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Zehntes Kapitel.

Magnus Stephenson hatte in der Tat Schiffbruch an seiner Religion gelitten. Fünfzehn Jahre lang hatte er aus voller Seele geglaubt, daß jedem in diesem Leben nach seinem Verdienst zugemessen würde; daß wenn man recht täte, man früher oder später dafür belohnt, und wenn man unrecht täte, man dafür bestraft würde. Seine Welterfahrung aber hatte nach und nach im Verlauf der Jahre und unter der Richtschnur des Gewissens die unerklärlichsten Widersprüche in seinem festen Glauben wachgerufen. Derjenige, der ein reines Leben führte, wurde nicht belohnt, und derjenige, der ein schlechtes Leben führte, wurde nicht bestraft. Was anderes blieb noch zu glauben übrig, als daß es überhaupt keinen Gott im Weltall gäbe, oder daß Er, wenn es Einen gäbe, keine Hand rühre!

Magnus Stephenson hatte zu tun versucht was recht war. Er hatte die von anderen abgeworfene Bürde auf sich geladen und sich starken Herzens weitergeplagt. Fünfzehn Jahre lang hatte er wie ein Sklave gearbeitet, und obgleich seine rückständigen Schulden sich beständig anhäuften, hatte er nie den Gedanken, daß es zu einem Ende führen müsse, in sich aufkommen lassen. Die Hypothek war riesenhaft, die Zinsen waren übermäßig, und die Bank würde zu der Einsicht gelangen, daß kein Mensch mehr aus dem Acker und dem Viehstand herauswirtschaften könne, als er es getan hatte!

Aber die Auspfändungsurkunde war ihm schließlich doch eingehändigt, die Anzeigen der öffentlichen Versteigerung bekannt gemacht und die beiden vorläufigen Auktionen abgehalten worden. Dann war dem Manne, wie mit einem Schlage, seine Religion ganz abhanden gekommen, und seine Seele hatte jenen erhabenen und doch auch wieder gotteslästerlichen Schrei, der seit dem Beginne der Welt die Klage und den Einspruch der Menschheit gegen das irdische Elend gen Himmel getragen hat, emporgeschickt: »Ich habe Deinen Gesetzen gehorcht; ich habe ein reines Leben geführt; ich habe den Armen beigestanden und den Unterdrückten geholfen; ich habe mein Brot mit der Waise geteilt und die Witwe beschützt – was aber hast Du für mich getan?«

In dem grausamen Schweigen, das jener entsetzlichen Frage folgt, geht mehr als eines Menschen Religion unter, und Magnus Stephensons Glaube an Recht und Unrecht, sein Glaube an Gerechtigkeit, an ein Gewissen und an Tugend waren allesamt, nichts als die wilden, krampfhaften Zuckungen seiner sinnlichen Natur zurücklassend, darin untergegangen.

Von dem Augenblicke an, wo der Kreisrichter erschien, um das Verzeichnis aufzunehmen, hatte er wenig anderes getan als in der Halle gesessen und getrunken. Den ganzen Tag lang saß er dort mit seinen groben Schneestrümpfen über den Stiefeln, sein mürrisches Gesicht dem Ofen zugekehrt, seine Hände tief in die Hosentaschen vergraben, seine breite Stirn unter den rauhen Stoppeln seines eisgrauen Haares von tiefen Furchen durchschnitten, sein starkes Kinn auf der Brust ruhend, und mit jeder Bewegung seiner mächtigen Glieder den Stuhl unter sich erkrachen machend.

Von Zeit zu Zeit versuchte seine Mutter ihm Mut einzusprechen.

»Sei nicht zu verzagt, Magnus,« sagte Anna. »Du weißt ja, die Sterne kommen, wenn es dunkel ist.«

»Ist es noch nicht dunkel genug?« sagte Magnus bitter auflachend und weitertrinkend.

Auch Elin kam hin und wieder zu ihm. Sie war jetzt ein hochgewachsenes Mädchen, fast sechzehn Jahre alt, mit einem Anflug von Weiblichkeit auf dem Antlitz und in der Gestalt; wie sie aber in ihrem kurzen blauen Rock und ihren Schnallenschuhen an Magnus herantrat und sich auf sein Knie niederließ, versuchte sie in kindlich mütterlicher Art und Weise, den einen Arm um ihn schlingend und die andere Hand auf seine glühende Stirne pressend, ihn zu besänftigen.

