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Viertes Kapitel.

Der zum Minister gemachte Kreisrichter war noch derselbe Mann. Er empfing Christian Christiansson mit der glattesten Höflichkeit; aber ohne das geringste Zeichen des Wiedererkennens.

»Willkommen!« sagte er. »Willkommen in Island! Meine Frau ist im Wohnzimmer – sie wird entzückt sein, Sie zu sehen. Wir können durch dies Zimmer – durch mein Bureau – gehen, bitte mir gütigst zu folgen. Stoßen Sie sich nicht hier am Ofen – Fremde tun es zuweilen. Ein verworrenes altes Haus, mein Herr, für das mein Vorgänger verantwortlich ist – ich bin gerade dabei, ein besseres in einem anderen Stadtteil zu bauen. Sie haben doch noch nicht gegessen? Das trifft sich gut! In diesen hohen Breitengraden halten wir primitive Gewohnheiten aufrecht, Herr Christiansson. Wir essen in der Mitte des Tages und Sie sind gerade zur rechten Zeit eingetroffen. Die Nachricht Ihrer Ankunft erreichte mich während einer Ausschußsitzung und ich war so frei, einen oder zwei meiner Kollegen einzuladen. Dies ist das Wohnzimmer – treten Sie gütigst näher.«

Christian Christiansson folgte dem Minister, einsilbige Antworten auf alle seine Auseinandersetzungen murmelnd, durch das ihm wie seine eigne Handfläche bekannte Haus, bis er sich Auge in Auge seiner Wirtin und den ihm zu Ehren eingeladenen Freunden gegenüber befand.

In seiner Wirtin erkannte er eine in den mittleren Jahren stehende, mütterlich gewordene Bekannte aus seinen Schuljahren, und die Freunde waren der nun ältlich und grau gewordene Rektor des Gymnasiums und der weiß und alt gewordene Bischof. Sie empfingen ihn mit äußerster Herzlichkeit, aber ebenso wie der Minister ohne ein Zeichen der Wiedererkennung.

Christian Christiansson verneigte sich, sprach aber fast kein Wort. Die Furcht erkannt zu werden, quälte ihn nicht mehr, denn er war sich nun sicher, daß er, falls er selbst es nicht anders wünsche, unerkannt ganz Island durchreisen könne; sein Herz jedoch wollte ihm die Brust zersprengen und seine Kehle sich ihm zuschnüren, als er mit den Erinnerungen seiner Knabenzeit rings um sich her so in seinem Elternhause stand, und es kostete ihn einen harten Kampf die Fassung nicht zu verlieren.

Nach einigen Minuten kündigte ein Diener das Essen an, und der Minister führte den Weg nach dem Eßzimmer. Es war dasselbe alte Zimmer mit denselben Möbeln und kaum in irgendeiner Weise verändert. In den Augen dessen, der es nun wieder betrat, war es jedoch von Geistern erfüllt. Mit schnellem Blick überflog Christian Christiansson alles und jedes – den Stuhl, auf dem sein Vater zu sitzen pflegte, seiner Mutter, Magnus', Thoras Platz. Und in der Erinnerung, daß alle diese dahin waren, daß alles was mit seiner eignen Familie im Zusammenhang stand, ausgelöscht, daß das alte Haus jetzt von andern bewohnt, und daß er, der allein übrig Gebliebene, weder Teil noch Anrecht an dasselbe hatte, erstickten ihn die Schläge seines Herzens fast wieder, und er saß da wie ein schuldiger Verbrecher am Tische.

Wenn Christian Christiansson jedoch schweigsam war, so sprach der Minister dagegen unaufhörlich.

»Sie werden sehen, Herr Christiansson, daß Island vollständig über Sie unterrichtet ist. Ich meinesteils muß gestehen, daß ich außer der allgemeinen, öffentlichen Kenntnis noch einige Privatquellen habe. Mein Sohn – Sie kennen meinen Sohn, glaube ich?«

Christian Christiansson verneigte sich.

