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Viertes Kapitel.

Als Oskar den Brief seiner Mutter erhielt, wohnte er in einem verrufenen Stadtteil von Westminster. Die Gasse hieß Shortstreet und war ein typisches Beispiel der elenden Straßen, die fast immer und in allen Ländern in der Nachbarschaft einer großen Kathedrale liegen, wie Seegras am Fuße eines Felsens.

Shortstreet war eine Sackgasse, die an einem Ende eine Destillation und am anderen einen Torweg zum Eisenbahndepot eines Vorstadtfriedhofes hatte. Bis spät in die Nacht hinein wurden die Bewohner wachgehalten durch das Zanken der Betrunkenen, die man aus der Destillation herauswarf, und frühmorgens weckte sie schon wieder das Rumpeln des Leichenwagens, der mit den Särgen über das Pflaster rasselte.

Jeden Sonnabend gegen Mitternacht konnte man in Shortstreet die gleiche abscheuliche Szene erleben, daß ein Familienvater total betrunken nach Hause kam und wie ein Wahnsinniger umhertobte. Gewöhnlich fing es damit an, daß eine kreischende Frauenstimme so laut, daß die Gasse es hören konnte, schrie. »Wo ist dein Wochenlohn? Was hast du damit gemacht? In welcher Tasche soll er sein? In der Westentasche? Drei Schilling und sechs Pence! Soll ich damit vielleicht das Haus und drei Kinder erhalten? Du hast dein Geld wieder vertrunken! Du Biest! Du Lump! Du Trunkenbold!«

Das nächste Stadium der Szene bestand gewöhnlich darin, daß der Gatte – nachdem er selbst sechs Tage lang der Packesel irgendeines despotischen Leuteschinders gewesen war, – in trunkene Wut geriet und jedermann aus dem Hause trieb; und das letzte Stadium war stets eine kreischende Frau mit zerzaustem Haar und drei oder vier verschlafene Kinder in zerrissenen Hemdchen, die die Straße mit ihrem Geschrei erfüllten, bis endlich ein verspäteter Polizist dazwischen fuhr und Frieden stiftete.

Oskars Wohnung in Shortstreet war Nummer eins, ein schmutziges Haus, an dem ein befleckter Mietzettel über der Tür »Wohnungen für einzelne Herren« verkündete. Außer ihm waren noch vier Mieter vorhanden, drei Träger vom Beerdigungsdepot und ein Kellner aus der Destillation. Der Kellner wohnte im untersten Stockwerk und brachte abends nach Schluß des Geschäfts gewöhnlich ein paar lärmende Gefährten mit, um Karten zu spielen und Bier zu trinken.

Oskars Schlafzimmer war eigentlich nur eine stickige Kammer, jämmerlich ausgestattet mit abgenutzten Möbeln – einem schäbigen Teppich, einer eisernen Bettstelle ohne Kopf und Fuß, einem gestrichenen Waschständer, zerbrochnem Wassereimer, zwei oder drei gebrechlichen Stühlen, einem Tisch, der am sichersten stand, wenn er an die Wand gelehnt wurde, ein paar Bildern von Rennpferden auf den schmutzigen Überresten der Tapete und ein von der Feuchtigkeit fleckig gewordener Spiegel, der aussah wie eine vom Auftauen fleckig und rissig gewordene Eisfläche.

Seine Wirtin wohnte im Kellergeschoß und man sah sie nur Montags früh, wenn sie die Miete ihrer Hausbewohner zwei oder drei Stunden vorher einkassierte, ehe ihr die eigene abgeholt wurde. Das einzige Wesen, das Oskar beständig sah, war Jenny, das Dienstmädchen der Wirtin, ein echtes Londoner Stadtkind niedrigster Klasse, unordentlich und unsauber, aber so lustig wie ein Londoner Straßenspatz und mit einem trefflichen, liebevollen Herzen in der kleinen vulgären Brust.

Jenny hatte eine gewisse Zuneigung für Oskar gefaßt, die auf keinen persönlicheren Gründen beruhte, als daß er nicht die Treppen hinunter nach ihr schrie, oder sich Freiheiten herausnahm, oder häßliche Worte brauchte, und daß er immer den Hut lüftete, wenn er sie auf der Straße traf. Dieses Benehmen war so himmelweit von dem der anderen Mieter verschieden, daß es zwischen ihm und den übrigen eine weite Kluft öffnete und ihn in Jennys Augen mit einem romantischen Schimmer umgab. Er war vielleicht der Sohn eines vornehmen Mannes, und sein Vater, der Graf, hatte ihn verstoßen, weil er eine reiche Erbin nicht heiraten wollte, die er nicht lieben konnte – sie hatte von solchen Dingen in ihrem »London Leader« gelesen.