Er aber wies sie mit einem kurzen »Schon gut, schon gut! Das ist genug. Geh zu deiner Großmutter. Ich bin müde«, von sich.

Früh am Tage hatte ihn der Gedanke an die Reisenden sehr gequält, die möglicherweise aus weiter Entfernung kommen und, um der Versteigerung am frühen Morgen beizuwohnen, bei ihm übernachten würden, und im Geiste hatte er die Pachtausspannung von ihnen bevölkert und sich selbst von kochender Wut und dem Verlangen erfüllt gesehen, sie alle mitsamt ihrer nichtssagenden Unterhaltung und ihrem herzlosen Gelächter auf die Straße zu werfen. Der Ausbruch des Sturmes hatte seine Befürchtung in dieser Hinsicht beschwichtigt, und während der Wind und der Schnee um das Haus herum ächzten und stöhnten, saß er die langen Stunden hindurch unbehelligt in düsterem und tragischem Frieden da.

Außer dem Kreisrichter war der Pastor der einzige andere Mensch, der das Haus besuchte, und er kam erst gegen 10 Uhr abends, um den Kreisrichter, der bei ihm übernachten sollte, abzuholen. Um diese Zeit war alles, was von dem aufgebrochenen Haushalt noch übrig war, in die Halle gebracht, wo Magnus, während der Kreisrichter mit Anna und Elin beim Anrichtetisch stand und das Verzeichnis beendete, noch vor dem Ofen saß.

»Brr! Welch eine Nacht!« sagte der Pastor, den Schnee von seinen Strümpfen stampfend. »Während einer solchen Nacht werden Sie sicher nicht durch Reisende aus dem Bette geholt werden – das ist ein Trost, nicht wahr?«

Er war ein geschwätziger alter Mann mit einem schalen Herzen und schalen Kopf, der auf seine Besoldung von tausend Kronen jährlich hin die Kost seines eintönigen Lebens mit Zufriedenheit kaute.

»Dies also wird nun die letzte Nacht für Sie im alten Heim sein, Anna! Wie bedauerlich! Nun,« auf seine Schnupftabakdose klopfend, »nackt kam ich aus meiner Mutter Schoß und nackt kehre ich dorthin zurück! Gesegnet sei der Name des Herrn!«

Magnus rückte ungeduldig mit seinem Stuhl und stieß ein verächtliches Räuspern aus.

»Fünfundvierzig Jahre lang habe ich dies alte Haus in seinen freudigen und kummervollen Tagen gekannt, Anna. Von der Stunde an, wo Ihr verstorbener Vater – ich geleitete ihn selbst zu Grabe, Gott gebe seiner Seele Frieden! –«

»Gott gebe seiner Seele Frieden!« sagte Anna.

»Von der Stunde an, wo er Sie als Braut Ihrem Manne zuführte. Und eine schüchterne, errötende, liebliche, kleine Braut waren Sie obendrein!«

Wieder scharrte Magnus mit seinem Stuhle und räusperte sich.

»Ich erinnere mich alles dessen so wohl, da es dasselbe Jahr war, in dem Ihres Vaters große Scheune abbrannte und sein Vetter Jorgen tot in der Kluft gefunden wurde. Welch ein Aufsehen das machte! Was für Untersuchungen! Was für Zeugenverhör! Ihr Vorgänger, Kreisrichter, hatte etwas zu tun in den Tagen.«

Der Kreisrichter murmelte eine allgemeine Bemerkung und Magnus gab dem qualmenden Holz im Ofen einen Fußtritt.

»Ihr Vater kam sogar in Verdacht, Sie erinnern sich wohl, und weil er getrunken hatte und in dem Zustand immer ein so unbändiger Mensch war –«

»O, um des Himmels willen, schweigen Sie davon,« rief Magnus.

»Magnus Stephenson,« widersprach der Pastor, »wenn wir in Not sind, sollen wir uns wie Gottes vernünftige Geschöpfe betragen –«

»Vernünftige Hölle!« knurrte Magnus, worauf der Kreisrichter zur Verhütung weiteren Streites sein Buch mit einem Knall zuklappte und sagte, daß er fertig und zum Gehen bereit sei.