»Mein Sohn hat mich unausgesetzt über Sie in Kenntnis erhalten, und so werden Sie mich also mit allen Ihren Angelegenheiten vertraut finden. Ich nehme es ihm aber sehr übel, daß er mich nicht von Ihrem Kommen benachrichtigt hat – aber vielleicht wußte er es nicht. Also nicht? Ich dachte es mir. Nicht daß er es mir gesagt haben würde, wenn Sie es verheimlicht wünschten. Niels ist die Verschwiegenheit selbst, mein Herr, die Verschwiegenheit selbst. So konnte ich ihn z. B. nie dazu bewegen mir mitzuteilen, wer Sie seien. Ich versuchte es aus ihm herauszulocken, ich gestehe es ein, ich versuchte ihn. Aber nein! »Geschäft ist Geschäft, Vater,« pflegte er zu sagen, und ich mußte mich zufrieden geben.«

»Es ist eine Ehre für Island, daß Sie sich zuerst in Ihrem Vaterlande öffentlich zeigen, mein Herr,« sagte der Rektor.

»Gewiß, das ist es, Rektor, und Herr Christiansson wird sich überzeugen, daß sein Ruhm hier kein leerer Schall ist.«

»Es gibt wohl keinen Studenten hier, der Ihre Lieder nicht sänge,« sagte der Rektor.

»Und kein vierzehnjähriges Mädchen in irgendeinem Bauernhause, das Ihre Melodien nicht spielte,« fügte die Frau des Ministers hinzu.

»Merkwürdig!« sagte der Minister selbst. Es ist wahrhaft merkwürdig! Aber ich sage stets, der Musiker ist der internationale Künstler. Andere Künstler – die Dichter zum Beispiel – bedürfen ihrer Übersetzer, der Musiker aber bedarf keines Vermittlers. Er gebraucht die eine Universalsprache, und die ganze Welt versteht ihn. Welch eine Gabe! Welch eine herrliche Sache es sein muß, ein Komponist zu sein! Vielleicht hat aber auch er seinen Tribut zu zahlen. Wie sagt doch der Dichter? Sie lernen durch Leiden, was sie in ihren Liedern uns lehren. Welch ein Gedanke das ist! Ich möchte wissen, ob er recht hat? Ich möchte wissen, ob jedes große Lied, jede große Symphonie, jede große Oper aus Schmerzen geboren wird – aus wahrhaftigen, wirklichen Schmerzen des Lebens, und in manchen Fällen vielleicht aus den Sünden und Leiden des Mannes, der sie schuf? Wie denken Sie hierüber, Herr Christiansson?«

»Gott weiß es,« sagte Christiansson, und darauf trat eine minutenlange Pause ein.

»Armer Stephen!« sagte der Bischof plötzlich, und darauf erhoben alle das Gesicht vom Tisch.

»Ich dachte gerade,« sagte der Bischof, »daß wenn Sünde und Leid zu der Gabe des Genies hinzu einen großen Musiker machen, hier in diesem Hause jemand geboren worden ist, der unsterbliche Werke hinterlassen haben müßte.«

Christian Christiansson hatte mit den übrigen aufgeblickt, und der Minister lehnte sich über den Tisch zu ihm hinüber und sagte mit leiser Stimme: »Eine traurige Geschichte, mein Herr – ein Sohn meines Vorgängers, der Schiffbruch in seinem Leben erlitt, armer Bursche!«

»Sie meinen Oskar Stephenson?«

»Ja gewiß. Sollte es aber möglich sein, daß Sie ihn gekannt hätten?«

»Wir haben auf dem Dampfschiff von ihm gesprochen.«

»Ah natürlich, gewiß! Und dann war er auch eine Art bescheidener Berufsgenosse von Ihnen und dirigierte die Opern im Covent Garden. Welch eine tragische Begebenheit! Welch ein Skandal! Jeder Mensch hier fühlte sich beschämt, als die entsetzliche Nachricht aus Nizza kam. Ein so wohlbekannter, isländischer Name, und der Sohn eines früheren Gouverneurs! Es war fast, als ob er Island in den Augen der Welt erniedrigt hätte. So anders, so gänzlich anders von dem herrlichen Erfolg Ihrer großartigen Leistungen.«

Christian Christiansson zitterte vom Kopf bis zur Sohle; die gleiche geheimnisvolle Eingebung jedoch, die das Lamm zwingt dem Wolfe sich preiszugeben, trieb ihn an, fortzufahren.

