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Dreizehntes Kapitel.

Als Magnus drei Tage darauf nach dem Pachthofe zurückkam, war er ein verwandelter Mann. Sein Gesicht war nicht mehr hart und häßlich, es hatte den weichen Ausdruck einer liebevollen Frau, und er lächelte auf etwas hernieder, das wie ein großes Bündel aussah und vor ihm auf dem Sattel ruhte. Anna sah ihn über die Brücke reiten und lief ihm ein Ende entgegen.

»Du meine Güte!« rief sie aus. »Ist es das Kind?«

»Ja, Mutter, es ist das Kind,« sagte Magnus, und aus einem Berg von Decken und Tüchern kam die kleine, jetzt fünfjährige Elin zum Vorschein und wurde Anna in die Arme gelegt.

»O, mein Liebling! Was für ein großes Mädchen sie geworden ist. Und nun bist du gekommen, um Großmama zu besuchen?«

»Ja, Großmama,« sagte das Kind.

»Und hier sind ihre Sachen – alles was sie besitzt,« sagte Magnus und warf einen Rucksack von seinen Schultern.

»Dann kommt sie ganz und gar zu uns! Und sie wird mit ihrer Großmama und Onkel Magnus zusammen leben!«

»Und mit Silvertop und den Schafen und den Hündchen,« sagte die Kleine.

»Das soll sie, und Gott segne sie! Hans Vidalin sorge für das Pony des Herrn. Eric, wo bist du? Ach, das ist ein guter Junge – trage den Rucksack ins Haus. Maria, hast du je etwas so Hübsches gesehen? Aber Magnus, wie kam es, daß der Faktor sich von ihr trennte?«

»Er wollte es zuerst durchaus nicht, trotz all seiner Plackereien und der harten Dinge, die er gesagt. Und als er sich endlich entschloß, mußte ich ihm versprechen, daß, wenn Margret Neilsen vor ihm stürbe, das Kind zu ihm zurückkehren solle.«

»Du bist doch nicht darauf eingegangen, Magnus?«

»Ich sagte, das Kind solle es selbst entscheiden, wenn es alt genug sei, und schließlich willigte er ein.«

»Aber was sagte denn Margret selbst?«

»Die war noch härter zu bestehen. »Ich versprach ihrer Mutter, sie so lange zu behalten wie ich lebte,« sagte sie.«

»Das arme Ding, sie wußte nicht, was geschehen würde.«

»Ich würde sie keinem andern Menschen auf der Welt abtreten als Anna.«

»Ich habe es immer gesagt, Margret Neilsen ist so lauter wie Gold.«

»Und ich würde sie auch jetzt nicht von mir lassen,« sagte sie, »wenn Anna nicht so schweren Kummer hätte.«

»Kummer?«

»Gib das Kind an Maria und komm mit mir ins Haus, Mutter.«

Der Sonnenschein erlosch auf Annas Zügen; sie sah was ihr bevorstand.

»Hier, nimm sie mit hinein und gib ihr etwas Gerstenkuchen und Sirup, und um Gottes willen schnüffle nicht so, als ob du dich erkältet hättest. Was ist denn geschehen, Magnus? Bin ich die einzige, die es nicht weiß? Sage es mir offen – hat er schon wieder einen schlimmen Streich gemacht?«

Als sie in der Halle saßen, erzählte ihr Magnus, was er gehört, und alles was geschehen war; wie er nach der Stadt gegangen war, mit Mordgedanken im Herzen, um den Schiffer Hans zu bestrafen; wie dieser eine Warnung erhalten und sich auf einen Schoner geflüchtet hatte, der nach Norwegen segelte; wie er ein Boot gemietet, um dem Manne zu folgen, als der Dampfer im Hafen vor Anker ging, und jemand ihm vom Deck aus zurief, Oskar wäre tot, und es ihm gerade so gewesen wäre, als ob eine Hand vom Himmel aus ihn zurückhielte.

