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Sechstes Kapitel.

Der Morgen war bedeckt und trübe. Dunkle, weiche Wolken trieben über die Berge, ein kalter Wind wehte von Osten daher, und die Stimmen der nördlichen See heulten laut und schrill.

»Wir werden, ehe das Jahr zu Ende geht, Schnee bekommen, Herr!« sagte einer der am Fuße der Banktreppe versammelten, mit den Füßen stampfenden und mit den Armen schlagenden Fischer.

»So ist keine Zeit zu verlieren!« dachte Christian Christiansson. »Ich muß sofort Pferde bestellen und unverzüglich aufbrechen.«

Ehe er jedoch seine Reise nach Thingvellir antrat, gab es in Reykjavik noch etwas für ihn zu tun und zwar war es das wichtigste von allem – unter irgendeiner Entschuldigung oder einem Vorwand mußte er als ersten Schritt zur Wiedererlangung seines Kindes dasselbe sehen. Es war schon zehn Jahre auf dem Pachthof gewesen, er glaubte es jedoch noch beim Faktor und so lenkte er seine Schritte der Richtung dessen Hauses zu.

Vom Faktor selbst wußte er nicht mehr, als was er, ohne ein besonderes Interesse zu verraten, beim Frühstück in Erfahrung hatte bringen können – daß er noch am Leben sei und genug aus dem Zusammenbruch seines Vermögens gerettet hatte, um sein Haus behalten zu können, und daß er das Leben eines Menschenhassers führe und die ganze Welt wegen seines Mißgeschicks und des ihn betroffenen Unglücks anklage.

Christian Christiansson hätte seinen Weg zum Faktor blindlings finden können, das Haus selbst aber, als er es erreichte, erschien ihm merkwürdig fremd. Die früher freundliche kleine Villa sah wie ein stumpfsinniger Mensch aus, der seine Stellung in der Welt und alle Hoffnung und Selbstachtung verloren hat. Der weiße Anstrich der Wände war geborsten und schmutzig, die Fenster schienen mit dem vom Atem der See ausgehauchten Salz beschmiert, der Garten lag wild und der gepflasterte Weg mit Gras überwachsen da.

Es sah kaum wie ein Haus aus, in dem ein junges Mädchen wohnen würde. Nachdem er jedoch geklingelt hatte, lauschte er auf einen leichten Schritt im Vorplatz. Die Türe wurde statt dessen von einer verschrumpften alten Dame mit weißen Locken und vorne aufgeschürztem Kleide geöffnet. Es war Tante Margret, aber die einst so schnippische und saubere, kleine alte Jungfer trug den vernachlässigten und eingeschüchterten Blick einer in einem leeren Hause zurückgelassenen und vergessenen Katze.

Unter allen seinen Angehörigen war ihr Antlitz das erste, das ihm zu Gesicht kam, und seine sich selbst zuerteilte Rolle fast vergessend, hatte er sie, ehe er es sich selbst versah, mit ihrem Namen angeredet, worauf sie sichtlich, wie beim Laut einer bekannten Stimme, zusammengezuckt war.

»Ist Ihr Bruder zu Hause, Margret Neilsen?« hatte er sie gefragt.

»Er ist immer zu Hause,« lautete ihre Antwort, »er empfängt jetzt aber nie Besuche. Welchen Namen soll ich ihm nennen?«

»Sagen Sie, daß Christian Christiansson ihn gern sprechen möchte.«

Tante Margret, die keine Brille aufhatte, schien einen Augenblick wie auf eine weither tönende Stimme zu lauschen, und dann bat sie ihn, näher zu treten.

Während er durch den Vorplatz schritt, horchte Christian Christiansson seinerseits auf die silberne Stimme, die er zu hören sich sehnte, er vernahm jedoch keinen anderen Laut als das Geräusch seiner eignen Fußtritte, die in dem Hause wie in einem Gewölbe widerhallten. Über die gänzliche Veränderung desselben vergaß er sogar auf einen Augenblick den Zweck seines Kommens, und als er beim Betreten des Wohnzimmers den bekannten Raum so ganz anders, als er in seiner Erinnerung gelebt hatte, wiederfand, so kahl, so düster, so mit dem Stempel der Armut gezeichnet (mit seinem Stück fadenscheinigen Teppichs auf dem Fußboden und seinen zwei Brandziegeln im kalten Ofen), fühlte er, als ob ironische Mächte sein Schicksal geleitet und ihn nicht deshalb, damit er sein Kind sehen möge, sondern nur um ihn zu martern dorthin geführt hatten.