»Seine Mutter ist noch am Leben, nicht wahr?« fragte er.

»Anna? Ja! Am Leben ist sie – aber das ist auch fast alles, was man von ihr sagen kann.«

Christian Christianssons Stimme verschleierte sich und erbebte. »Ist sie krank?« fragte er.

»Krank an Geld auf alle Fälle. Als der alte Gouverneur starb, ging sie zu ihrem andern Sohn nach Thingvellir, und der ist wieder in Schwierigkeiten, der arme Bursche.«

»In Schulden meinen Sie?«

»Ja, er ist der Bank für die Zinsen und das Kapital, das sein Vater hypothekarisch erhob, um seinen andern Sohn vor dem Gefängnis zu bewahren, verschuldet.«

»Und was wird die Bank mit ihm machen?«

»Ihn unverzüglich ausverkaufen.«

Christian Christiansson versank wieder in stilles Grübeln, und nachdem die Unterhaltung am Tische eine andere Wendung genommen hatte, fragte er plötzlich – »Er hinterließ ein Kind, nicht wahr?«

»Wer, mein Herr? O, Oskar Stephenson? Ja – ein Mädchen.«

»Es ist ebenfalls am Leben, nicht wahr?«

»Ja, das ist es – wenigstens so viel ich weiß. Rektor, Oskars kleine Tochter lebt doch noch, nicht wahr?«

»Lebt und ist frisch und vergnügt,« sagte der Rektor.

Christian Christianssons Augen leuchteten sichtlich auf und er sagte: »Das wenigstens ist eine gute Nachricht.«

Sein veränderter Ton erstaunte alle, und während einer kleinen Weile sprach niemand. Dann sagte der Minister –

»Es ist wirklich sehr gütig von Ihnen, ein solches Interesse an der Familie Ihres verstorbenen Berufsgenossen zu nehmen, und wenn ich die geringste Ahnung gehabt hätte, daß Sie mehr über sie zu hören wünschten, würde es leicht genug gewesen sein – ich hätte den Bankier einladen können.«

»Ich werde ihn morgen sehen,« sagte Christian Christiansson, und dann sprach er, seine Zurückhaltung ablegend, während der nächsten halben Stunde über andere Gegenstände. Er sprach gewandt, und die Gesellschaft war entzückt, denn niemand ahnte, daß seine Lebhaftigkeit der Nervosität und sein Lachen der Scham entsprangen. Als das Mahl vorüber war, stand der Bischof, dessen Augen unausgesetzt auf Christian Christiansson gerichtet gewesen waren, auf und streckte ihm die Hand entgegen.

»Es hat mich sehr glücklich gemacht, Sie kennen zu lernen, Herr Christiansson,« sagte er, »und ich hoffe, wir begegnen uns wieder. Ich verstehe nichts von Musik, mein Herr, aber ich freue mich, zu sehen, daß der edle Musiker nur ein anderer Name für den edlen Menschen ist, und ich bitte Gott, daß er Sie an Leib und Seele segnen möge.«

Christian Christiansson getraute sich nicht zu antworten, des Bischofs Lob fügte seiner Reue neue Bitterkeit hinzu, und so beugte er sich nur über des alten Mannes Hand herab und küßte sie.

Der Bischof war erfreut und gerührt. »Wie reizend er ist! Wie ganz reizend!« sagte er, während er in der Halle seinen Überzieher anzog. »Er erinnert mich an irgend jemand, den ich einmal gesehen habe.«

»Mich auch,« sagte der Rektor.

»Dies feine Wesen, dies bezaubernde Lächeln und diese durch und durch gehende Stimme!«

»Erinnert er – oder kommt es nur, weil wir bei Tische –«

»Du meinst an den armen jungen –«

»Ja.«

»Ach ja!« sagte der Bischof, als er die Türe öffnete. »Wie Großes er geleistet haben könnte, wenn der Himmel es gewollt hätte!«

»Er hätte zu dieser Zeit ein zweiter Christian Christiansson sein können,« sagte der Rektor.