Magnus saß ruhig dabei, während der Kreisrichter – ein Mann mit scharfen Zügen und mit den Augen eines Wiesels – seine Schneeschuhe und seinen Rock anzog, und dann wandte er sich mit bebender Stimme und einem düsteren Feuer in den Augen um und sagte:

»Ist alles zu Ende, Herr?«

»Ja, es war ein gutes Stück Arbeit, aber es ist jetzt endlich zu Ende,« sagte der Kreisrichter.

»Ich meine,« sagte Magnus, »ob die Versteigerung unumgänglich ist?«

»Unumgänglich! Es ist nie, soviel ich weiß, ein Zweifel darüber gewesen.«

»Sehen Sie, Herr,« sagte Magnus, sich auf seine Füße erhebend: »Ein Kreisrichter kann, wenn er seinen Einfluß brauchen will, viel tun. Geben Sie mir noch eine Gelegenheit und Sie sollen alles was ich schulde, zurückbekommen. Ich habe nacheinander fünf schlechte Jahre gehabt – kein Wunder, wenn ich im Rückstand bin. Im vorigen Frühling verlor ich vierzig Lämmer in einer einzigen Nacht und am nächsten Morgen zwei junge Kühe und ein Kalb. Dazu kamen die Überschwemmungen im Herbst, die mein halbes Heu in den See schwemmten. Solches Wetter kann aber nicht ewig dauern. Wir müssen doch sicher nun bald eine Reihe von guten Jahren bekommen. Geben Sie mir noch weitere vier Jahre, Herr – und Sie sollen sehen, was ich leisten kann.«

»Da hilft nun kein Bitten mehr,« sagte der Kreisrichter.

»Sagen Sie das nicht, Herr. Hören Sie mich an! Meine Familie hat hundertfünfzig Jahre lang dieses Gut bewirtschaftet, und man verliert es doch nicht gern. Mein eignes Fleisch und Blut, meine Muskelkraft und der Schweiß meines Angesichtes sind in den Boden eingegraben. Geben Sie mir noch drei Jahre, Herr – gerade nur drei.«

»Unmöglich!« sagte der Kreisrichter.

»Kreisrichter, kommen Sie her,« sagte Magnus, den Mann am Arme beiseite ziehend, und mit leiser Stimme, so daß die Frauen es nicht hören sollten, sprechend. »Meinerselbst willen ist es mir einerlei – ich würde irgendwie durchkommen, und wenn nicht, dann ist es auch gleichgültig, aber da ist das Kind. Sie sollte das Pachtgut erben. Sie ist eine Waise und wird auf diese Weise nichts bekommen. Geben Sie mir um des Kindes willen noch eine Gelegenheit, Kreisrichter. Seien Sie nicht hart gegen mich. Verkaufen Sie die Hälfte meines Viehstandes, um einen Teil der Zinsen zu bezahlen und geben Sie mir noch zwei Jahre – nur zwei.«

»Sie wissen recht gut, daß die Hypothek sowohl auf das bewegliche als auf das unbewegliche Eigentum geschrieben ist,« sagte der Kreisrichter. »Wie kann ich das Inventar angreifen? Was das Mädchen betrifft, so ist es jung und stark; laßt sie einen Dienst annehmen.«

Magnus biß sich, um ruhig zu bleiben, auf die Lippen und sagte dann: »Sie haben ganz recht, Herr; das Mädchen und ich, wir können beide für uns selbst sorgen, aber da ist meine alte Mutter. Sie ist in diesem Hause geboren und dachte hier zu sterben. Es würde mir nicht so nahe gehen, wenn sie nicht mehr am Leben wäre, und um die Wahrheit zu gestehen, sie ist jetzt schon recht kümmerlich, Herr. Geben Sie mir ein Jahr noch, Kreisrichter – ein einziges Jahr.«

»Es nützt gar nichts, Worte zu verschwenden,« sagte der Kreisrichter. »Die Sache ist zu weit vorgeschritten. Das Einzige was ich jetzt tun kann, ist –«