Nach Verlauf eines Augenblicks kam der Faktor mit dem alten Feuer in den Augen und der alten Entschlossenheit im Tritt, aber mit einer abgetragenen Hauskappe und einem fadenscheinigen, einstmals schwarzen Anzug ins Zimmer, an einen auf einem grünen Platz liegenden und nach Sonnenuntergang unfreundlich und modrig aussehenden Felsblock erinnernd.

»Ich habe von Ihrer Ankunft gehört, Herr Christiansson,« sagte er, »und ich vermute, ich sollte Ihnen eigentlich für Ihren Besuch danken, ich bin aber ein alter Mann, der seine Zeit überlebt hat, und ich kann mir nicht denken, was Sie veranlaßt hat, mich aufzusuchen.«

Christian Christiansson hatte eine Ausrede in Bereitschaft. »Ich dachte,« sagte er, »da ich aus London komme, wollte ich Ihnen Nachricht über Ihre Tochter bringen.«

»Helga? Sie kennen meine Tochter Helga?«

»Ich pflegte sie zu kennen, unsere Wege haben sich jedoch geschieden, und es sind zehn Jahre, seit wir uns zuletzt gesehen haben. Trotzdem aber weiß ich alles über sie und kann Ihnen sagen, was aus ihr geworden ist.«

»Was ist aus ihr geworden, mein Herr?«

»Eine große Sängerin.«

»Eine Sängerin, wirklich?«

»Eine große Opernsängerin.«

»Dann ist sie vermutlich reich geworden?«

»Auf dem Wege vielleicht, es zu werden, berühmt aber jedenfalls und der Liebling von ganz Europa.«

Der Faktor stand einen Augenblick auf seinen Stock gestützt schweigend da, dann sagte er –

»Nun, das wird ihrer Mutter passen, sollte ich meinen. Was mich anbetrifft, so ist es mir, glaube ich, einerlei. Es sind zehn Jahre seit Helga Neilsen Island verlassen hat, und nie habe ich seitdem eine Zeile von ihr gesehen. Wenn sie reich ist, so bin ich arm, und das ist ihr durchaus gleichgültig. Ich nenne diejenige eine Tochter, die sich ihres Vaters erinnert, wenn er in Armut geraten und unfähig ist, länger zu arbeiten, und die Welt ihm böse mitgespielt hat. Eine solche Tochter besaß ich einmal, sie haben sie aber zwischen sich getötet – zwischen sich getötet, sage ich.«

Des alten Mannes Stimme versagte, und um ihn zu trösten, sagte Christian Christiansson seiner Worte sich kaum bewußt –

»Ich hörte von Ihrem Schicksal, Herr Neilsen.«

»Wann haben Sie davon gehört? Helga könnte Ihnen nicht davon erzählt haben. Sie war zu sehr an ihrer Schwester Tod beteiligt, um darüber sprechen zu können. Kannten Sie vielleicht – in jenen Tagen, die Sie erwähnten – kannten Sie vielleicht den Gatten meiner Tochter?«

»Ja,« sagte Christian Christiansson, denn während dieses herzergreifenden Augenblicks schien kein anderer Ausweg.

»Dann haben Sie einen Schurken gekannt, mein Herr,« sagte der Faktor.

Christian Christiansson wagte, obgleich des Faktors Hieb ihm bis auf die Knochen gedrungen war, sich nicht von der Stelle zu rühren. In einer erstickten Äußerung versuchte er wie um Gnade zu flehen. »Oskar Stephenson hat nie aufgehört, sich wegen seines Anteils an Thoras Tod anzuklagen oder sie zu betrauern –«

»Es ist eine nette Art, die eine Tochter damit zu betrauern, daß man die andere verführt,« sagte der Faktor.