»Tot, sagte er?«

»Ja, in Frankreich gestorben, sagte er, und warf eine dänische Zeitung herunter. Hier ist sie, Mutter, aber Gott weiß, ob ich den Bericht darin lesen soll.«

»Lies ihn,« sagte Anna.

Er las ihn – es war derselbe, der in Paris abgedruckt war – und sie hörte ihm atemlos zu.

»Dann ist er in einem Spielhause gestorben – durch seine eigene Hand noch dazu – um sich vor weiterer Schande zu retten!«

Magnus brachte kein Wort heraus, und Annas Tränen begannen zu fließen. Nach wenigen Augenblicken weinte sie bitterlich und betete laut, bald für Oskar, dem Gott verzeihen möge, bald für Elin, daß Gott die kleine Waise beschützen möge, schließlich für sich selbst, daß Gott Mitleid mit ihr habe und sie sterben lasse.

Magnus holte eine Schale vom Anrichtetisch, füllte sie aus dem Wasserkrug und gab ihr zu trinken, wonach sie sich zu erholen schien.

»Mein armer Oskar!« sagte sie. »Er hat sein Leben vergeudet, der arme Junge! Solch ein kostbares Leben noch dazu! Solche Talente! Es gab nichts, was er nicht bewältigen konnte! Jeder sagte, er würde noch einmal Großes leisten. Und nun hat es so kommen müssen! Ich hätte nicht gedacht, daß ich jemals Gott danken würde für seines Vaters Tod, aber jetzt tue ich es. O Gott, ich danke dir – aber o, was rede ich da?«

Nach wenigen Minuten fing sie an sich die Schuld an allem Geschehenen beizumessen.

»Ich habe ihn nicht richtig erzogen. Ich konnte nie streng zu Kindern sein. Und er war immer so süß und zärtlich, auch wenn er unartig war. Alle Welt liebte das Kind. Ja, es war meine Schuld, und Gott müßte mich strafen. Allmächtiger Vater, erbarme dich meines armen Jungen, und wenn mich ein Vorwurf trifft –«

»Mutter! Mutter!« rief Magnus, und sie hörte mit ihren Selbstvorwürfen auf und wartete auf ein liebevolles Wort des Trostes und der Stütze, aber Magnus sagte nichts weiter.

Wenige Minuten später war alles aus ihrem Gedächtnis gelöscht, was sie durch Oskar gelitten hatte, und der verstockte Sünder war zu einem Heiligen geworden.

»Nie hatte er sich mir gegenüber geändert, und als erwachsener Mann küßte er mich vor dem Zubettegehen geradeso wie er es als Knabe tat. Er war so gut zu seiner Mutter. Meine beiden Söhne sind gut zu mir gewesen. Nie hat eine Mutter so gute Söhne gehabt –«

»Mutter!« rief Magnus, und wieder wartete sie, aber Magnus sagte nichts weiter.

Endlich hörte sie auf zu weinen und fing an sich mit dem Gedanken zu trösten, daß, wenn Oskar Hand an sich gelegt habe, es im Wahnsinn geschehen sein müsse; Gott könne ihn daher nicht verantwortlich dafür machen.

»Vielleicht kam er zu seinem schmachvollen Ende nur, weil er als reicher Mann heimkehren wollte, um die Pfandsumme bezahlen zu können und uns alle glücklich zu machen. Ich habe mir das so oft gedacht und zu Gott darum gebetet. Aber wenn er jetzt nur arm zurück kehren könnte – so arm wie möglich – so arm wie der verlorene Sohn in dem Gleichnis –«

»Mutter,« schrie Magnus aus, »ich kann es nicht ertragen dich so reden zu hören – ich kann es nicht, und ich will es nicht. Oskar ist tot, aber er hat schändlich an dir gehandelt.«