»Armer Stephen!« sagte der Bischof.

»Arme Anna!« sagte der Rektor, und die beiden alten Freunde gingen sorgenvoll den Pfad hinab.

Unterdessen bestürmten den Mann, von dem sie sprachen, ohne daß sie es ahnten, die qualvollsten Selbstvorwürfe. Die Unaufrichtigkeit sich unter einem falschen Namen in die Achtung und Liebe seiner Freunde einzuschmeicheln, schien Oskar zu ersticken. Es war notwendig, es war unumgänglich, es war ein Teil seines Verhaltens, das der Zweck seines Kommens ihm aufgedrungen hatte; wenn aber die, die in der Ahnungslosigkeit ihrer Begeisterung ihn willkommen hießen, wissen könnten, wer er sei, wie ihre Herzen sich ihm abwenden, wie ihre Teilnahme in Widerwillen und ihre Bewunderung in Verachtung sich verwandeln würden!

Der Abend war eine unausgesetzte Qual für Christian Christiansson, denn alles was im Hause vorging, jeder geringste Gegenstand, auf den sein Auge fiel, schien die Macht zu besitzen ihn zu martern. Sobald er nur konnte, entschuldigte er sich und bat, daß man ihm sein Zimmer zeigte.

Man brachte ihn in das früher von Thora bewohnte Schlafgemach. Dies füllte den Becher seiner Leiden bis zum Überfließen. Ihm war zumute wie einem Menschen, der in eine verborgene Grube gestürzt war, und er hätte bitten mögen: »Gebt mir irgendein Zimmer im Hause, nur nicht dieses,« wagte jedoch keine Silbe zu äußern, damit das geringste Wort ihn nicht verraten möge.

Als die Türe sich geschlossen hatte, warf er sich in den Lehnstuhl vor dem Ofen und sah die Szenen seines Lebens, mit denen der Raum im Zusammenhang stand, eine nach der andern, wie durch Blitzstrahlen erhellt, an sich vorüberziehen. Er gedachte seines Hochzeitabends, als er klopfenden Herzens auf den Zehenspitzen das behagliche Nest seines Brautgemaches betreten und Thoras bebende Atemzüge hinter den Vorhängen des Bettes gehört hatte. Er gedachte jenes frohen Morgens, als ihr blasses Gesicht gleich Sonnenschein strahlte, und die Luft des Zimmers von morgenrotartigem Glanze erfüllt schien, weil ein Kind ihnen geboren war. Er gedachte des düsteren Tages, als er sie tot daliegend gefunden, und der schweren Stunde, als er den letzten Blick auf sie geworfen und seine Kompositionen in ihrem Sarge begraben hatte.

O, elender Mummenschanz! O, gebrochenes, sinnloses Gelübde! Und doch wieder nicht sinnlos, abgesehen von seinem eigenen, übertretenen Vorhaben, denn jetzt wußte er, weshalb er den Namen Christian Christiansson angenommen hatte. In dem blinden Kampf seines ihn anklagenden Gewissens hatte er geglaubt, er tue es nur deshalb, um sich des Ruhmes, den seine Werke ihm gewinnen würden, zu entäußern; die unergründlichen und ironischen Schicksalsmächte jedoch hatten einen strengeren Zweck als den im Sinn.

Es war der, daß er, zwar tot als Oskar Stephenson, doch nach Island zurückkehren, daß er die aufgehäuften Folgen seiner Handlungsweise erkennen, daß er den Fußspuren und dem Begräbnis seiner Jugend, wie mit bloßen Füßen auf einem Geyser gehend, folgen solle; daß die Lebenden ihn mit Dankbarkeit und die Toten mit Erinnerungen martern sollten; daß Gottes rechte Hand der Gerechtigkeit, wie sie es nie zuvor getan, auf ihn herabfallen und für alle seine Sünden züchtigen solle.

Dies war der Grund, weshalb er den Namen angenommen und die Berühmtheit Christian Christianssons gewonnen hatte. Und das Märtyrertum seines neuen Lebens hatte seinen Anfang genommen.


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