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Elftes Kapitel.

Die Zeitung entsank Oskars Fingern und sein Freudenrausch war verflogen. Er sagte sich, wieweit diese Nachricht dringen würde, daß sie nach Island gelangen und seine Mutter sie erfahren müsse, und daß man seinem Kinde sagen würde, daß es vaterlos sei.

Die kleine Elin war zu jung, um Kummer zu empfinden, aber konnte er seine Mutter in dem Glauben lassen, daß er tot war, so daß sie ihn beweinte wie einen, der auf immer für sie verloren war? Das war zu grausam; es war unmöglich; er wollte sofort an seine Mutter schreiben und ihr sagen, daß er noch lebte und jene Stelle des Berichts unwahr sei.

Aber dann kam der entmutigende Gedanke, daß er wohl die Erfindung seines Todes ungeschehen machen konnte, aber nicht die Tatsache seines Vergehens, und wenn seine Mutter sich ausmalte, wie er vor den Folgen seiner Handlungsweise floh, sich in einem Schlupfwinkel verbarg und sein Angesicht vor seinen Freunden versteckte, dann würde in der Schmach dieses Lebens größere Bitterkeit liegen, als im Tode selbst, und seine Mutter würde wünschen, daß er gestorben wäre.

Dies hatte er noch nicht bedacht und in seiner Verwirrung und seinem Schmerz darüber stand er auf und fing wieder an, in den Straßen umherzuwandern. Wenige Minuten später stand er aus den Stufen der Madeleinekirche; kaum wissend, was er tat, folgte er dem Strom der Leute, die sich in die Kirche begaben.

Es war die Stunde der Segensspendung – der schönste und rührendste unter den Gottesdiensten der katholischen Kirche. Die Versammlung bestand größtenteils aus Frauen, und unter den seidenrauschenden Damen, deren Wagen vor der Kirche hielten, befanden sich Blumenverkäuferinnen vom Blumenmarkt um die Ecke, denn in der Gemeinde des Kreuzes gibt es nur eine einzige Kaste. Eine arme Frau, die einen Stuhl nahm und dicht neben Oskar niederkniete, hatte das kummervolle und verwitterte Antlitz, das von dem Kreuz in jeder Kirche und in jedem Lande an sich gezogen wird, denn sein Reich ist das Reich der Bedrückten und Beraubten und Verzweifelten.

»Gewiß eine Mutter,« dachte Oskar, als sie sich bekreuzte und seufzte. Aber als sie ihre müden Augen zu der Gestalt der Gottesmutter über dem Altar erhob, da milderten sich ihre traurigen Züge und sie lächelte; es war fast, als ob ein Engel herabgekommen wäre und ihr zugeflüstert hätte.

Als dann die süße Musik durch die große Kirche erscholl, war Oskar die Kehle wie zugeschnürt; er dachte an seine Mutter in der weiten Ferne und sagte sich, wenn sie ihn wirklich für tot hielte, würde der Engel des Todes ihr Trost bringen. Seine Fehler würden vergeben seine Irrtümer vergessen werden, und der Staub des Todes würde alle seine Übertretungen zudecken.

Er dachte auch an Magnus. Wie sein Haß sich mildern würde, wenn er hörte, daß sein Bruder tot sei, und wie alle Flammen seines Zorns erlöschen würden. Dann dachte er an seine Feinde daheim, wie sie aufhören würden ihn zu schmähen, und wie er aus Schande, Vorwurf und Verachtung in das Mitleid des Schweigens und den Frieden des Vergessens übergehen würde. Schließlich dachte er an sein Kind, an seine kleine Elin, seine süße, mutterlose Tochter, die keine harten Worte mehr gegen ihren Vater hören, sondern nur mit der Erinnerung an seinen frühen Tod aufwachsen würde. O segensreicher, barmherziger Tod, der den Haß unserer Feinde mildert und die Liebe derer, die uns lieben, vergrößert!

Es war ein bitterer Trost, den er in dem Gedanken fand, tot zu sein – in Schande gestorben und in einem fremden Lande, wo keine Muttertränen auf sein Antlitz fielen und kein Kind an seinem Sterbelager weinte, dieser tragische Trost der Sterbenden. Aber in diesem Augenblick hörte die Musik auf, das Glöckchen am Altar klingelte, und als er aufschaute und den Priester erblickte, der die Hostie emporhielt, da sagte er sich, daß nicht er gestorben sei, sondern nur seine Sünde und sein Elend, und daß er, wenn es sein Wille sei, sich aus dem Schatten des Todes zu einem neuen und besseren Leben erheben könne.

Noch bevor er sich dessen bewußt geworden, hatte sich sein Gedanke in ein Gebet verwandelt, und er flehte zu Gott, daß ihm gestattet werden möge, noch einmal von vorn zu beginnen und das Vergangene hinter sich zu lassen. Er bat, daß die verlorenen Tage seines Lebens als Same angesehen werden möchten, der nicht tot sei, obgleich er ihn in den Schmutz getreten hatte. Nur aus dem Herzen kamen die einzigen Lieder, die zum Herzen gingen, und aus seiner Schmach und seinem Leiden konnte in der Zukunft, die er sich selbst verdüstert hatte, die Stimme kommen, die zu anderen Seelen sprechen würde, die ebenso von Sünde befleckt waren wie die seine.

