sah sie an, und als er den schmerzlichen und enttäuschten Ausdruck ihrer Züge bemerkte, wich ihm alles Blut vom Herzen und er sagte:

»Helga, warum kannst du nicht mit mir gehen? Warum können wir uns nicht heiraten und zusammen heimkehren? Ich weiß, ich verlange etwas Großes von dir, mein Lieb, aber wir würden einander alles sein, und meine Hingebung und Liebe sollte dich für jedes Opfer entschädigen. Was schadet es, wenn wir auch schöne Träume und Ziele aufgeben müssen? Leben besteht in der Erfüllung von Pflichten, und unsere Pflichten liegen daheim – die meinen wenigstens unter allen Umständen – und wenn du sie teilen willst, wenn du mit mir heimkehren willst –«

Er brach plötzlich ab, ließ seinen Kopf in die Hände sinken und die Ellbogen auf seine Knie. Bei jedem Wort, das er vorbrachte, war ihm die Unmöglichkeit und Torheit seines Vorschlages schwer auf die Seele gefallen, und das Blut, das ihm zu Kopf geschossen war, strömte in die Tiefe seines Herzens zurück.

Helga saß einen Augenblick regungslos da, ohne ein Wort zu äußern, dann sagte sie mit fester Stimme:

»Es tut mir sehr, sehr leid, aber es ist unmöglich! Wenn ich auch an niemand sonst zu denken hätte, so darf ich doch Neils nicht vergessen. Er hat viel Geld an mich gewandt, ich habe den Kontrakt mit ihm gemacht, ich kann ihm nicht in solcher Weise davongehen.«

Oskar atmete tief und schwer und antwortete: »Dann muß ich allein gehen. Es wird mir schwer, furchtbar schwer werden, aber ich muß gehen. Es handelt sich um das Pfandgut – ich muß die Last auf mich nehmen, nun Vater nicht mehr ist – ich kann nicht zugeben, daß andere davon erdrückt werden. Und dann das Kind – ich habe bis jetzt nicht viel für dasselbe tun können, und es ist meine Pflicht, meine heilige Pflicht –«

»Dem Kinde fehlt es an nichts, Oskar. Tante Margret sorgt dafür. Du könntest dem kleinen Geschöpfchen nichts Besseres antun, als was ihm schon zuteil wird. Und was das Pfandgut anbetrifft, so kannst du die Sorge dafür ebensogut in England wie in Island auf dich nehmen! Ja sogar viel – viel besser! Du kannst hier das Zehnfache – ja das Hundertfache an Geld verdienen. Und dann male dir die Schwierigkeit aus dort unter den alten Verhältnissen von neuem zu beginnen! Jedermann muß jetzt von allem Bescheid wissen. Und sie tun es auch – ich weiß es ganz genau!«

Sie stand auf und strich vor ihm stehend über sein Haar – das ungekämmte lockige Blondhaar – und sagte leise:

»Nein, nein, Liebster! Du kannst nach Island nicht eher zurückkehren, bis du reich und groß und berühmt geworden bist. Und du wirst es erreichen! Ich sage es dir! Und dann kann ich vielleicht auch –«

Aber er hielt sich die Hände vor die Ohren, denn was Helga sagte, klang wie Spott.

»Inzwischen kannst du nicht daran denken mich zu verlassen, besonders jetzt, wo ich deine Hilfe so dringend brauche, und wo alles davon abhängt – mein Studium und meine Zukunft.«

Sie sank neben ihm auf die Knie und schlang ihre Arme um seinen Hals.

»Sag', daß du mich nicht verlassen willst, Liebster! Sag', daß du es nicht tun wirst!«

Sie überhäufte ihn mit Liebkosungen, gab ihm die zärtlichsten, schmeichelndsten Namen und überwand ihn. Er fühlte, daß der impulsive Gedanke nach Island zurückzukehren – zu dem ihn die Pflicht getrieben – durch die Leidenschaft der Liebe besiegt war, und daß er bei Helga bleiben müsse, komme, was da kommen möge.

»Ich gehöre dir mit Leib und Seele, Helga – tu mit mir was du willst,« sagte er.

»Und du gehst mit nach der Riviera?«

»Ja.«

Wenn er gewußt hätte, was er damit sagte, würde er lieber den Fluß angerufen haben, ihn in seinen tiefsten Grund hinabzuziehen und in die Todesliste seiner Verdammten einzutragen. Aber wer von uns vermag die Zukunft vorauszusehen? Wir müssen uns alle vor dem Unbekannten beugen.


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