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Zweites Kapitel.

Während der zehn Jahre, die er als Toter verlebt hatte, waren alle Mitteilungsquellen ihm verschlossen gewesen, und außer einzelnen, zufällig aufgelesenen Neuigkeiten wußte er wenig oder nichts von dem, was in Island vorgegangen war. Und nun er sich zum erstenmal Menschen von Angesicht zu Angesicht gegenüber fand, die in ununterbrochener Berührung mit den Seinen gestanden hatten, fielen ihm hundert Fragen ein, die es ihn zu stellen drängte: »Ist meine Mutter noch am Leben? Ist sie wohl? Und meine kleine Tochter – hat Gott es gut mit mir gemeint und sie am Leben erhalten, oder ist alle meine Mühe umsonst gewesen?«

Er fürchtete sich jedoch, die Wahrheit zu plötzlich enthüllt zu hören und wartete und lauschte und horchte auf Antworten auf die Fragen, die er nicht zu stellen wagte. Unterdessen versuchte er aus der Neugierde des Kapitäns und seiner Reisegefährten, die sich augenscheinlich den Kopf zerbrachen, wer er sein möchte, wo er geboren wäre und von welcher Familie Christiansson er käme, einige Mitteilungen zu ziehen. Es war ein gefährlicher Zeitvertreib, ein unbesonnenes Vergnügen, die Namen seiner Familie nennen und sich selber erörtert zu hören; und manchmal konnte er vor tiefer Scham über die Ausflüchte, die seine Verhüllung ihm auferlegte, dem Drange mit der Wahrheit seiner Identität zutage zu kommen, kaum widerstehen, und zu anderen Zeiten war er genötigt von seinem Platz im Rauchzimmer aufzuspringen und zu fliehen.

»Sie sind kürzlich nicht daheim gewesen, Herr Christiansson?« fragte der Kapitän, der, während das Schiff auf offener See dahinschaukelte, seine lange Pfeife nach beendetem Mittagsmahl rauchte.

»Nicht ganz kürzlich, Kapitän.«

»Dann werden Sie vieles verändert finden,« sagte der Kaufmann.

»Ohne Zweifel, ohne Zweifel.«

»Die neue Verfassung hat Wunder in Island bewirkt.«

»So, hat sie das?«

»Das Tauschhandelgeschäft ist ganz eingegangen und die Barzahlung überall eingeführt, und dann hat sich durch den Fischfang ein neuer Geschäftszweig eröffnet.«

»So, ein neuer Geschäftszweig also?«

»Urteilen Sie selbst, mein Herr. Anstatt der alten offnen Boote haben wir sechzig Küstenfahrer, jeder mit zwanzig Mann Bemannung, die sechs Tage Entfernung hin und zurück auf die See hinausgehen.«

»Dann hatten die Leute, die zu sagen pflegten, daß der alte Geschäftsgang sich überlebt habe und der Reichtum Islands auf dem Meere zu suchen sei, schließlich doch recht?«

»Das hatten sie, mein Herr,« sagte der Kaufmann, die Brust aufblähend und seine Weste niederziehend. »Alle haben durch die Veränderung gewonnen, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn Sie Ihre Angehörigen in viel besseren Verhältnissen wiederfänden, als Sie sie verließen – das heißt, wenn sie noch am Leben sind.«

»Wenn sie noch am Leben sind,« sagte Christian Christiansson mit gesenkter Stimme und gesenkten Auges.

»Der alte Gouverneur versuchte der Veränderung entgegenzuwirken und verbrachte das Ende seiner Tage mit einem Schwert über seinem Haupte, armer Teufel.«

»Er war aber trotz alledem ein weiser, alter Mann, nicht wahr?« fragte Christian Christiansson – sich kaum zu sprechen getrauend.

»Weise?« sagte der Kaufmann mit verächtlichem Lippenkräuseln. »Kein Mensch ist weise, der nicht Rat annehmen will, und an Rat hat es ihm nicht gefehlt. Es waren aber seine eignen Söhne, die ihm den Rest gaben.«

Christian Christiansson blickte zusammenfahrend auf. »O ja, gewiß seine Söhne, er hatte deren zwei, soviel ich mich erinnere. Was ist aus ihnen geworden?«

»Der eine lebt noch in Thingvellir.«

»Lebt noch, wirklich?«

»Ja, wenn Sie es leben nennen – bis über die Ohren in Schulden.«

»In Schulden sagen Sie?«

»Ist es immer gewesen und wird es immer bleiben. Was den anderen betrifft – Olaf, Eric – wie hieß er doch gleich?«

»War es Oskar?« sagte Christian Christiansson mit stockender Stimme.