Aber wie konnte er es wagen zu anderen zu reden. Als armer Verschwender, der in fernem Lande sein Gut mit Prassen umgebracht hatte und der nun endlich in sich gegangen war, und dem niemand mehr etwas gab, wandte er seine Blicke heimwärts und schrie: »Vater, ich habe gesündiget im Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße!«

Der Gottesdienst ging zu Ende und die Leute standen auf, um zu gehen. Als Oskar sich ebenfalls erhob, sagte er sich, daß auch er zu jemand heimkehren wolle. Nur ein wenig Zeit, ein wenig Zeit, dann würde er nach Island zurückkehren.

Sein Vater würde allerdings nicht mehr da sein, ja, sein armer Vater war heimgegangen; aber seine Mutter würde er antreffen und an ihr alles wieder gut machen, was sie um seinetwillen gelitten hatte, und alle Tränen von ihren Augen abwischen. Sein Kind würde auch dort sein, und er würde sein Recht auf sie behaupten, wie es immer seine Absicht gewesen war, und obgleich seine Züge ihr vielleicht fremd sein würden, hoffte er doch auf die Stimme der Natur in ihrem Herzen, und sie würde zu ihm kommen und er würde ein Vater für sie sein und sie leiten und beschützen, und sie würde eine Tochter für ihn sein, ihn erheitern und pflegen, und ihre Liebe würde sein Trost für alle Schmerzen des Lebens sein. Nur noch ein wenig Zeit, ein wenig Zeit!

Als er aus der großen Kirche heraustrat, fühlte er sich in eine reinere Luft emporgehoben, wo er nicht mehr ein Flüchtling vor der Rache seiner Mitmenschen war, sondern eine begnadigte Seele, die zu seliger Auferstehung wiedergeboren ist; und als er in dem Zuge nach Calais saß, begann er zu überlegen, unter welch einem anderen Namen er in dem neuen Leben bekannt sein wollte, das er gerade begonnen hatte.

Es mußte ein Name sein, der seinen eigenen genügend verbarg, und der doch für sein Heimatland charakteristisch war. Nach längerem Nachdenken entschied er sich für Christian Christiansson, als einen Namen, der nicht nur diesen Bedingungen entsprach, sondern auch noch eine erhöht edle Bedeutung und Ideenverbindung besaß, die es ihm für immer verbieten würde, die Flagge seines Vorsatzes niederzuziehen.

Aber nachdem er beschlossen hatte, daß von nun an Christian Christiansson sein Name sein sollte, durchfuhr es ihn doch wie ein Blitz bei dem Gedanken, daß Oskar Stephenson nicht länger sein Name war. Stephen war seines Vaters Vorname gewesen, und sein armer Vater hatte erwartet, er würde ihn mit Ruhm und Ehren tragen. Oskar war der Name gewesen, unter dem seine Mutter ihn gekannt hatte, und er klang ihm jetzt im Tonfall ihrer Stimme wieder, zugleich mit den glücklichsten Erinnerungen an seine Kinderzeit. Er hörte ihn auch in Thoras Stimmklang, in der bebenden Glückseligkeit ihres Brautgemachs, in der zärtlichen Freude ihres Mutterglückes und in den flehenden Ausdrücken ihrer Verzweiflung. Es war fast, als ob er einen Teil von sich selbst begrübe, indem er diesen Namen begrub; aber Oskar Stephenson war tot, und dieser Name konnte nicht mehr sein Name sein.

In früher Morgenstunde gelangte er nach London, und bei dieser Rückkehr nach sechsmonatlicher Abwesenheit war ihm zumute wie einem, der tot gewesen war und von neuem auflebte. Als seine Fußtritte auf dem öden Straßenpflaster widerhallten, hob sich seine Stimmung, und er sah der Zukunft furchtlos entgegen. Obgleich er freundlos und beinahe mittellos heimkehrte, stand ein Bild vor seinen Augen von dem, was er eines Tages sein würde – Christian Christiansson, der reiche, angesehene, vielleicht geehrte und vielleicht auch beliebte Komponist. Es konnte monate-, jahrelang dauern, aber mit Gottes Hilfe würde es kommen! Nur ein wenig Zeit, ein wenig Zeit noch!«

Er hatte zuerst die Absicht gehabt, sich in einer Gegend nach Wohnung umzusehen, wo er ganz unbekannt war, aber bei seinen jetzt so gehobenen Gefühlen schien ihm dies unnötig zu sein und er beschloß, in seine alte Behausung in Shortstreet zurückzukehren. Als er an die Westminsterbrücke kam, blieb er einen Augenblick stehen, um auf die obdachlosen Unglücklichen herabzublicken, die dort noch auf den Quaibänken schliefen, und sich an die Nacht zu erinnern, wo er ihre Lage geteilt hatte, und an die andere Nacht, die bald kommen sollte, wenn er die ersten Früchte seines neuen Lebens in der Hand halten würde.

