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Sechster Teil.

 

»Jeder Augenblick ist in der Vergänglichkeit Verlust,
Jeden Augenblick drum freuet Euch in Lebenslust –
Die Sterne bleichen und die Lebenskarawane
Steigt nieder zu dem Nichts – drum eilet, eilet!«

 

Erstes Kapitel.

Der auf seiner Dezemberfahrt von Kopenhagen nach Leith, und von Leith nach Island begriffene Postdampfer, die »Laura«, trug nur zwei Salonreisende.

Der eine derselben, eine behäbige, ältliche, in den wärmsten, isländischen Vadmal gekleidete, umfangreiche Persönlichkeit, war ein mit hundert Tonnen britischer Erzeugnisse von Edinburg heimkehrender, isländischer Kaufmann, Jon Oddsson, früher radikaler politischer Vorkämpfer und jetziges konservatives Handelsoberhaupt.

Der andere Reisende war ein schlanker, hagerer, anscheinend fünfzigjähriger Mann mit großen, leuchtenden aber müden Augen, schmalen, blassen, von tiefen Denkerfalten durchzogenen Wangen und einem spitzen, schon etwas grau untermischten Bart. Dies war Christian Christiansson, zehn Jahre älter als wie er von der Riviera nach London zurückkehrte und durch die wunderbaren Merkmale, die Arbeit und Sorge mit der eisernen Hand der Zeit auf eines Menschen Antlitz graben, so gänzlich verändert, daß nur wenige oder niemand ihn wiedererkannt haben würde.

Christian Christiansson hatte inzwischen seine Pläne und Erwartungen verwirklicht. Wie ein an Bord eines Schiffes Gestorbener und in das unendliche Grab der See Versenkter hatte er, in der Tiefe Londons begraben, lange das Leben eines Toten gelebt, bis endlich seine Stunde gekommen war. Seit fünf Jahren zählte er zu den beliebtesten lebenden Komponisten. Seine auf die Sagas seines Heimatlandes beruhenden Opern hatten Island weit und breit bekannt gemacht; seine Werke waren in allen Hauptstädten aufgeführt, seine Melodien auf jeder Straße gespielt worden, und es schien fast, als ob er ganz Europa mit seinem Atem berührt und die Luft mit Musik erfüllt hätte.

Indessen war er seinem sich selbst gegebenen Gelübde getreu geblieben. Sein Name war ein Alltagswort, stets aber nur ein Name geblieben, und seine Identität nie enthüllt worden. Keine Versuchung hatte ihn bewegen können sie zu offenbaren, und die wenigen, denen sein Geheimnis bekannt war, fanden es zu ihrem eignen Vorteil dasselbe zu bewahren. Und nun kehrte er reich und berühmt in seine Heimat zurück – reich wie der Mann, der Erz aus dem Felsen hauen will und eine Lawine von Gold auf sich niederstürzen findet, berühmt, aber nur wie die »heimlichen Erdmännchen«, die guten Geister, die Nahrung und Getränk an der Türe der Armen lassen und dann, ehe dieselben beim Morgengrauen erwachen, sich wieder davonstehlen.

Wie verändert die alte Welt doch war, nachdem er endlich aus der Finsternis ans offene Tageslicht trat! Das Telegramm, in dem er sich von London aus eine besondere Kajüte bestellte, hatte den alten Kapitän Zimsen, der ihm in früheren Tagen, als er allgemeiner Liebling war, die beste, und nachdem er in Ungnade gefallen, die schlechteste Kajüte gegeben hatte. Den Augenblick, als er das im Landungshafen in Leith liegende Schiff nur betrat, hatte der vor Liebenswürdigkeit fast vergehende Seebär – Hut in der Hand – dagestanden, um ihn in seine eigne Kajüte zu führen.

»Erweisen Sie mir die Ehre, meine Staatskajüte zu benutzen, mein Herr, und wenn es irgend etwas gibt – irgend eine kleine Bequemlichkeit – die Sie haben möchten –«

»Sie sind sehr gütig, sehr zuvorkommend.«

»Nicht des Erwähnens wert, mein Herr. Es ist ein Vergnügen, ein Vorzug, für den berühmtesten Isländer unserer Zeit alles was in meiner Macht steht, tun zu dürfen. Weiß man, daß Sie kommen, Herr Christiansson?«

»Noch nicht, Kapitän.«

»Wie schade! Welch einen Empfang man Ihnen bereitet haben würde! Aber man wird es, man wird es!«

Wenn die Welt verändert war, so war der Mann es ebenfalls. Die Schwungkraft der Jugend war dahin, und über die alte, bezaubernde Fröhlichkeit des Wesens und des Ausdruckes hatte sich ein trauriger Ernst gebreitet, wie wenn der Schnee auf einen noch in Blüte stehenden Fliederbaum fällt und ihn zu Boden drückt. Nach zwei Tagen der Seefahrt jedoch stiegen seine Lebensgeister, und er kam sich wie ein freigelassener Sklave, wie ein befreiter Gefangener vor.

Es waren fünfzehn Jahre, seit er seine Heimat verlassen hatte, endlich aber kehrte er, wie er es stets gehofft und im Sinne gehabt hatte, zu ihr zurück. In Schimpf und Schande hatte er sie verlassen, in Ehren kehrte er zu ihr zurück; in Armut hatte er sie verlassen, in Reichtum kehrte er zu ihr zurück. Als verlorener Sohn kehrte er zu ihr zurück und doch wieder nicht als solcher; denn nicht in Schande und mit leeren Händen, sondern um alles wieder gut zu machen und um die Tränen aller zu trocknen, kehrte er zurück.

Würde es unrecht sein sich zu erkennen zu geben? Wenn die Leute in Island, scharfsichtiger als dieser alte Kapitän, in Christian Christiansson Oskar Stephenson, den Totgeglaubten, erkennen sollten, würde er sein sich selbst gemachtes Gelübde brechen, wenn er ihnen nicht widersprach? Fünfzehn lange, in der Dunkelheit verlebte Jahre, hatten sie der Buße und der Vergebung nicht Genüge getan? Sollten die Tore seines Kerkers sich selbst jetzt noch nicht öffnen? War er nicht zu dem Glauben berechtigt, daß das Grab, in dem er gelebt, ihn von seinem Körper befreit habe? Er hatte gelebt und war gestorben – durfte er nicht auferstehen?


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