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Sechstes Kapitel.

Als der Fremde gegangen war, blickten Mutter und Sohn sich gegenseitig ins Gesicht und sprachen dann im Flüsterton:

»Hörtest du, was er sagte?« sagte Anna.

»Du meinst, was er über seiner Mutter Dach sagte?« fragte Magnus.

»Über die Versteigerung – über alles. Der Mann kann kein Gefühl – kein Mitleid haben.«

»Gar keines.«

»›Geschäft ist Geschäft,‹ sagte er, als er davon sprach, das Gut uns über den Kopf weg zu kaufen. Und als er von seiner Mutter, die ihre Tage hier beenden sollte, sprach, gedachte er meiner mit keinem Gedanken.«

»Auch an Elin dachte er nicht. Er würde uns das Mädchen ohne irgendwelches Bedenken genommen haben.«

»Ja, das würde er,« sagte Anna. »›Hier ist genug in meiner Börse,‹ sagte er, ›die Zinsen zwanzigmal und darüber zu bezahlen.‹«

»Sagte er das?«

»Das sagte er. Und dabei nahm er sein Taschenbch aus seiner Brusttasche und –«

»Seiner Brusttasche, sagst du?«

»Ja, ›und ich will das Geld Ihrem Sohne geben,‹ sagte er, ›wenn er mir das Mädchen dafür überläßt.‹«

Anna fuhr in ihrer unschuldigen, hilflosen Weise zu sprechen fort, ohne zu ahnen, welch böse Saat sie säte, plötzlich jedoch, bei Erwähnung des Taschenbuches, kam eine geheimnisvolle Veränderung über Magnus' Gesicht, und böse Leidenschaften verunstalteten es.

»Er muß reich sein,« sagte Anna.

»Reicher als irgend jemand das Recht hat zu sein,« sagte Magnus.

»Sicherlich, es kann nicht Gottes Wille sein, daß ein Mensch so reich und ein anderer so arm sein sollte.«

»Gott!« sagte Magnus mit einem Zucken seines entstellten Gesichtes.

»Wenn er uns nur so viel leihen wollte, um den Kreisrichter morgen früh zu befriedigen!« sagte Anna.

»Was nützt es von einem Manne, der selbst das Gut kaufen will, zu erwarten, daß er uns Geld zur Erhaltung desselben leihen sollte?«

»Es ist hart, das ist wahr, grausam hart, von dem ersten besten Menschen, der mit genügend Geld daherkommt, aus Haus und Hof gejagt zu werden.«

»Das dachte ich gerade auch,« sagte Magnus.

Bis zu diesem Augenblick hatte Anna nur versucht, mit Magnus' Stimmung zu sympathisieren, jetzt aber erregte irgend etwas in seinem Tone ihren Argwohn, daß sie einen Teufel heraufbeschworen haben möchte, und sie blickte ihn erschrocken an.

Er nahm die Flasche vom Tische und trank aus derselben; und jeder Tropfen enthielt einen neuen Teufel. Seine Augen fingen an in fieberhaftem Glanz zu funkeln, und Anna erbebte. Sie erinnerte sich, daß Magnus bis heute seit Thoras Begräbnis keine berauschenden Getränke zu sich genommen hatte, und dann fiel ihr ihr eigner Vater ein, und es beschlich sie eine eisige Kälte.

»Laß uns nicht mehr darüber sprechen,« sagte sie und versuchte, die Flasche fortzustellen, Magnus aber wollte sie sich nicht nehmen lassen.

Mutter und Sohn sahen einander von neuem an, und dann ging Anna hinüber nach des Fremden Türe und horchte.

»Hat er sie verschlossen?« fragte Magnus.

»Nein, ich fürchte – Nein, nein, er hat es nicht.«

»Was macht er jetzt?«

»Das Licht ist aus – er muß schon im Bett sein.«

»Dann,« sagte Magnus, »muß er sich unausgekleidet niedergeworfen haben, und das Taschenbuch ist noch an ihm.«

»Magnus, woran denkst du?« sagte Anna unter Zähneklappern.

»Würde es so sehr unrecht sein?«

»Was?«

»So viel zu nehmen, um den Kreisrichter am Morgen zufrieden zu stellen?«

»Magnus! Das meinte ich nicht.«

»Er würde es nie vermissen – nie wissen, daß es fort sei – und uns würde es instand setzen, das Gut zu behalten und uns vorm Verhungern zu retten.«

»O Himmel! Was habe ich getan?«

»Er ist ebenfalls ein verlorener Sohn, wie es scheint. Gut also, dann soll der verlorene Sohn für den verlorenen Sohn zahlen.«

Anna stockte der Atem – sie konnte nur in sprachlosem Entsetzen Magnus anstarren. Er ergriff die Flasche wieder und goß den letzten Branntwein hinunter.

