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Sechstes Kapitel.

Der Gouverneur bekam nie zu erfahren, daß Oskar ihm sein Wort gebrochen hatte.

Als die nächste Session in Althing herangekommen war, wurde ein Gesetz über die Reform der Verfassung, das die Aufhebung des Gouverneurpostens und die Einsetzung eines Ministers verlangte, mit großer Majorität angenommen. Aber ein Gesetz, das einen Verfassungswechsel betraf, mußte von zwei Parlamenten genehmigt sein, und es wurde daher eine Auflösung des Althing notwendig. Der Zeitpunkt dieser Auflösung mußte vom Gouverneur bestimmt werden, und er hätte sie hinausschieben können bis das Reformfieber vorübergegangen wäre. Anstatt dies zu tun, beschloß er, das Parlament sofort aufzulösen, womit er die Erregung steigerte und sein Schicksal beschleunigte.

Mancherlei Dinge treffen den Mann, dessen Zeit um ist, und das Maß der Irrtümer des Gouverneurs war noch nicht voll. Als die Kandidaten für die Wahl aufgestellt werden mußten, fand man, daß der Wahlkreis, den Oskar vertreten hatte – die Hauptstadt – wieder einmal keinen Vertreter hatte, und zum allgemeinen Erstaunen beschloß der Gouverneur, um sich eine Stimme in der Volksversammlung zu sichern, selbst als Kandidat aufzutreten.

Dieser ungewöhnliche Schritt von seiten des Gouverneurs brachte große Aufregung hervor, aber das Fieber steigerte sich noch um das Zehnfache, als bekannt wurde, daß der Faktor beabsichtige, sich als Gegenkandidat aufstellen zu lassen. Nie waren die Gefühle der Bevölkerung so lebhaft erregt gewesen, wie an dem Abend, als der Gouverneur und der Faktor sich auf derselben Rednertribüne gegenübertreten sollten. Die besseren Leute blieben fort, denn sie waren traurig und beschämt, daß zwei Männer, die fünfzig Jahre lang Freunde gewesen waren, einander wie ein paar Adler ins Gesicht hacken würden, aber die niedrigere Gesellschaft schwelgte schon in der Aussicht auf dieses Schauspiel, und der Handwerker-Verein war überfüllt.

»Man lernt alles mögliche, wenn die Dienstboten im Hause sich zanken,« sagten sie untereinander, und sie sollten sich nicht umsonst gefreut haben.

Der Kreisrichter hatte den Vorsitz, und man merkte von Anfang an, daß seine lebenslange Nebenbuhlerschaft mit dem Gouverneur ihn nicht dahin bestimmte, den einen oder den anderen Kandidaten davor zu bewahren, sich lächerlich zu machen. Unglück ist ein rascher Wahlmann, und der Gouverneur arbeitete dem Kreisrichter ahnungslos und ungesäumt in die Hände.

Der sonst so schweigsame und würdige Mann hatte jede Zurückhaltung und Selbstbeherrschung verloren, und als die Reihe des Redens an ihn kam, machte er Anspielungen nach allen Seiten hin. Wenn man einen Menschen haßt, scheint einem auch alles, was er tut, hassenswert, und so sagte der Gouverneur, als er auf die geschäftliche Tätigkeit des Faktors zu sprechen kam:

»Selbstsucht ist nie zu befriedigen, meine Freunde. Wollt Ihr die Sorge für den Staatssäckel einem Manne anvertrauen, der, um alles zu erhaschen, alles verliert und sich in Bankrott und Armut stürzt?«

Dieser Hieb wurde mit ironischen Beifallsrufen und Gegenrufen begrüßt, wobei es nicht an spöttischem Gelächter fehlte, und als der Faktor an die Reihe kam, sagte er, seine totblassen Züge zu einem krampfhaften Lächeln verziehend –

»Ein stumpfes Messer sollte die Gelenke aufsuchen und nicht auf den festen Knochen loshacken. Aber wenn hier Rätsel an der Tagesordnung sind, dann kann ich ja auch eins aufgeben: Wollt Ihr die Sorge für den Staatssäckel einem Manne anvertrauen, dessen Sohn aus dem Lande verbannt wurde, weil er ein Fälscher und ein Dieb war?«

