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Fünftes Kapitel.

Helga schien nicht weniger erregt zu sein als Oskar selbst. Sie war wirklich gerührt über die Freude, die er bei ihrem Wiedersehen zeigte, und als er ihre beiden Hände geküßt hatte, da küßte sie eine seiner Hände, und Tränen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte, traten auch in ihre Augen. Es stand ein Ledersofa im Zimmer und sie setzten sich nebeneinander. Oskar hielt noch immer eine ihrer Hände fest und verschlang seine zitternden Finger mit ihren behandschuhten, als ob er versuchen wollte, seine Handfläche der ihren immer näher und näher zu bringen.

»Ich bin nie im Leben so glücklich gewesen,« sagte er.

»Und ich bin auch sehr glücklich,« sagte sie. »Laß mich dich noch einmal anschauen, Oskar! Ein bischen blässer bist du geworden und vielleicht ein bischen dünner, aber sonst keine Spur verändert.«

»Du hast dich aber sehr verändert, Helga.«

»Ich bin älter geworden, nicht wahr?«

»Reizender und schöner als je.«

Sie neigte ihm hierauf ihr Antlitz zu und er küßte sie und ein paar Augenblicke lang vermochten sie ihre Zärtlichkeit nicht zu unterdrücken. Helga war die erste, die ihre Selbstbeherrschung zurückgewann.

»Und nun laß uns ernsthaft miteinander reden,« sagte sie, aber Oskar bebte noch vor Erregung, und nachdem er seine Tränen getrocknet hatte, lachte er krampfhaft auf.

»Wielange bist du schon in London?« fragte er.

»Einen Monat – morgen ist es gerade ein Monat.«

»Und nur zu denken, daß ich es bis jetzt nicht gewußt habe. Oh, warum schrien es mir die Pflastersteine nicht zu? Aber wie kam es, daß du von Kopenhagen fortgingst?«

»Das will ich dir ja gerade erzählen. Meinem Vater fiel es aus irgendeinem unbekannten Grunde ein, das Einkommen meiner Mutter auf die Hälfte herabzusetzen, und so mußte etwas geschehen. Da fiel mir Neils Finsen ein und die wunderbaren Dinge, die er von meiner Stimme zu sagen pflegte.«

»Finsen!« wiederholte Oskar mit ernsterem Tone.

»Ich schrieb ihm also, und er antwortete, wenn ich nach London kommen wollte, dann sollte ich Sachverständigen etwas vorsingen und sie würden sehen, was sich tun ließe.«

»Nun, und was weiter?«

»Ja, ich kam, und die Sachverständigen hörten mich und kamen überein, daß meine Stimme etwas ganz Ungewöhnliches sei! – Der vielversprechendste Sopran, den sie seit Jahren gehört.«

»Und nun?«

»Nun bin ich in der königlichen Akademie für Musik und über kurz oder lang gehe ich auf zwei oder drei Jahre, vielleicht auch vier, nach Paris, um bei der Marchese oder bei Bonby zu studieren und dramatischen Unterricht zu nehmen, und schließlich werde ich in Monte Carlo oder Nizza in »Faust« oder »Romeo« auftreten, als ersten Schritt dazu, London als Margarethe oder Julia im Sturm zu erobern – so ist es.«

»Und Finsen tut dies alles für dich?«

»Nun ja, sozusagen, es ist wohl so der Fall.«

»Wird er denn alle deine Ausgaben bezahlen?«

»Ich weiß wirklich nicht, wer sie bezahlen wird, aber ich habe einen Kontrakt unterschrieben, unter seiner Direktion aufzutreten und alles zurückzuerstatten, wenn ich glücklich vom Stapel gelaufen bin. Und wie steht es nun mit dir, Oskar?«

»Mit mir?«

»Es ist fast ein Jahr her, seit ich dich nicht gesehen habe. Was hast du unterdessen getan?«

Oskar stieß ein heiseres Lachen aus. »Oh, ich bin wie die Lilien auf dem Felde – ich arbeite nicht und ich spinne auch nicht.«

Aber seine erzwungene Heiterkeit brach jämmerlich zusammen, und er sagte mit größerem Ernst, »frage mich nicht, was ich getan habe, Helga.«

Helgas Blicke schweiften einen Augenblick durch das Zimmer, dann sagte sie, »ich weiß es wohl! Neils erzählte mir davon, und er bat mich, mit dir zu reden –«

Aber bevor sie endigen konnte, war Oskar aufgesprungen.