Die einzige praktische Wirkung, die die sentimentalen Anwandlungen Jennys hervorbrachten, bestand darin, daß sie immer ihr sauberes »Kattunkleid« anzog, wenn Oskar zufällig zur Teestunde zu Hause war, und an einem solchen Nachmittag geschah es auch, daß sie an die Tür seiner armseligen Dachstube klopfte und hereinrief, »ein Brief für Sie, Herr.«

Es war solange her, seit Oskar überhaupt einen Brief erhalten hatte, daß er mit einem förmlichen Angstgefühl aufsprang, und als er das Kuvert aus Jennys Hand nahm und Magnus' Handschrift auf der Adresse erkannte, und sah, daß es ihm aus der früheren Wohnung nachgeschickt war, da wurde er blaß und zitterte.

»Schlechte Nachricht, Herr?« sagte Jenny. »Würd's für kein Geld raufgebracht haben, wenn ich's gewußt hätte.«

»Nein, nein! Lassen Sie mich allein, Jenny,« sagte Oskar, und als das Mädchen gegangen war, und er den Brief mit bebenden Fingern geöffnet hatte, da las er ihn mit tränenüberströmten Augen, und seine Wangen brannten vor Scham.

Als er bis zum Schluß gelangt war, schlug ihm das Herz zum Zerspringen, und er fragte sich, ob es nicht ehrlich und männlich wäre, wenn er sofort schriebe und sagte, daß die ganze Geschichte von seinem Wohlstand eine elende Erfindung sei, daß er noch keinen Augenblick anders als jammervoll unglücklich gewesen sei, daß er mit niedrigen Gefährten in erbärmlicher Weise lebte und Arbeit verrichtete, an die er nicht denken möchte, und daß es keine Worte gäbe für die geheime Seelenqual so tief gesunken zu sein. Aber mochte die Demütigung dieser bitteren Stunde auch noch so tief sein, so wurde sie doch noch bei weitem übertroffen, als Jenny am nächsten Morgen kam und seine Schulkiste heraufschleppte, wobei sie so fröhlich plauderte, als ob sie ihm ein Vermögen ins Haus brächte.

»Der Eisenbahnmann sagt, sie wär auch rein wie Blei so schwer, darum habe ich ihm zwei Pence gegeben, 's ist dem Herrn doch recht?«

»Ganz recht, Jenny. Hier ist das Geld. Sie können jetzt gehen.«

»Kann ich Ihnen nicht beim Auspacken behilflich sein, Herr? 'ne Kiste, die ich nicht auspacken könnt', gibt's überhaupt nicht. Herrje! Muß die aber von weit herkommen!«

»Sie kommt von Island, Jenny.«

»Denk sich einer an! Pat Looney, der Kohlenträger, kommt auch von da, und die Leute sagen all', 's wär jammerschade, daß er nicht wieder hinging, wo er hergekommen wär'. Das sagen sie aber von Ihnen nie, »'n höflicher Mann« sagen sie.«

Oskar ließ das Mädchen die Kiste öffnen und den ganzen Inhalt herausnehmen, und sie zwitscherte bei dieser Beschäftigung wie ein lustiger Straßensperling vor sich hin, während er in sich versunken dabeisaß und der Nebel seiner Kindheitserinnerungen aus glücklicher Vergangenheit vor ihm aufstieg.

»Ne, so was!« rief sie, auf ihren Hacken vor der Kiste niederhuckend. »Ne! Bologner und andere Wurst! Und Pökelzunge und Schinken! Na, Sie werden ja auf Monate nichts nicht zu kaufen nötig haben! Das kommt aber gelegen! Gerade, wenn Ihnen das Geld knapp wird, noch dazu! Ist das ein Geschenk?«

»Ja, es ist ein Geschenk, Jenny.«

»Na, die, die Ihnen so ein Geschenk schicken, müssen 'n großes Stück auf Sie halten!« sagte Jenny und fügte nach einem kurzen Augenblick mit aufgeregter Stimme hinzu: »Ist es 'ne Dame, Herr?«

»Es ist meine Mutter, Jenny,« sagte Oskar.

»Ihre Mutter!« sagte Jenny mit erleichtertem Ton. »Das kann man wahrhaftig 'ne Mutter nennen – so gut zu einem zu sein.«

»Sie ist mein ganzes Lebenlang gut zu mir gewesen, Jenny, und ich habe sie mein ganzes Lebenlang schlecht behandelt.«

Jenny blickte ihn eigentümlich an, als ob sie von etwas überrascht und schmerzlich berührt sei.