Diese Beschuldigung gegen Oskar, die zwar oft herumgeflüstert, aber nie zuvor öffentlich bestätigt war, fiel wie ein Blitzschlag in die gespannte Menge, und bevor sich die Zuhörerschaft noch von ihrem Erstaunen erholt hatte, stand der Gouverneur schon wieder aufrecht da und sagte, jedem Gesetz und jeder Ordnung zum Trotz mit lauter Stimme:

»Und wollt Ihr die Sorge für Eure öffentliche Moral einem Manne anvertrauen, der sich in seiner Jugend mit einem liederlichen Frauenzimmer einließ, und seine Maitresse erst heiratete, als seine erste Tochter als Bastard geboren war?«

Dies war der Höhepunkt der Sensation. Die tabakkauende und spuckende Menge befiel eine Totenstille, man hörte nur ihr lautes Atmen, wie die zischende Brandung einer ebbenden Welle. Der Faktor war bleich und sprachlos, als ob die grausamen Worte des Gouverneurs jedes Empfindungsvermögen zugleich mit dem höhnischen Lachen aus seinem Gesicht gelöscht hätten, während der Gouverneur ihn mit blutunterlaufenen Augen und krampfhaft zitternden Lippen anstarrte.

So standen sich beide Männer, kaum durch einen meterlangen Raum voneinander getrennt, einen langen Augenblick gegenüber; dann sah man, wie ein großer Mensch sich durch die Menge hinter der Tribüne Bahn brach und mit großen Schritten vorwärts drängte. Es war Magnus, der auf seinen Vater zueilte, als ob er ihn mit Gewalt fortführen wollte.

Aber ehe der Gouverneur ihn noch gesehen oder sich seiner Anwesenheit bewußt sein konnte, hatte sich eine andere Hand – eine unsichtbare – ihm auf die Schulter gelegt. Mit einem Schlag, der wie ein vom Himmel kommender Streich wirkte, war es dem Gouverneur klar geworden, daß er durch die Erwiderung auf die Beleidigung des Faktors in seiner tollen Wut und blinden Leidenschaft Thoras Gedächtnis beschimpft hatte, und daß Thora im Grabe lag, und daß er sie mehr geliebt hatte als irgendeine menschliche Seele, die nicht sein eigenes Fleisch und Blut war.

Darauf drehte sich der dunstige Raum mit seinem grausigen Schweigen rund um ihn herum, und einen leisen, winselnden Ton wie ein vergifteter Hund ausstoßend, fiel er schwer zu Boden. Magnus hob ihn auf und trug ihn nach Hause – es hatte ihn ein Schlaganfall getroffen.

Es war nun nur ein Kandidat für die Hauptstadt aufgestellt worden, und der Faktor wurde einstimmig gewählt; und als die Wahlzettel aus dem Lande zurückkamen, fand es sich, daß die Reformpartei eine noch größere Majorität hatte.

Der Gouverneur erholte sich langsam, als aber die Zeit der nächsten Session für den Althing herangekommen war, ging er schon ein wenig umher, und als die Verfassungsfrage wieder aufs Tapet kam, humpelte er trotz aller Gegenvorstellungen, auf zwei Stöcke gestützt, nach dem Parlamentshaus hinunter und nahm in seinem kleinen Zimmer Platz, das den Sitzungssaal überschaute.

Die Debatte war kurz und wenig erregt; niemand blickte nach der Nische hinauf, wo der Gouverneur in seiner verblichenen Uniform, als schwankendes Schattenbild seiner alten Machtvollkommenheit, saß; aber viele grausame Witzworte wurden nach jener Richtung losgelassen. Der Gouverneur wurde immer aufgebrachter, und endlich erhob er sich, um mit schäumender Lippe gegen unverdiente Beleidigungen Einspruch zu erheben, wurde aber von dem Vorsitzenden, der sein Schützling und früherer Privatsekretär gewesen war, zum Schweigen verwiesen. Das Gesetz wurde mit Beifall angenommen; lauter Beifall und die üblichen neun Hurras nach dem »Gott erhalte den König!« erschollen, und dann wurde der gestürzte Mann nach Hause gebracht.