»Wenn du von Finsen kommst, dann kenne ich deinen Auftrag, und ich würde lieber sterben –«

»Nein, nein, nein,« sagte Helga und umklammerte seine Hand. »Setz dich hin. Das ist es nicht. Höre nur!«

Er setzte sich, und die Zärtlichkeit ihres Blicks verbannte alle seine Befürchtungen.

»Sie wollen sogenannte Promenadenkonzerte in Covent Garden veranstalten, und vor ein paar Tagen entstand eine Meinungsverschiedenheit mit dem Orchesterdirigenten. Ein Wechsel erscheint wünschenswert, und es handelt sich nun darum, wer der neue Dirigent sein soll. Natürlich dachte ich gleich an dich.«

»An mich?«

»Warum denn nicht? Habe ich denn nicht gesehen, was du mit den hundertundfünfzig Tölpeln in Thingvellir zustande gebracht hast?«

»Ja, aber Covent Garden!«

»Mein lieber Oskar, ich habe alle die Dirigenten gesehen, die sie dort haben, und wenn sie dir auch alle an Wissen und Erfahrung überlegen sind, so besitzt doch kein einziger von ihnen eine Spur von deiner magnetischen Kraft und deinem Genie. Ich sagte ihm daher: »Neils, wenn Sie den besten Dirigenten haben wollen, den London je gesehen hat, dann lassen Sie mich hingehen und ihn holen!«

»Aber du ahnst ja nicht, Helga – du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe, um mein Leben nur zu fristen.«

Helga sah sich von neuem im Zimmer um und sagte dann: »Kann ich etwa nicht sehen? Habe ich keine Augen im Kopf? Aber selbst wenn du mir sagst, daß dich niemand für die allergemeinste und von den allergewöhnlichsten Menschen verrichtete Arbeit gebrauchen konnte, bleibe ich doch bei dem, was ich zu Neils gesagt habe.«

Oskar war die Kehle wie zugeschnürt. Helgas Zutrauen zu ihm und ihr Eintreten für ihn überwanden seine Selbstbeherrschung. Nicht einen Augenblick kam ihm der Gedanke, daß irgendein egoistischer Grund dabei mitspielen könne.

»Was soll ich denn tun, Helga?« fragte er.

»Morgen um elf Uhr mit mir in Finsens Bureau kommen.«

»Aber ich habe mir gelobt, nie wieder einen Fuß dorthin zu setzen.«

»Damals wußtest du nicht, daß ich dich darum bitten würde. Und nun bitte ich dich, Oskar.«

Er dachte an das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte; er sah die Gefahr vor sich, die darin lag, eine Seite seines Lebens wieder aufzuschlagen, die ausgestrichen und für immer umgeblättert war; er dachte an Finsen und sein Interesse für Helga, und den Einfluß, den er durch ihre ehrgeizigen Hoffnungen auf sie ausüben würde; aber sein Wille war wie eine gebrochene Weidenrute. Das beherrschende Schicksal seines Lebens hatte seine Führung übernommen.

»Du wirst bestimmt da sein, nicht wahr?« flüsterte sie, und Oskar antwortete –

»Ja.«

Sie neigte ihm wieder ihr Antlitz zu, und er küßte sie von neuem, und dann stand sie auf um zu gehen.

»Wo wohnst du?« fragte er, und sie sagte es ihm. Es war eine elegante Pension in der Nähe von Green Park.

»Wohnt Finsen auch dort?«

»Jawohl, im selben Hause. Und du mußt auch dorthin ziehen. Ich muß dich immer sehen können. Es gibt tausend Dinge, die du für mich tun mußt. Aber jetzt muß ich fort.«

Er wollte sie nicht gehen lassen und sie erneuerten ihre Zärtlichkeiten. »Es wird mir wie ein Traum vorkommen, wenn du fort bist,« sagte er. »Ich werde es kaum glauben können, daß du hiergewesen bist und wiederkommen wirst.«

»Sage das nicht. Ich sagte dir in Island, wenn du nicht zu mir kämst, würde ich zu dir kommen, und du siehst, daß ich Wort gehalten habe.«

»Meine liebe, liebe Helga!«

»Es war nicht sehr hübsch von dir, so fortzugehen, ohne mir Gelegenheit zu geben, dich noch einmal zu sehen.«

»Ich weiß es, ich weiß es!«

»Du hattest eine gewisse Verpflichtung gegen mich, das weißt du wohl, nach dem was vorgefallen war –«

»Still, mein Lieb, still!«

»Aber ich will gern glauben, daß andere Leute schuld daran waren.«

»Wir wollen nicht davon sprechen, Helga,« sagte Oskar, und seine Arme, die sie fest umschlungen gehalten hatten, sanken hernieder.