»Er hat scharf getrunken – und wird fest schlafen – und nicht erwachen, bis die Versteigerung zu Ende ist.«

»Laß uns zu Bette gehen,« sagte Anna.

»Geh allein!« knurrte er, denn die Furien, die das Hirn des Betrunkenen durchjagen, hatten sich seiner bemächtigt.

»Magnus,« sagte Anna, »wenn du nicht zu Bett gehen willst, werde ich die ganze Nacht mit dir aufbleiben.«

Dann zeigte der Teufel, der Magnus in ein schlaues, wildes Tier verwandelt hatte, ihm einen Ausweg.

»Gut denn, laß uns zu Bette gehen,« erwiderte er.

Er verriegelte die äußere Türe wieder und schürte den Ofen aus, während seine Mutter die Lampe verlöschte und die Lichter wieder anzündete. Sie glaubte, der böse Trieb, der ihn überfallen hatte, sei überwunden und sprach von anderen Dingen.

»Ich habe Erics Bett für dich hergerichtet, und du wirst alles gemütlich finden,« sagte sie. Als sie an Elins Türe vorüberging, öffnete sie sie leise und hielt ihren Kopf lauschend zur Seite. Der Klang von sanften und abgemessenen Atemzügen drang einen Augenblick zu ihnen heraus, bis die Tür wieder geschlossen wurde.

»Das arme Kind! Sie hat voll Glauben an ein vor morgen früh geschehendes Wunder ihr Haupt aufs Kissen gelegt. Solchen ist das Himmelreich!«

Sie schieden an der Tür der Badstofa, und einige Augenblicke darauf lag das kleine Haus schweigend und dunkel in den Armen der Hügel und an der Brust des Schnees da, die Schwingen des Todes aber überschatteten es.

Magnus ging nicht zu Bett. Er warf sich auf die Eiderdaundecke und kämpfte einen wilden Kampf mit Gott, durch Gottes Stellvertreter, das Gewissen. Die Vision des in des Fremden Brusttasche sich befindlichen Taschenbuches schwebte ihm unausgesetzt vor Augen und in seinem umnachteten Herzen sagte er sich, daß er unter allen Umständen genügend Geld sich daraus verschaffen müßte, um am Morgen die rückständigen Zinsen bezahlen zu können. Wenn er es nicht täte, würde der Mann das Gut kaufen, und Elin mit seiner Mutter heimatlos sein.

Dieser Gedanke erweckte in ihm Gewissensqualen. Des Mannes Geld nehmen, würde gleichbedeutend mit Stehlen sein, und Magnus hatte nie gestohlen; aber nachdem der Glaube schon einmal fort war, folgte ihm die Moralität, und Magnus blieb im Kampf mit seinem Gewissen der Sieger. Was er tun wollte, würde nichts anderes, als was die Menschen alle Tage taten, nur daß sie es Geschäft benannten und es taten, um die Rechtlichen zu betrügen, wohingegen er es tun würde, um den Betrogenen Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Magnus ließ im Geist seine Beweggründe an sich vorüberziehen, und sie rechtfertigten ihn. Hier war ein Mensch mit so viel Geld, daß er es morgen früh nicht einmal merken würde, wenn die Summe, die das Lebensglück seiner Lieben sichern würde, daran fehlte. Jener Mensch wollte sie in Armut und Elend stürzen. Sicherlich, es war nur gerecht, nur notwendig, es war seine Pflicht ihn daran zu verhindern. In dem tollen Durcheinander seines verwirrten Gehirnes sah er alle Ereignisse jenes Tages im unrechten Licht, und es wollte ihm scheinen, als ob das Schicksal selbst ihm den Mann in die Hände gespielt hätte. Er hätte ebensogut in der Pfarre einkehren können – aber er war zu ihm gekommen! Er hätte den Zweck seines Kommens verbergen können – er hatte ihn enthüllt! Er hätte nichts von dem Taschenbuch zu sagen brauchen – er hatte es mit kindlicher Unbefangenheit gezeigt! Sicherlich, dies war der Ausweg aus seiner Bedrängnis, den das Geschick ihm vorgezeichnet hatte, und ihn nicht einzuschlagen, würde, nachdem er seine Lieben der Not preisgegeben sah, nur die bittersten Vorwürfe in ihm erwecken. Nachdem er sich von der Notwendigkeit, soviel von des Fremden Geld zu nehmen, überzeugt hatte, begann er sich zu fragen, weshalb er nur so wenig nehmen sollte. Wenn das Taschenbuch in des Mannes Brusttasche genug enthielt, um die Zinsen zwanzigmal und mehr zu bezahlen, warum nicht genug nehmen, um das Gut ganz und gar kaufen zu können! Das würde ihn instand setzen, Elin das Erbteil zu hinterlassen, das er durch seines Bruders Verschwendung und Verbrechen verloren hatte. Dieser Mann stand im Begriff, es ihr zu nehmen – er durfte und sollte es nicht!