»Verführt?«

»Was sonst war es? Er war noch kein Jahr in London gewesen als er Helga überredete, ihm zu folgen.«

»Herr Neilsen, ich habe kein Recht für den Menschen, von dem wir sprechen, einzutreten; Helga aber ist Ihre Tochter, und wenn es Ihnen irgendwelchen Trost gewähren kann, so versichere ich Ihnen, daß Sie im Unrecht sind – ich weiß, Sie sind im Unrecht –«

»Wie können Sie das wissen – er lebte mit ihr im selben Hause, nicht wahr?«

»Trotz alledem glaube ich – glaube ich aus vollster Überzeugung, daß, wie immer er seine Pflicht Ihrer Tochter Thora gegenüber während ihrer Lebenszeit auch verabsäumt hat, er nach ihrem Tode ihr Andenken zu hoch hielt, um –«

»Nennen Sie es vielleicht ihr Andenken hochhalten, daß er mit dem Recht, ihr Grab zu schänden, Handel trieb und das dafür erhaltene Geld am Spieltisch vergeudete?«

Der Schweiß begann auf Christian Christianssons Stirne auszubrechen, und der Zweck seines Kommens war ihm gänzlich entfallen, als die Türe sich öffnete und er in der Erwartung, Elin zu sehen, aufblickte. Es war jedoch nur Tante Margret wieder, jetzt aber gewaschen und geölt und mit ihrer Brille auf der Nase.

Christian Christiansson rückte der kinderlosen Frau einen Stuhl zurecht und fing an, von dem Kinde zu sprechen.

»Der Mann, von dem wir reden, hatte, Gott weiß es, seine Fehler, wenn Sie ihn jedoch über Sie, mein Herr, und über Ihre Schwester und seine Tochter hätten sprechen hören können, besonders über seine kleine Tochter –«

»Er sprach also von seiner Tochter?«

»Beständig – sie schien seine ganzen Gedanken auszufüllen.«

»Dann hat er es dabei bewenden lassen. Er hat mir ihre ganze Erhaltung überlassen und auch nie einen einzigen Pfennig nur für ihren Unterhalt geschickt.«

»Er selbst war vielleicht arm – in der Tat, ich weiß, er war arm.«

»Wie stand es denn mit den Briefen, die er seiner Mutter schrieb und in denen er sich seines Geschäftes und seiner vornehmen Freunde rühmte?«

Christian Christiansson ließ den Kopf sinken.

»Und als mein eignes Geschäft zusammenbrach, erbot er sich etwa, mir meine Verpflichtungen abzunehmen?«

»Das war später, Oskar – du verwechselst die Daten,« sagte Tante Margret.

»Halt' den Mund, Margret Neilsen – ich weiß, was ich sage. Nein, mein Herr, als der Undankbare vom Regierungsgebäude mich bankrott erklärte, und ich nicht wußte, ob ich ein Dach über meinem Haupte haben würde, war es des Vaters Bruder, der mir das Kind abnehmen mußte.«

»Magnus?«

»Magnus Stephenson, und er hatte schon seine Mutter zu versorgen.«

»Dann ist Elin in Thingvellir! Und Magnus hat alle diese Jahre für sie gesorgt! Wie gut von ihm! Und nun ist er selbst am Ende, der arme Bursche!«

»Geschieht ihm recht, wenn er das ist,« sagte der Faktor. »Für ihn habe ich ebenfalls kein Mitleid – er war es, der all das Elend zuerst heraufbeschwor.«

»Wenn aber ein rechtschaffener Mann, der anderer Leute Bürde auf sich genommen –«

»Rechtschaffener Narr, meinen Sie, mein Herr. Das Glück kommt einmal vor jedes Menschen Tür, Herr, und es kam zu ihm, er wollte es aber nicht hereinlassen. Sehen Sie sich um in diesem Zimmer, mein Herr, ich pflegte vier Gehilfen mit mir darin zum Essen und zum Trinken zu haben, und Magnus Stephenson war einer von ihnen. Er hatte gute Ideen in jenen Tagen, und wenn er bei mir geblieben wäre, würden wir die Freihändler ferngehalten haben und er würde um diese Zeit der erste Mann im Westen Islands gewesen sein. Ich bot ihm jede Gelegenheit dazu. Ich wollte ihn zum Teilhaber machen und ihm meine Tochter Thora zur Frau geben. Aber nein, alles oder nichts, er beleidigte meine Tochter und rümpfte über meinen Kontrakt die Nase. Und nun sitzt er in der Patsche, wird aber noch tiefer sinken. Was an einem Narren durchnäßt, trocknet an einem Schurken, und Magnus Stephenson wird, ehe wir das letzte von ihm hören, Schlimmeres als ein Bankrotteur sein.«

»Herr Neilsen,« sagte Christian Christiansson schwer atmend, »da sind Sie ebenfalls im Unrecht und Sie mußten das selbst wissen.«