»Was, Herr?«

»Daß ich, wenn Sie mir vor neun Uhr morgen früh die ganzen Zinsen einhändigen, die Versteigerung auf meine eigne Verantwortung hin nichtig machen kann.«

»Achttausend Kronen!« rief Magnus mit erhobener und höhnischer Stimme; »Sie verlangen von mir, daß ich vor neun Uhr morgen früh achttausend Kronen schaffen soll? Sie können gerade sowohl von mir verlangen, daß ich den Mond herunterhole.«

»Dann wollen wir also kein Wort mehr darüber verlieren. Die Bank ist sehr geduldig, sehr nachsichtig gewesen –«

»Die Bank!« rief Magnus im wilden Trotz seiner Verzweiflung. »Hat die Bank eine Mutter? Hat die Bank ein Kind? Nein! Die Bank ist ein großes zermalmendes Ungetüm, das kein Mitleid für irgend jemand in sich trägt. Gott mag die Bank mit all ihren Krämer- und Bedientenseelen verfluchen!«

»Magnus Stephenson,« sagte der Pastor, seine fette kleine Hand erhebend, »ich muß Sie bitten, sich zu erinnern, daß ein Geistlicher in Ihrer Gesellschaft ist, und wenn Sie Gottes Namen mißbrauchen –«

»Gottes Namen mißbrauchen! Sie tun das oft genug – Sie tun das jeden Sonntag.«

»Ich will nicht vorgeben, daß ich Sie mißverstehe, Magnus Stephenson, denn ich weiß, Sie sind jetzt von argen Zweifeln geplagt, und seit Sie aufgehört haben, die Kirche zu besuchen –«

»Die Kirche! Ihr betet zu Gott in euren Kirchen, und was tut Er für euch? Was tut Er für irgend jemand? Was hat Er für mich getan?«

»Wenn Ihr Leben rechtschaffen und rein gewesen wäre, würde Gott über Sie gewacht haben.«

»Und ist es das nicht gewesen? Habe ich nicht versucht zu tun, was recht war? Und doch läßt Gott es zu, daß ich ausverkauft und auf die Straße gesetzt werde und daß meine Liebsten auf dem Misthaufen sterben müssen!«

»Gott züchtigt die Seinen, und wenn wir nur an Ihn glauben –«

»An Ihn glauben? Wo ist Er? Ist Er in den Nordlanden? Ich habe nie davon gehört? Ist Er in den Südlanden? Ich habe Ihn hier nie gesehen, wenn ich auch den Teufel oft genug gesehen habe. Er ist in den Wolken, wenn Er überhaupt irgendwo ist, und das nützt mir nichts.«

»Magnus Stephenson –«

»Wenn Gott auf Erden ist, laß Ihn 'was tun. Hier hätte Er eine Gelegenheit. Sie nennen die Armen Sein Volk, nicht wahr? Nun, ich habe Sein Volk fünfzehn Jahre lang gespeist und beherbergt und nun bedarf ich selbst des Speisens und der Herberge. Ich brauche achttausend Kronen vor morgen früh neun Uhr, und wenn Gott etwas in der Welt tun kann, laß Ihn mir das Geld beschaffen und meine Mutter und mein Kind vor dem Hungertode erretten. Aber Er kann es nicht. Er kann gar nichts!«

»Magnus Stephenson,« sagte der kleine Geistliche, abermals seine fette kleine Hand erhebend, »wenn Sie einmal vor den großen, weißen Thron treten werden, wird der Herr Ihnen etwas zu vergeben haben.«

»Pastor Peter, wenn ich vor den großen, weißen Thron treten werde, wird es an mir sein, wie es scheint, Gott etwas zu vergeben.«

»Gotteslästerung! Gotteslästerung!« rief der Pastor, und Magnus sandte ihm, als derselbe dem Kreisrichter aus dem Hause folgte, ein gellendes Lachen der Verachtung in die dunkle Nacht hinaus nach. Im selben Augenblick fingen zwei Schäferhunde, die mit der Schnauze auf ihren Pfoten an der Tür gelegen hatten, zu knurren und zu bellen an, als ob sie darauf brannten, sich in den Aufruhr zu mischen, worauf Magnus, der sonst stets eine große Vorliebe für Tiere gehabt hatte, wütend mit dem Fuß nach ihnen stieß und auf seinen Platz beim Ofen zurückschwankte.