Schritt für Schritt riß er das Bollwerk des Gewissens nieder, bis er dahin gelangte, sich zu fragen, weshalb er nicht alles nehmen sollte. Seine Sinne waren zu dieser Zeit träge und abgestumpft, aber doch sagten sie ihm, was das bedeutete. Es bedeutete, den Fremdling ermorden. Zuerst erfüllte ihn der Gedanke, einem Menschen das Leben zu nehmen, mit unbeschreiblichem Entsetzen, nach kurzer Zeit jedoch ließ dasselbe nach. Dieser Mann allein stand zwischen seinen Lieben und einem Dach über ihrem Haupte. Weshalb sollte er es nicht tun? Dieser Mann trachtete, indem er sie dem Hungertode aussetzte, ihnen nach dem Leben – weshalb sollte er nicht seines statt deren nehmen?

Ein augenblicklicher Gewissensbiß wurde durch den Gedanken hervorgerufen, daß er jemand, der sich der Gastfreundschaft des Hauses anvertraut hatte, überfallen, einen verteidigungslosen Mann in seinem Schlaf ermorden wolle. Bei der Erinnerung an des Fremden herzloses Gelächter, an seine Gleichgültigkeit ihrer Lage gegenüber, und an das, was er von seiner Mutter erzählt, und wie er sie ihnen, von aller Bequemlichkeit umgeben, in ihrem Hause sitzend geschildert hatte, während seine eigne Mutter, die auf dem Gute geboren war, von demselben herunter müsse, wuchs sein Haß von neuem, und sein Herz kannte kein Mitleid.

Er fing an, sich zu fragen, wie er es anstellen könne. Es war leicht genug geschehen. Niemand außer ihnen hatte den Mann gesehen; kein Mensch würde je wissen, daß er in ihrem Hause gewesen war. Er könnte seiner Mutter und Elin vorerzählen, daß der Fremde am frühen Morgen fortgegangen sei. Sie würden ihm glauben, und selbst wenn sie es nicht täten, würden sie reinen Mund halten, denn sein Interesse würde ihr Interesse sein, und alles was er täte, würde ihretwegen getan werden.

Ein neues und entsetzliches Licht durchleuchtete sein finsteres Gemüt, und er sah sich im Geist alles vollbringen. Kein anderes Auge würde es sehen, kein anderes Ohr es hören. Es fror scharf die Nacht, und wenn die Leiche, nachdem das Eis zu schmelzen begann, im Ertränkungsteich gefunden werden sollte, würde es heißen, der Fremde sei während des Schneesturmes verirrt und über die Klippen gestürzt.

Einmal darüber beruhigt, daß er das Gericht dieser Welt hintergehen könne, begann der in den Netzen seiner Versuchung verstrickte Mann an das Gericht der nächsten zu denken. Die Furcht vor demselben dauerte aber nur kurze Minuten: Nichts war in der andern Welt von dem, was hier in dieser geschah, bekannt, und Gott bekümmerte sich wenig genug um die Angelegenheiten der Menschen.

Bei dem Gedanken an Gott begann es ihm vor den Ohren zu sausen, wie wenn das Wasser einem Ertrinkenden in die Ohren steigt. Es war sein Gewissen, das sich nach seinen letzten Zuckungen beschwichtigte, denn er redete sich selbst vor, daß, wenn es auch Mord und im Widerspruch zu Gottes Gesetz sei, Gott nichts für ihn getan hätte, und er deshalb nicht verpflichtet wäre, irgend etwas für Gott zu tun. Er war sein ganzes Leben lang ein guter Mensch gewesen, und doch hatte Gott ihn in Stich gelassen. Gott und die Welt ließen seine Mutter und Elin verderben, deshalb mußte er die Welt – und Gott bekämpfen!«

