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Zweites Kapitel.

»Nun, da du nun doch einmal hier bist, kannst du wohl den Tisch decken,« sagte Anna.

»Ja, Großmama,« sagte das Mädchen.

»Trage den geräucherten Hammel und die Rullapilsa und den Rikling auf, während ich in das Elthaus gehe, den Kaffee zu machen.«

»Ja, Großmama.«

»Machen Sie es sich bequem, Christian Christiansson – meine Enkelin wird Ihnen aufwarten.«

»Das will ich,« versuchte er zu sagen, aber seine Stimme wollte ihm fast versagen.

Als Anna hinausgegangen war, saß er, einige Augenblicke Elin beobachtend, wie sie vom Anrichtetisch zum Eßtisch trippelte und in der Speisekammer ein und aus ging, das Tischtuch auflegte, die Teller und die Speise zurechtsetzte. Das Mädchen war so einfach, so natürlich, so frei von jedem Selbstbewußtsein, daß sie kaum seine Gegenwart beachtete, denn sie summte, als ob sie einen Singvogel in ihrer Brust nicht zum Schweigen bringen könne, leise für sich hin. Während seine Augen sie verfolgten, hämmerte und pochte sein Herz, und wenn sie das Zimmer verließ, schien das Licht in demselben zu verlöschen und wenn sie zurückkehrte die Luft darin zu erwärmen. In dem schwindelnden Glück jener Stunde fühlte er, als ob er in jedem einzelnen der ohne sie verlebten fünfzehn Jahre eine Tochter verloren habe, und nun, wo sie nahe war, brannte und zuckte es ihm in den Händen sie zu halten. Er sehnte sich sie in seine Arme zu schließen und zu ihr zu sagen: »Mein Kind! Mein Kind! Spricht keine Stimme in dir, wer ich bin? Ich bin dein Vater und ich habe mich so sehr nach dir gesehnt und so oft an dich gedacht, und nun bin ich gekommen dich zu holen, und wir werden uns nie wieder trennen!« Aber zwischen der Furcht sie zu erschrecken und der Angst sich zu enthüllen, konnte er nichts anderes tun, als die Unruhe in seiner Brust zu überwinden und zu sagen:

»Dein Name ist Elin, nicht wahr?«

»Ja, Herr,« sagte das Mädchen.

»Welch ein wunderschöner Name das ist – Elin! Dein Vater hat ihn gewählt, nicht wahr?«

»Das habe ich nie gehört, Herr. Hat Großmutter das gesagt?«

»Großmutter und ich,« stammelte er, »haben von deinem Vater gesprochen. Du erinnerst dich seiner nicht?«

»O nein, Herr – er starb, als ich ganz klein war.«

»Welch ein Verlust das für dich gewesen sein muß, mein Kind!«

»Das kann ich nicht sagen, Herr,« sagte das Mädchen, »weil Onkel Magnus mein ganzes Leben wie ein Vater gegen mich gewesen ist, und ich den Unterschied nie gekannt habe.«

»Welch ein Verlust für deinen Vater dann aber! Wie glücklich du ihn gemacht haben würdest, und wie stolz er auf dich hätte sein müssen!«

»Das kann ich auch nicht sagen,« sagte das Mädchen wieder, »weil er nach meiner Geburt noch fünf Jahre gelebt hat, ohne sich je um mich zu kümmern.«

»Hat Großmutter dir das gesagt?«

»O nein, Herr. Gewiß nicht! Auch Onkel Magnus nicht. Aber jedermann weiß alles über meinen Vater, und selbst die Mädchen in der Schule wußten das.«

Ein Gefühl tödlicher Scham überkam ihn, und das Herz in der Brust schien ihm stille zu stehen und zu erstarren.

»Dann bist du nicht traurig, daß dein Vater tot ist, Elin?«

»Das zu sagen wäre nicht recht, Herr.«

»Auf jeden Fall empfindest du keine Liebe für ihn?«

»Ich kannte ihn nie – man kann doch niemand lieben, den man nie gekannt hat? Vielleicht, wenn er länger gelebt hätte und zurückgekehrt wäre, hätte ich ihn allmählich lieb gewonnen. Aber ich sehe nicht ein, wie ich es hätte können, wenn das, was die Leute von ihm sagen, wahr ist.«

»Was sagen sie, mein Kind?«

»Sie sagen, er war lieblos gegen meine Mutter, und daß dies ein Grund mit war, weshalb sie so früh starb.«

»Dann hast du nie den Wunsch gehabt deinen Vater zu sehen und kennen zu lernen?«

»Wie könnte ich? Wenn er nicht gut gegen meine arme Mutter war, wie könnte ich da denken, daß er gut gegen mich sein würde? Aber hier! Ihr Abendessen ist fertig. Großmama wird den Kaffee gleich bringen – wollen Sie nicht mit dem Fleisch anfangen, Herr?«

Er setzte sich an den Tisch nieder, der Appetit jedoch war ihm vergangen. Während eines Augenblickes wünschte er sich fast in die schwarze Nacht zurück, aus der er gekommen war. Des Mädchens einfache Worte hatten seinen Erwartungen die Totenglocke geläutet. All diese Jahre hatte er Elin der Sorge und Pflege anderer überlassen – konnte er erwarten, daß er, jetzt zurückkommend, die Liebe, die er verwirkt hatte, finden würde? O nein! Es war zu spät – zu spät! Aber gerade als dieser Teil seiner Hoffnungen dahin zu schwinden drohte, durchkreuzte ein neuer Lichtschimmer seinen Sinn und belebte seinen Mut von frischem.