»Haben Sie das wirklich getan, Herr?«

»Ja, schändlicherweise, Jenny; und doch hat sie mir immer wieder verziehen.«

Jenny war einen Augenblick still, dann sagte sie, »ja, so sind die Mütter nun einmal, nicht wahr? Da ist zum Beispiel Jim Cobb, der den Einspänner fährt, der geht grausam mit seiner Mutter um, und dabei bekommt er nie 'n einziges Scheltwort von ihr zu hören, nie! Mütter sind 'ne gute Sorte.«

»Ist Ihre Mutter gut zu Ihnen, Jenny?«

»Zu mir? Ich bin 'n Waisenkind,« sagte Jenny und fügte, ihre Stimme zum vertraulichen Flüsterton herabsenkend hinzu: »Ihnen kann ich's ja sagen, daß ich's bin. All den andern Mietern erzähle ich aber immer, daß meine Mutter eine von den Mädchen war, die man immer ganz mit Seide und Diamanten bedeckt im Aquariam sehen kann.«

»Und war sie das?«

Ein trauriger Blick flog über Jennys Gesicht. »Ich wüßt' nicht, wie sie das hätt' sein können, da sie mir im Waisenhaus immer vorerzählten, daß ich, als meiner Mutter Stunde da war, in Holloway geboren bin.«

Mittlerweile war der Inhalt der Kiste auf dem Tische und den Stühlen ausgebreitet, und Jenny setzte sich wieder auf ihre Hacken zurück, um ihn anzustaunen.

»Da! Sie sind ebenso hübsch wie in einem Fleischladen aufgebaut und dafür hat Ihre Mutter sie gewiß auch bestimmt. Jim Cobb quält mich immer, ich soll einen mit ihm eröffnen, aber ich bedanke mich. Nicht, daß ich 'was gegen einen Fleischladen einzuwenden hätt', und wenn irgend jemand anderes daran dächte einen zu eröffnen –«

Jennys Andeutung wurde durch das Rollen eines Wagens unterbrochen, der plötzlich vor dem Hause still hielt.

»Nun wett' ich mit Ihnen, daß ich's weiß, wer das ist,« sagte sie mit verschmitztem Augenplinken. »Das ist der ewige Jim Cobb schon wieder. Immer will er mich mit seinem Einspänner ins Grüne fahren.« Aber an das Fenster tretend, rief sie, »Himmel! 's ist 'ne offne Droschke und 'ne Dame ist beim Aussteigen.«

»Eine Dame?«

»Sie können Sie jetzt nicht sehen, sie ist schon auf dem Tritt. Da ist sie,« rief Jenny, als ein Rat-tat mit dem Türklopfer erscholl, »und dabei hab' ich noch nicht 'mal Zeit gehabt, mein Haar überzukämmen.«

Mit einem unbestimmten Gefühl von Furcht und Hoffnung, für das doch eigentlich kein Grund vorhanden war, stand Oskar auf dem Treppenflur und lauschte, während Jenny die Stufen hinunterlief. Als die Haustür aufging, hörte er seinen Namen von einer Stimme nennen, die ihm das Blut in den Kopf trieb und ihn schwindlig machte. Einen Augenblick später kam Jenny mit einem Gesicht zurück, das trotz seiner Unsauberkeit kreideweiß erschien, und sie sagte mit derselben schwankenden Stimme wie vorher:

»Ob ich's nicht gedacht hätt'! Sie sind's, nach dem sie fragt. Ich hab' sie in des Kellners Wohnstube geführt, der wird vor Teezeit nicht zurück sein.«

Oskar ging langsam die Treppe hinunter, aber als er unten angekommen war, stockte ihm beinahe der Atem und das Herz schlug wie mit Hammerschlägen gegen seine Brust. Die Wohnstubentür war nur angelehnt, und ein wohlbekanntes Parfüm drang zu ihm heraus. Im selben Moment hatte er die Tür aufgerissen und sie, die er erwartet hatte zu sehen, stand vor ihm, mehr als je vor Schönheit strahlend, mit etwas Weichem, Weißem um den Hals und das Antlitz von lieblichem Lächeln erhellt.

Was er in diesem Augenblick durchlebte, vermöchte niemand zu sagen. Hunderte von Empfindungen zogen wie Flammenblitze durch seine Seele – Freude, Entzücken, Schmerz, Scham, die Wonne, sie zu sehen, die Demütigung, an solch einem gemeinen Orte gefunden zu werden, die Erniedrigung, so schlecht gekleidet und offenkundig arm zu erscheinen, aber vor allem andern Liebe – die unbeherrschbare Liebe, die die Menschen zu Glück und Sieg führt, oder zu Verderben und Tod. Seine Züge klärten sich auf, Tränen stürzten ihm aus den Augen, und beide Hände ausstreckend, rief er:

»Helga! Mein Gott! Helga!«


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