Während der letzten Zuckungen seiner menschlichen Natur erinnerte er sich, daß der Impuls zu töten sich seiner schon einmal bemächtigt, und daß er, wenn immer er später daran zurückgedacht hatte, die Qualen der Verdammnis gelitten hatte. Das aber war etwas anderes, es war in dem Wirbel einer empörten Leidenschaft gewesen, und wenn er seine Drohung ausgeführt hätte, würde es das größte Verbrechen, die unverzeihlichste Sünde, die Sünde gegen den heiligen Geist gewesen sein – ein Brudermord! Tausend Male hatte er Gott gedankt, daß Oskar nicht lange genug gelebt hatte, um nach Hause zurückzukehren, aber wie wunderbar die Fügungen des Schicksals waren – ein anderer Mann, ein anderer, herzloser, verlorener Sohn war zu ihm gekommen, und wenn er seine Lieben vor dem Hungertode und vor den Folgen von Oskars Verbrechen retten wollte, dann wußte er, was er zu tun hatte!

»Laß den Verlorenen für den Verlorenen bezahlen,« dachte er von neuem und sprang von seinem Bette auf.

Seine tierische, durch den schmeichlerischen Teufel des Trunkes aufgereizte Natur hatte den Sieg über sein Gewissen gewonnen, doch schlotterten ihm die Knie, als er auf den Zehen an seiner Mutter Zimmer vorüberschlich, und bei Elins Türe angelangt, wagte er kaum zu atmen. Ihre reinen Seelen schliefen unter den tröstenden Schwingen des Gebetes; und die Frage, was er am Morgen, wenn sie sich erkundigen würden, woher er das Geld hätte, antworten sollte, verwirrte und bedrückte sein Gemüt derartig, daß er keine Antwort auf dieselbe fand.

Dieser Gedanke mit der ihn begleitenden Vision, wie seine Mutter und Elin ihn forschenden und verdächtigen Auges ansehen – und wie sie, wenn alles vorüber und, wie er hoffte, glücklich überstanden wäre, stumm und ins Leere starrend beieinander sitzen würden – besiegte fast die tierische Natur in ihm und ließ seinen ganzen Körper in tränenlosem Schluchzen erbeben. Trotz alledem folgte diesem Blitzstrahl menschlicher Helle eine um so tiefere Herzensfinsternis, und nach wenigen Augenblicken fuhr er mit seinen Vorbereitungen fort.

Als er auf den Zehen in die Halle trat, erhoben sich die beiden Schäferhunde, die auf der Matte bei der Türe geschlafen hatten, gähnten und streckten sich, und um sie an irgendwelchem Lärm zu hindern, lockte er sie nach draußen und schloß sie in einen Schuppen ein. Darauf ging er nach dem etwas entfernteren Stall, sattelte und zäumte des Fremden Pferd und sandte es dann mit einem scharfen Peitschenhieb in die Dunkelheit hinaus, wo es wiehernd davonjagte. Ein eisiger Windhauch kam das Tal herab, als ob der Tag sich in seinem Morgenschlafe recke, und ein mattes, rosa und weißes Licht, das die westlichen Schneeberge mit seinem Schimmer streifte, schien den baldigen Sonnenaufgang zu verkünden. Magnus' trunkgetrübter Blick jedoch verschloß sich diesem Bild.

Seit des Fremden Ankunft war kein neuer Schnee gefallen, und Magnus schaufelte, teils um des Fremden Fußspuren zu verwischen, teils um seine eigenen, wenn er mit seiner schweren Bürde wieder herauskommen würde, zu verbergen, einen Pfad vom Torweg nach dem Fluß hinab. – – Dieser Mann aber war zu dieser Zeit schon auf und davon, und Magnus umkreiste, wie ein sein Opfer bedrohender Raubvogel, sein eigenes Haus.

Als er in die Halle zurückkehrte, regte sich nichts, außer der aus dem Ofen fallenden Asche und der in der Dunkelheit die langsamen Sekunden abtickenden Uhr. Er zog seine Stiefel aus und behielt nur die Schneestrümpfe an, und dann nahm er ein großes Kissen vom Lehnstuhl und trat damit an die Türe des Fremden und lauschte.

Das menschliche Herz jedoch birgt, solange es überhaupt schlägt, sowohl Himmel wie Hölle in sich, und das tränenlose Schluchzen durchbebte wieder Magnus' ganzen Körper, als er im letzten Moment das Entsetzliche seines Vorhabens noch einmal überdachte. Er redete sich indes von neuem vor, daß Gott keinen Finger für diese Welt rühre, und drückte mit den Worten: »Laß den Verlorenen für den Verlorenen bezahlen«, die Klinke nieder und betrat, die Türe hinter sich verriegelnd, leise das Fremdenzimmer.


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