Als die Fremden fort und die kleine Familie allein war, ging Elin, die am Anrichtetisch gestanden hatte, zu Magnus hinüber und sagte, auf ihren Sitz auf seinem Knie schlüpfend:

»Du mußt nicht an mich denken, Onkel Magnus. Wo du hingehst, gehe ich auch hin, und was gut genug für dich ist, ist gut genug für Elin. Und wer weiß, was vorfallen kann, ehe der Kreisrichter morgen früh wiederkommt? Heute ist Silvesterabend, weißt du. Alle guten Dinge kommen in der Neujahrsnacht – alle Wunder geschehen in der Neujahrsnacht, Onkel.«

Aber die süße Freudigkeit ihres mädchenhaften Gemütes, die so manche Jahre hindurch der Sonnenschein seines Lebens gewesen war, verfehlte schließlich ebenfalls ihre Wirkung, und sie mit einer höhnischen Bemerkung beiseite schiebend stand er auf und ging zur Hintertüre hinaus.

Dann entnahm Anna, die stillschweigend am Tische gesessen hatte, dem Eckschrank die Bibel und vier Gesangbücher und läutete die Glocke zur Andacht.

»Mich wundert, wie ich dazu kam?« sagte sie, »ich hatte ganz vergessen, daß Eric fort ist. Ich hoffe, er fand irgendwo Unterkunft, der arme Junge – es würde mir um einen Hund leid tun, der in einer solchen Nacht draußen sein müßte.«

Und dann las Elin an Magnus' Statt das ihr von Anna angegebene Kapitel. Es war der Psalm: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« Und als das kurze Kapitel beendigt war, standen beide Frauen auf und sangen einen Choral – Elin in dem silbernen Sopran der Jugend und Anna in den rauhen Tönen des Alters, sie beide allein in dem einsamen Hause zwischen den einsamen Bergen, das nur Schnee und Finsternis – und die unermeßlichen Flügel Gottes überschatteten.

»Wohl dem, des mitleidsvolles Herz
Der Armut hilft hienieden,
Mag ihn umstürmen Leid und Schmerz,
Gott schenkt ihm seinen Frieden.«

Anna setzte sich, als der Choral beendet war, nieder; Elin aber blieb am Tische stehen und sprach, ihre Augen schließend und ihr unschuldiges Gesicht nach oben gerichtet, ein kleines Gebet für sich selbst.

»O, Vater,« sagte sie, »segne Onkel Magnus, daß er kein Übel zu fürchten hat. Zeige mir, wie ich ihm behilflich sein und Sorge und Last abwenden kann. Lieber Jesus, schicke das Wunder, das Onkel Magnus und Großmama und mich erretten könnte. Dir wäre es etwas so Geringes, uns aber wäre es etwas so Großes, und wir würden alle so glücklich sein und immerdar im Hause des Herrn wohnen. Um Christi willen. Amen.«

Dann öffnete sie ihre vertrauensvollen Augen und sagte: »Ich glaube ganz gewiß, Er wird uns helfen, Großmama,« und darauf küßte sie Anna und sagte heiterer Stimme gute Nacht und ging zu Bett.

Nachdem die Andacht vorüber war, kehrte Magnus in die Halle zurück und begann, für die Nacht das Feuer aus dem Ofen zu scharren. Seine Stirne war bewölkter als zuvor, und um die Wolken zu verscheuchen, erzählte ihm Anna von Elin.

»Sie wird ihrer Mutter immer ähnlicher, und manchmal denke ich, es ist nur ein Traum, daß unsere liebe Thora tot ist. Wenn du sie um das Wunder hättest beten hören, würde dein Herz übergelaufen sein. Sie ist mit dem festen Vertrauen zu Bett gegangen, daß das Wunder vor dem Morgen sich erfüllen wird.«

»Es müßte schon ein Wunder sein, das uns jetzt noch retten könnte, Mutter,« sagte Magnus. »Und Wunder geschehen nicht – außer solchen, die wir uns selbst bereiten.«

»Was meinst du damit, Magnus?« sagte Anna, die Kerzen anzündend.