»Sprich das nicht aus, Magnus.«

»Ich spreche es aber aus. Ich sage es, du bist die beste Mutter für ihn gewesen, die je ein Sohn gehabt hat, und er hat dir deine Sorgfalt und liebevolle Güte nur damit vergolten, daß er dich vernachlässigt und vergessen hat.«

»Sprich das nicht aus, mein Sohn.«

»Ich will es aber aussprechen. Und ich sage auch noch, daß Oskar in Schande gelebt hat und in Schande gestorben ist, und nun er nicht mehr ist, fällt es mir nicht ein zu behaupten, ich wünschte, er könnte zurückkehren.«

»Magnus! Magnus!«

»Ich wünsche es nicht. Wenn er arm zurückkehrte, welches Recht hätte er dann, seine Armut hierher zu bringen? Und wenn er reich zurückkehrte, mit welchem Recht könnte er dann erwarten, sein Reichtum vermöchte uns für die bösen Tage zu entschädigen, die wir seinetwegen durchgemacht? Ich glaube nicht an die Heimkehr des verlorenen Sohnes, Mutter, und ich glaube an das ganze Gleichnis nicht. So mag es in jener Welt zugehen, aber in dieser ist es nicht der Fall, und es sollte es auch nicht sein – nein, es sollte es auch nicht sein.«

»O Gott! O Gott!«

»Was Oskar betrifft, so versuchte ich ihm zu vergeben – du weißt, daß ich es tat – aber es gibt Verbrechen, die nicht zu verzeihen sind, und wenn ich an dieses letzte denke, das er Thora angetan hat, dann bedaure ich nicht, daß er niemals wiederkehrte – es würde mir schwer geworden sein nicht die Hand wider ihn zu erheben. An ihn dachte ich, als ich Hans verfolgte, und wenn er mit dem Schiff zurückgekehrt wäre, das seine Todesnachricht brachte, dann hätte Gott ihm und mir gnädig sein müssen.«

»Aber, mein Sohn, dein Bruder ist kaum tot, und es ist deine Pflicht ihm zu verzeihen, was er auch getan.«

»Für mich war er schon lange tot, Mutter – ehe er von Island fortging – und nun er wirklich tot ist, danke ich Gott, daß er niemals wiederkehren kann.«

»Nun, der Herr weiß am besten, was Er tut,« sagte Anna, und dann strömten ihre Tränen von neuem, worauf Magnus einsah, was er getan hatte, und zu ihr herantrat und sie küßte. Dies hatte er sonst nie im Leben getan, und ihre Tränen flossen reichlicher als zuvor. Dann ging sie zum Hause hinaus leise vor sich hin murmelnd:

»Ja wohl! Mein Gott! Mein Gott!«

Am Abend, als die Glocke in der Halle zum Gebet rief, und die kleine Elin auf dem Schoße ihrer Großmutter saß, und die Dienstleute des Pachthofes mit den scheuen Blicken von Leuten eintraten, die wußten, welch ein Schatten über dem kleinen Hause im einsamen Hügellande schwebte, da schlug Magnus die Bibel und das Gesangbuch an den Stellen auf, die Anna für ihn bezeichnet hatte. Das Kapitel war aus dem zweiten Buche Samuelis und endete mit dem Verse:

»Da ward der König traurig und ging hin auf den Saal im Tore und weinte, und im Gehen sprach er also: Mein Sohn Absalom, mein Sohn, mein Sohn Absalom! Wollte Gott, ich müßte für dich sterben! O Absalom, mein Sohn, mein Sohn!«

Der Gesang lautete:

»Arm und niedrig, schwach und klein
Werd' ich bald bei Jesus sein.«

Als der Gesang zu Ende war, gingen die Dienstleute, einer nach dem anderen hinaus, und jeder sagte zu Magnus:

»Gott schenke euch eine gute Nacht!«

Magnus antwortete, so gut er es bei der Rührung, die ihn überwältigte, vermochte:

»Euch auch! Euch auch!«


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