»Wer sagt, daß ich im Unrecht bin, mein Herr, und worin bin ich im Unrecht?«

»Sie sind im Unrecht, wenn Sie glauben, daß Magnus Stephenson aus Selbstsucht Ihre Tochter verweigerte.«

»Wenn nicht Selbstsucht, was war es denn vielleicht?«

»Es war Selbstlosigkeit – edelste Selbstlosigkeit.«

»Wieso?«

»Thora war sich bewußt geworden, daß sie seinen Bruder Oskar liebe, und um sie glücklich zu machen, willigte Magnus ein sie demselben abzutreten. Der Kontrakt war jedoch gemacht, und Sie hatten Ihre ganze Hoffnung darauf gesetzt, und um Ihre Tochter vor Ihrem Unwillen zu bewahren, tat Magnus, trotzdem er sie innig liebte und es ihm das Herz brach, als ob er derjenige sei, der sie aufgäbe.«

Der Faktor sprang mit einem wilden Glanz in den Augen auf und fragte: »Aber ist dies alles wahr?«

»Es ist Gottes heilige Wahrheit, mein Herr.«

»Von wem wissen Sie es?«

»Von jemand, der es Ihnen vor fünfzehn Jahren schon hätte sagen sollen, dem es aber an Mut gebrach.«

Der Faktor wandte sich erstarrt an seine Schwester.

»Margret Neilsen, hörst du, was er sagt?«

Tante Margret, die hörbar atmete, senkte nur das Haupt.

»Ich weiß nicht, mein Herr, was ich Ihnen antworten soll. Wenn das, was Sie sagen, wahr ist, habe ich ein halbes Leben hindurch den unrechten Mann gehaßt. Und dabei sprechen die Leute noch von einer Vorsehung!«

»Gott verbirgt uns sein Angesicht, Faktor. Wir sind nur seine kleinen Kinder. Er hat seine eignen Zwecke und Ziele.«

»Guter Gott! mein Herr,« sagte der Faktor mit heiserem Krächzen, »welchen Zweck könnte es haben, einen Mann fünfzehn Jahre hindurch mit Blindheit zu schlagen und ihn alle seine Freundschaften abbrechen zu lassen?«

Er ging, um seine unter dem Schreck dieses moralischen Erdbebens erschütterten Nerven zu beruhigen, im Zimmer auf und ab.

»Wenn ich über Magnus im Unrecht war, mag ich es ebenfalls über Oskar sein. Ich wurde ängstlich, als er in meinem Namen unterschrieben hatte und tat deshalb das meine, ihn aus Island zu vertreiben. Und nun ist er tot!«

Christian Christiansson senkte den Kopf, seine Brust wogte.

»Sein Vater ist ebenfalls tot. Wir gerieten in Streit unserer Kinder wegen, und nun scheint es, als ob das Ganze nur einem Mißverständnis entsprang. Fünfzig Jahre lang war er mein Freund, und ich habe nie einen anderen gehabt. So etwas, wie im Alter einen alten Freund machen, gibt es nicht, Herr, und wenn unsere Freunde uns verlassen, wird das Leben einsam. Vielleicht bin ich gegen Oskar ebenfalls hart gewesen. Er war mein Patensohn. Ich hatte den Jungen trotz aller seiner Fehler lieb, und die Minute, da er nur Fuß auf Island gesetzt hatte, kam er stets, um mich alten Mann zu besuchen.«

Christian Christiansson war zumute, als ob er mit dem Rufe: »Hier bin ich, Pate,« seine ganze Verkleidung abwerfen sollte. Er konnte und wagte es jedoch nicht und erhob sich zum Gehen, und der Faktor begleitete ihn an die Türe.

»Ich werde, ehe ich Island verlasse, noch einmal wiederkommen,« sagte er im letzten Augenblick, »und dann werde ich Ihnen vielleicht etwas mitzuteilen haben.«

Als der Faktor, demselben grauen, nun aber gänzlich in Wolken gehüllten Felsen gleichend, ins Wohnzimmer zurückkehrte, sagte Tante Margret, die sich kaum vom Fleck gerührt hatte, in der erschreckten Stimme eines Menschen, der einen Geist gesehen hat –

»Weißt du, wer das war?«

»Was meinst du?«

»Das war Oskar Stephenson.«

»Margret Neilsen, du bist verrückt. Oskar Stephenson ist tot.«

»Dann ist er wieder lebendig geworden. Das war Oskar Stephenson, so wahr ich lebe!«


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