Hiernach wurde es ihm leichter, sich von ihr zu trennen, aber ehe er die Tür öffnete, küßte er sie noch einmal, und als er ihr in die Droschke hineinhalf, zog er ihre Hand an die Lippen.

Er blieb barhäuptig auf dem Straßenpflaster stehen, ohne an seine Umgebung zu denken, bis die Droschke um die Ecke der Destillation gebogen war, und Helga ihm durch die Scheiben zugenickt hatte. Dann merkte er, daß der Anblick eines so reizenden, elegant gekleideten Mädchens, die eine Droschke auf sich warten ließ, in diesem Spelunkenviertel die Nachbarn vor die Tür gelockt hatte, und daß die Frauen ihre Schürzenbänder um die Finger wickelten und sich über die Straße hinweg angrinsten.

Als er in das Haus zurücktrat, schlich Jenny auf dem Flur mit verstohlener und schuldbewußter Miene an ihm vorbei, die deutlich verriet, daß ihre arme, gequälte kleine Seele nicht vermocht hatte, der Versuchung, ein wenig zu lauschen und zu beobachten, zu widerstehen.

Er ging einen Augenblick in das Wohnzimmer zurück, wo man den Duft von Helgas Anwesenheit trotz allem Bier- und Tabakgeruch noch verspürte. Noch nie hatte er den Kellner beneidet, aber in diesem Augenblick würde er alles, was er noch besaß, darum gegeben haben, wenn er das Zimmer für den übrigen Tag zur Verfügung gehabt hätte, um auf dem Sofa zu sitzen, wo Helga gesessen hatte, und die Hand auf den Tisch zu legen, wo ihre Hand geruht hatte, und den Teppich zu küssen, den ihre Füße betreten hatten.

Er ging wie im Traume umher, und als er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte, war er sich seiner unordentlichen Umgebung völlig unbewußt. Die schmutzige Tapete, der abgenutzte Teppich, und der fleckige Spiegel demütigten und kompromittierten ihn nicht mehr. Sein Körper befand sich noch in seiner elenden Dachkammer, aber seine Seele war weit davon entfernt. Sie schwebte in einer andern Welt – in einer Welt, die von Helgas Augen, wie von Sonne und Sternen erleuchtet wurde, denn er lebte immer von neuem die Zeit durch, die er mit ihr verbracht hatte, jedes Wort, jeden Ton, jeden Blick und jede Bewegung.

Dies dauerte den ganzen übrigen Tag, und als die Dunkelheit einbrach, schien ein Vorhang vor dem Leben, das er während der letzten zwölf Monate geführt hatte, niedergegangen zu sein. Der Schlamm und Kot seiner ordinären Genossenschaften, die Erniedrigung durch ungebildeten Verkehr, das Gefühl von Verlassenheit und Freundlosigkeit, die schmerzliche Erinnerung, obdachlos und hoffnungslos, hilflos und nutzlos zu sein – alles war verschwunden. Dieser Übergang seines Lebens war jetzt vorbei, und nie, nie, nie sollte die empfundene Schmach und Pein wieder zurückkehren. Er hatte hindurchgehen müssen, weil er gesündigt hatte, und Gott selbst hatte erkannt, daß er genug gelitten hatte.

Seine Augen waren feucht, als er sich auf sein unsauberes Kissen niederlegte, aber er schlief in glückseliger Stimmung ein, und der erste Traum führte ihn zu Helga zurück. Mitten in der Nacht wachte er einmal auf und hörte das gedämpfte Stimmengemurmel des Kellners und seiner Freunde beim Kartenspiel und Bier; dann erwachte er noch einmal in der Morgendämmerung und hörte, wie der Leichenwagen die Shortstreet hinauf rasselte und unter dem Torweg am oberen Ende hindurchrumpelte.

Um elf Uhr begab er sich am andern Morgen nach Covent Garden, und um dieselbe Stunde ging er auch an den folgenden Vormittagen dorthin. Am zehnten Morgen rief er Jenny, die zurückhaltend gegen ihn geworden war, und sein Frühstück auf einem Brett vor seine Tür hinsetzte, und sagte zu ihr:

»Jenny, bitte sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich nächste Woche die Wohnung aufgebe.«

Nun schwand der letzte Farbenschimmer aus Jennys blassem und nachdenklichem Gesicht, und mit brechender Stimme, aus der es fast wie Schluchzen klang, sagte sie:

»Das wußte ich wohl, daß es so kommen würde. Ich hatte nur gerade man einen Blick auf sie geworfen, da sagt' ich mir auch schon, daß die Sie mir wegnehmen würde und sie hat es getan.«


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