Er sah dies alles wie in einem Spiegel vor sich, der ihm die Zukunft offenbarte. Der Vorhang würde nach der Aufführung der neuen Oper fallen, und das überfüllte Opernhaus eine große Kundgebung veranstalten. Immer wieder würden die Sänger herausgerufen und laute Rufe nach dem Komponisten ertönen. Das Rufen würde zu einem betäubenden Getöse anschwellen, und das ganze Publikum, von der königlichen Loge bis zur höchsten Galerie würde nach dem unbekannten Manne rufen, der seine leidende Seele in eine alte Saga ausgeströmt und die dürren Knochen zu neuem Leben erweckt hatte. Aber der Unbekannte würde nicht erscheinen; er würde nicht anwesend sein. Wo würde er sein? Er würde sich hier unten aufhalten, hier, unter dem kühlen Nachthimmel würde er vor Freude und Dankbarkeit weinen und seine Taschen unter diesen obdachlosen Ausgestoßenen entleeren, zur Erinnerung an jene Nacht, wo er ebenfalls obdachlos und ausgestoßen war und sich gelobt hatte, nie wieder die Freundlosen und Gefallenen zu vergessen, oder hart gegen den Sünder und den Verschwender zu sein. Er sah alles so klar vor Augen, als ob es sich schon ereignet hätte. Es mußte geschehen! Nur ein wenig Zeit, ein wenig Zeit noch!

Als er die Shortstreet erreichte, war der Leichenwagen der Totenstadt gerade um die Ecke gebogen und rasselte durch den Torweg. Fast alle Jalousien von Nummer eins waren noch heruntergelassen, aber als er am Fuße der Türstufen zögerte, öffnete sich die Tür und eine junge Person mit Lockenwickeln kam mit Scheuerlappen und Eimer heraus. Sie starrte ihn an, als ob er ihr ganz fremd wäre, aber er erkannte sie sogleich.

»Kennen Sie mich nicht mehr, Jenny?« sagte er.

Beim Klange seiner Stimme nahm Jennys Gesicht einen Ausdruck von Bestürzung an, dem aber ein wiedererkennendes Lächeln folgte.

»Nein, nun sag' mal einer! Herr Steevison! Sind Sie's wirklich? Sie haben sich aber so verändert, daß ich Sie doch beinah nicht wiedererkannt hätte, und als ich Ihre Stimme hörte, wär ich doch wohl bald auf'n Rücken gefallen.«

»Kann ich hier wieder Wohnung bekommen, Jenny?«

»Gewiß können Sie das, Herr. Und gerade zur rechten Stunde kommen Sie noch dazu. Nächsten Mittwoch werden's acht Tage, daß wir den Kellner begraben haben, und seine Stube ist gerade gründlich reingemacht. Treten Sie näher, Herr Steevison.«

»Still Jenny! So lautet mein Name nicht mehr.«

»Tut er das nicht, wirklich?« fragte Jenny mit einem beunruhigten Gesicht, und darauf sagte sie, wie wenn ihr plötzlich ein Licht aufginge: »Na, ich selbst bin jetzt verheiratet und habe auch 'n andern Namen angenommen. Ich bin jetzt Frau Cobb und habe, seit die Herrin den Schlaganfall gehabt hat, das Haus übernommen, und mein Mann schläft noch unten im Keller.«

Sie waren inzwischen auf den Flur getreten, und Jenny rief, ihren Eimer aus der Hand setzend, über das Treppengeländer hinunter:

»Jim! Jim Cobb, du Faulpelz, komm 'rauf und begrüße einen alten Freund.«

»Stören Sie ihn jetzt nicht. Ein andermal. Ich bin müde.«

»So sehen Sie aus, Herr. Wirklich, das tun Sie. Ich fürchte, sie hat Sie schlecht behandelt. Das hab' ich mer immer gedacht. So sind die Weiber alle. Sie hätten besser daran getan, bei mir hier zu bleiben, Herr, ich bin damals immer gut zu Ihnen gewesen und hab' es Ihnen an nichts fehlen lassen. Treten Sie näher, Herr, ich werd' Ihnen das Frühstück besorgen. Der Kessel ist gerade am Kochen, und Sie sollen, ehe Sie nur Jack Robinson sagen können, eine Tasse Tee und etwas gebratenen Speck haben.«

Jenny ging eilig die Treppe hinunter, und Oskar trat in das Wohnzimmer des Büfettkellners und setzte sich auf das blanke Ledersofa. Er dachte daran, wie er hier einstmals gesessen, dachte an die, welche neben ihm gesessen hatte; er dachte an alles, was seitdem geschehen war, und für einen kurzen Moment ließen ihn alle seine Zukunftsbilder in Stich; seine Hoffnungen und Pläne sanken in nichts zusammen; alles war ausgelöscht, mit Ausnahme der süßen und bitteren Erinnerung an die Frau, die er geliebt und verloren hatte, und er brach völlig zusammen.


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