»Ich meine, daß, wenn ich mein Leben noch einmal wieder zu durchleben hätte, ich nicht versuchen würde, das Rechte zu tun, Mutter.«

»Du würdest doch kein Unrecht tun, wie?«

»Es gibt kein Recht und Unrecht, Mutter; es gibt nur ein Bestes, und wenn ich mein Leben von vorne wieder anfangen sollte, würde ich tun was das Beste ist – das Beste für mich und meine Umgebung.«

»Du weißt nicht, was du sagst, Magnus. Es gibt Augenblicke, wo zu stehlen, selbst zu töten, uns als das beste erscheinen mag –«

»Und warum nicht?« sagte Magnus – er verriegelte die Türe. »Wenn heute abend ein Mann mit achttausend Kronen in der Tasche in dies Haus käme, glaubst du, ich würde mich besinnen, sie ihm zu nehmen?«

»Mein Sohn, das meinst du nicht.«

»Doch!«

»Du bist der Verzweiflung nahe, Magnus, und eines Verzweifelnden Worte verhallen im Wind. Wenn ich dächte, du meintest es, würde es mich töten – würde es mich diese Minute töten.«

Sie weinte, und einen Augenblick herrschte Schweigen, dann sagte Magnus:

»Schon gut, Mutter. Es macht nichts, ob ich es meinte oder nicht, die Versuchung wird höchstwahrscheinlich nicht an mich herantreten. Gib mir das Licht, und laß uns zu Bett gehen.«

»Du hast eine schreckliche Bürde zu tragen gehabt, Magnus, und wenn ich sie dir nur hätte tragen helfen können –«

»Das hast du ja, Mutter. Wenn du und Elin nicht gewesen wäret, würde ich schon vor zehn Jahren zugrunde gegangen sein.«

»Dein Vater wußte, daß er dich deines Erbteiles beraubt hatte, und vielleicht hat das Bewußtsein dazu beigetragen ihm den Tod zu geben.«

»Es war nicht nur Vaters Schuld. Er versuchte auch zu tun, was recht war. Aber der arme Schelm, der hinter dem verlorenen Sohn herschreiten muß, hält eine dürre Nachlese, weißt du.«

Mit ihren Kerzen in der Hand wandten sie sich zum Gehen – Anna nach der Badstofa oben und Magnus nach dem Fremdenzimmer neben der Halle – als die Hunde, die wieder aufgesprungen waren und unter die Tür durch schnüffelten, zu knurren und bellen anfingen.

»Da kommt jemand,« sagte Magnus.

Einen Augenblick später klopfte es heftig, wie mit dem Metallende einer Reitpeitsche ans Fenster, und eine bebende, erregte Stimme draußen rief die übliche isländische Begrüßung: »Gott sei mit Euch!«

Sie sahen einander, während derselbe Hintergedanke beider Hirn durchkreuzte, in sprachlosem Erstaunen an, und darauf schritt Magnus, die gewohnte Erwiderung zu geben vergessend, an die Türe und öffnete sie.

Ein dumpfes Geräusch schwerer Fußtritte wurde auf den äußeren Stufen laut, und im nächsten Augenblick stand ein Mann auf der Schwelle. Er schien ein alter Mann, denn seine Augenbrauen, Bart und Schnurrbart und soviel man unter der Kapuze seines Überziehers von seinem Haar sehen konnte, waren schneeweiß. Einen Augenblick stand er, wie von der Reiseanstrengung nach Atem ringend, bewegungslos da, während seine Augen von Magnus zur Mutter, und von der Mutter zu Magnus wanderten. Dann sagte er in derselben bebenden Stimme wie vorher:

»Kann ich hier die Nacht ein Bett und Unterkunft für mein Pferd haben?«

Es schien Anna, daß er sie anredete, aber anstatt gleich zu antworten, sah sie mit hilflosen, von unaussprechlicher Angst erfüllten Augen zu Magnus hinüber. Magnus erwiderte seiner Mutter Blick und hielt wie zögernd einen Augenblick die Türe mit seiner Hand auf. Dann sagte er:

»Treten Sie ein, Herr,« und der Fremde betrat das Haus.


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