In der Nacht hatte er einen zweiten Schlaganfall und verließ sein Zimmer nicht mehr. Als die Sprache ihm wiederkehrte, beschäftigte er sich ausschließlich damit, Eingaben an den König zu diktieren, in denen er ihn bat, ein Gesetz nicht zu bestätigen, das man nur ersonnen habe, um seinen Diener abzusetzen.

Ein paar Wochen später kam Magnus und suchte seine Eltern zu überreden das Regierungsgebäude zu verlassen und auf dem Pachthofe Wohnung zu nehmen.

»Es nützt nichts sich gegen das Parlament aufzulehnen,« sagte er. »Der neue Minister wird sofort ernannt werden, und warum wollt ihr warten, bis er euch aus dem Hause weist? Kommt nach Thingvellir – ich bin kräftig und kann für uns alle arbeiten.«

Aber sein Vater fuhr ihn heftig an. »Wie kannst du es wagen mir einen solchen Vorschlag zu machen?« sagte er. »Und wie kannst du es wagen dich hier im Hause blicken zu lassen? Weißt du denn nicht, daß du an allem schuld bist? Hättest du nicht zuerst alle diese Geschichten angerührt, dann wäre das ganze Unheil nicht geschehen. Und wenn der neue Minister kommt, um mich hinauszutreiben, dann sage ihm nur, er möchte gleich meinen Sarg mitbringen – hörst du wohl, er möchte meinen Sarg mitbringen?«

Der Gedanke, daß Magnus wirklich den ganzen Jammer verursacht habe, setzte sich bei dem Gouverneur von Tag zu Tag mehr fest, so daß Oskar immer fleckenloser dastand und beinahe wie ein Märtyrer betrachtet wurde. Anna mußte ihm Oskars Brief noch einmal vorlesen, und als er ihn zum zweiten Male gelesen hatte, war er so von der Idee hingenommen, daß der englische Premierminister mit seinem Sohne befreundet sei, daß er sich im Bett aufrichten ließ, um eigenhändig einen Brief an Oskar zu schreiben, in dem er ihn aufforderte, seines Vaters Feinde zu stürzen.

 

»Du hast jetzt großen Einfluß, Oskar, und mußt deinen Vater vor den Machinationen dieser heimtückischen Schurken retten, von denen der Faktor der schlimmste und teuflischste ist.«

 

Dies war es, was er schreiben wollte, aber sein armes Gehirn war zurzeit schon ganz verwirrt, und der Bogen, den er auf der Bettdecke bekritzelte, enthielt nur unleserliche Zeichen, und Anna konnte ihn nicht an Oskar schicken.

Als es gewiß erschien, daß der Gouverneur seinem bittern Groll erliegen würde, und der Haß gegen den Faktor der einzige Gedanke in seiner Sterbestunde sein würde, steckten Anna und Tante Margret ihre Köpfe zusammen und dachten darüber nach, wie sie seine Gefühle mildern und sein Ende erleichtern könnten. Wie damals kamen sie wieder auf das Kind. »Ein kleines Kind soll ihr Führer sein,« sagten sie.

Sie brachten die kleine Elin in das Schlafzimmer des Gouverneurs und ließen sie auf der Erde spielen. Sie war ein süßes kleines Geschöpf geworden, mit einem Engelsgesichtchen, ein wahrer kleiner Sonnenstrahl, der durchs Zimmer tanzte und plauderte. Aber ihre Anwesenheit veranlaßte den kranken Mann nur, die Arme nach einem eisernen Schrank am Kopfende seines Bettes auszustrecken, dem er eine Papierrolle entnahm.

Niemand wußte, was für Papiere dies waren; aber sie waren alt und raschelten in seinen steifen Fingern. Er hatte sie stets unter seinem Kopfkissen, und wenn sein Bett gemacht wurde, versteckte er sie unter der Brustfalte seines Nachthemdes.