»Ja, Oskar war es – welch ein Gedächtnis Sie haben müssen, mein Herr! Oskar Stephenson! Er pflegte sich einzubilden, ein wenig auf Ihrem Gebiet zu leisten, er war aber heute hier und morgen dort und hat während seines ganzen Lebens nur das eine Vernünftige getan, demselben ein Ende zu machen. Sie werden gehört haben, was sich zutrug – die Zeitungen machten alles bekannt.«

»Starb im Ausland, nicht wahr?«

»Erschoß sich in einer Spielhölle, mein Herr.«

»Der junge Taugenichts!« sagte der Kapitän und nahm, um zu lachen, die Pfeife aus dem Mund. »Ich habe es ihm aber gegeben. Im Schiffsraum habe ich ihn auf seiner letzten Überfahrt von Island schlafen lassen.«

»Das geschah ihm recht, dem Schurken,« sagte der Kaufmann.

»Ein Schurke, war er das?«

»Er pflegte seine Frau braun und blau zu schlagen, Herr.«

»Seine Frau zu schlagen, sagen Sie?«

»Jedenfalls starb sie an seinen Mißhandlungen. Seinen Vater hat er ebenfalls getötet, und die Nacht, als er sich aus dem Staube machte, erbrach er des Gouverneurs Geldschrank und nahm alles mit sich.«

»Erbrach des Gouverneurs Geldschrank?«

»So war es – der alte Mann starb als Bettler.«

»Als Bettler?«

»Hinterließ wenigstens keinen Pfennig, also läuft es auf dasselbe hinaus. Jedes Stück im Hause mußte an den neuen Minister verkauft werden.«

»Aber ist dies wahr?«

»Wahr genug, mein Herr. Alles kam bei der allgemeinen Wahl zutage. Der Gouverneur und der alte Faktor waren feindliche Kandidaten und plauderten ihre gegenseitigen Familiengeheimnisse aus.«

»Und ist dies alles, was man sich in der Heimat über Oskar Stephenson erzählt?«

»Alles? Nicht der zehnte Teil.«

»Dann muß ja sein bloßer Name in Island schon verhaßt sein.«

»Verhaßt? Verflucht, Herr. Nicht, daß es irgend jemand um den alten Gouverneur leid getan hätte; er ist tot und dahin mitsamt dem veralteten System, das er aufrecht zu erhalten suchte, was aber seinen Sohn anbetrifft, so kann niemand schlecht genug von ihm sprechen.«

»So daß er, sollte er am Leben geblieben und zurückgekommen sein –«

»Mit Hunden aus dem Lande gehetzt worden wäre, Herr.«

»Ganz recht, ganz recht,« sagte Christian Christiansson und taumelte, sich mit einer auffälligen Bewegung erhebend, in seine Staatskajüte zurück.

Der Kaufmann sagte, ihm beunruhigt nachblickend:

»Wer zum Kuckuck kann er sein, möchte ich wissen!«

»Ich ebenfalls!« sagte der Kapitän, an seiner ausgegangenen Pfeife saugend.

Es war unmöglich! Die Schuld, die an dem Namen Oskar Stephensons haftete, machte es Christian Christiansson unmöglich, seine Identität je zu enthüllen. Er hatte geglaubt, der Staub des Todes möchte seine Sünden bedeckt haben, das Gerücht und die Nachrede jedoch hatten sie lebendig erhalten und vervielfältigt. Sogar das Bestreben der Seinen, seine wirklichen Fehltritte zu verheimlichen, hatte nur Lügen erzeugt und Verleumdung genährt.

Die Leute in Island durften nie erfahren, daß Christian Christiansson Oskar Stephenson sei. Wenn sie Verdacht schöpften, mußte er mit allen nur möglichen Mitteln seine Verstellung verstärken; wenn sie ihn fragen sollten, mußte er leugnen.

Was sonst hatte er erwartet? Welch heimlicher Stolz und welch heimliche Eitelkeit hatten unbewußt den Gedanken in ihm genährt, sich je unter seinem wahren Namen und seiner eignen Persönlichkeit zu erkennen zu geben? Seine Aufgabe in Island war eine Aufgabe der Reue und Buße – im Innersten seines Herzens hatte er sie als den Gipfelpunkt seiner Laufbahn, als die Krone und Blüte seines Erfolges, als die Stunde seines Triumphes angesehen, in der er die Freunde, die ihn geliebt, rechtfertigen und die Feinde, die ihn gehaßt hatten, in die Flucht schlagen und als erster mit fliegenden Fahnen das Feld gewinnen würde. Wenn dies der Fall gewesen, war seine Strafe gerecht. Oskar Stephenson war tot, und nichts und niemand konnte ihn wieder zum Leben erwecken.


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