Wenn die Frauen von Elin und ihrem niedlichen Wesen sprachen, dann redete der Gouverneur von Oskar. So verwirrt sein Gedächtnis in bezug auf kürzliche Ereignisse war, so wunderbar klar zeigte es sich für fernliegende, und er wußte zahllose Kindergeschichtchen von Oskar. Es waren drollige darunter und er lachte darüber so gut er es mit seinem verzerrten Gesicht vermochte, aber alle sollten zeigen, daß Oskar nicht wie andere Kinder gewesen war, und am Schluß pflegte er immer zu sagen:

»Mein Sohn ist jetzt ein großer Mann, wie ich immer vorher gesagt habe, und wenn er meinen Brief bekommt, dann sollt Ihr schon sehen, was er tun wird.«

Inzwischen war die Gesetzvorlage nach Dänemark geschickt worden, und der Kreisrichter wurde nach Kopenhagen berufen.

Dies konnte nur eine einzige Bedeutung haben, und in Ermangelung einer telegraphischen Verbindung wartete die kleine Hauptstadt ungeduldig auf die Rückkehr des Dampfers, mit dem der Kreisrichter heimkehren sollte. Er war an einem Sonntagabend fällig und die Glöckner des Domes standen bereit, zu Ehren des neuen Ministers mit allen Glocken zu läuten.

Der Gouverneur hörte, daß die »Laura« erwartet wurde und er bildete sich ein, Oskar käme mit dem Schiff, um des Königs Veto zu überbringen und seines Vaters Feinde zu vertreiben. Er war sehr krank an diesem Tage und Doktor Olsen hatte gemeint, er würde die Nacht wohl kaum überleben. Aber er wollte niemand zur Pflege um sich haben, und Magnus, der auf Wunsch seiner Mutter gekommen war, durfte sich vor seinem Vater nicht blicken lassen, sondern saß auf den Stufen vor der Tür.

Tante Margret war den Tag über aus- und eingegangen und gegen Abend sah man auch den Faktor vor dem Hause auf und ab wandern; er blickte ab und zu zu den Fenstern des Gouverneurs empor, mit einem Gesicht, in dem wahnwitzige Liebe und Wut einen heftigen Kampf mit noch wahnwitzigerem Stolz und Furcht führten. Endlich ging Anna zu ihm hinaus und sagte:

»Oskar Neilsen, komm ins Haus, um deinen alten Freund zu sehen.«

»Nicht ehe er mich auffordert – nicht ehe er mich auffordert,« sagte der Faktor, worauf Anna wieder hineinging und dem sterbenden Manne zuflüsterte:

»Stephen, der Faktor ist draußen, er möchte nur aufgefordert werden, einzutreten.«

»Dann möge er auf den Knien hereinrutschen,« sagte der Gouverneur, und damit war alles zu Ende.

Der Dampfer kam diesen Abend nicht mehr und die Glöckner gingen zu Bett. Aber bei Tagesanbruch, als die Fischerboote im Hafen durch einen Nebelschleier brachen und das Sonnenlicht auf den Berggipfeln funkelte, fingen die Glocken fröhlich zu läuten an, denn die »Laura« fuhr mit vollem Flaggenschmuck in den Fjord ein.

Magnus hörte die Glocken und darauf eine scharrende Bewegung im Schlafzimmer seines Vaters. Kurz darauf ertönte das Hurrarufen der Menge auf den Straßen und ein ersticktes Echo desselben hinter der Schlafzimmertür.

»Hurra! hurra!« schrien die Leute draußen.

»Hur–ra! Hur–ra! Hur–ra!« klang die Stimme von drinnen zurück.

Im nächsten Augenblick bebte das Haus von einem dröhnenden Fall und Magnus stürzte in seines Vaters Schlafzimmer. Sein Vater lag im Nachthemd auf dem Boden. Er war tot, aber sein Gesicht hatte einen lächelnden Ausdruck und in den abgezehrten Händen hielt er die zerknitterten Papiere, auf denen Oskar als Knabe seine kindlichen Kompositionen niedergekritzelt hatte.

Am selben Tage noch schrieb Magnus an Oskar: »Ich teile dir hierdurch mit, daß unser Vater heute früh starb. Ich glaube, er hatte ein glückliches Ende.«

Aber die Post ging erst Ende der Woche ab, und Anna schrieb noch selbst unter Magnus' Botschaft: »Er liebte dich bis zuletzt, und wir haben ihn neben unsrer lieben Thora begraben.«


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