»Nannte Großmama Sie nicht Christian Christiansson?« fragte das Mädchen.

»Ja,« antwortete er. »Hast du je vorher den Namen gehört, mein Kind?«

Das Mädchen wandte ihm sein vor Erregung glühendes Gesicht zu und sagte: »Jedermann in Island kennt ihn, Herr. Es ist derselbe Name wie der des großen Komponisten, der in England lebt.«

Ein betäubender Freudentaumel bemächtigte sich seiner, und er sagte: »Also du hast – du hast von ihm gehört, ja?«

»Ich singe seine Lieder, Herr, sie sind so schön! Ich finde, es sind die schönsten Lieder der ganzen Welt. Möchten Sie, daß ich Ihnen eines vorsänge, während Sie Ihr Abendessen verzehren?«

»Willst du das?«

»Gern,« sagte sie und war, ehe er wieder zu Atem kommen konnte, wie ein Mondstrahl entschlüpft und wie ein Sonnenstrahl mit einer Gitarre in der Hand zurückgekehrt.

»Dies war meiner Mutter Gitarre, und nun gehört sie mir und sie ist sehr schön,« sagte sie, und mit der vollen Selbstvergessenheit, die den Kindern ihren Reiz verleiht, setzte sie sich nieder und fing zu spielen an. Nach einem Augenblick hielt sie inne und fragte mit zur Seite geneigtem Haupt:

»Was es wohl werden wird? Aber vielleicht kennen Sie alle Lieder und möchten ein besonderes hören?«

Sein Angesicht war gesenkt, die Wogen der Erregung durchschauerten ihn: »Singe – singe irgend etwas, was du gern hast, mein Liebling,« erwiderte er.

Der erregte Ernst seiner Worte erschreckte sie einen Augenblick, dann aber lächelte sie nur mit neuer Lieblichkeit und fing zu singen an, erst mit leiser, klarer, halber Stimme und dann mit hohem, bebendem Sopran, der wie der Schlag einer Lerche am Himmelstor erklang.

Christian Christiansson konnte nicht essen; er konnte nur seine Ellbogen auf den Tisch stützen und sein Gesicht in die Hände vergraben. Sein eignes Kind sang ihm sein eignes Lied mit der Stimme ihrer Mutter und seiner eignen zugleich!

Als das Lied beendet war, wandte sie sich mit von unvergossenen Tränen glänzenden Augen wieder zu ihm und sagte: »Ist das nicht schön?«

»Es war schön gesungen, mein Kind, wunderschön!« sagte er. Und darauf fuhr er nach einem Augenblick fort: »Elin, möchtest du etwas über den Mann hören, der das Lied schrieb, und wie er dazu kam es zu schreiben?«

Elins Verlangen war rührend. »Gewiß, gewiß möchte ich das,« sagte sie. »Kennen Sie Ihren Namensvetter denn?«

»Ich habe ihn mein ganzes Leben lang gekannt, mein Kind.«

»Erzählen Sie mir von ihm. O bitte, erzählen Sie mir. Ein Mensch, der so schöne Gedanken und Gefühle hat, muß gut und edel sein.«

»Er ist weder das eine noch das andere, Elin, sondern nur ein armer, strauchelnder Sünder wie wir selbst. Im frühen Leben verging er sich an seinem jungen Weibe, und sie starb. Dann verging er sich an seinem Vater und mußte aus dem Lande fliehen. Danach hatte er viel zu leiden und lud viel Schuld auf sich. Schließlich aber kam er zur Erkenntnis, und dann wurde die Erinnerung an eine kleine Tochter, die er zurückgelassen hatte, in ihm wach. Er hatte keinen sehnlicheren Wunsch, als sofort zu ihr zurückzueilen und ihr endlich ein Vater zu sein und das was er an der toten Mutter verbrochen hatte, an ihr wieder gut zu machen. Es gab jedoch erst vieles zu tun, denn er war wie ein durch eigne Schuld unter einer Lawine begrabener Mensch und hatte sich seinen Weg zum Leben und zur Welt zurückzukämpfen. Und wie sein Herz so in der weiten Ferne nach der Liebe seiner kleinen Tochter dürstete, und er nicht wußte, was aus ihr geworden war und so gern – o, so sehr gern – zu ihr zurückgeeilt wäre, es aber, weil er gesündigt hatte und seine Sünden büßen mußte, noch nicht konnte, da schrieb er dies Lied, und es war der Hilferuf seiner Seele, den er zu der Mutter im Himmel emporschickte, daß sie ihrem Kinde auf Erden Trost und liebende Sorge angedeihen lassen möge!«

Während Elin der Geschichte Christian Christianssons lauschte, rollten die Tränen, die in ihren Augen gestanden hatten, ihre Wangen herab, und ihre Brust hob und senkte sich langsam.

»Wie schön!« sagte sie. Und ihr tiefes Mitleid über den Kummer eines Mannes, der nicht ihr Vater war, erweckte einen neuen Hoffnungsstrahl in Christian Christiansson, und er fragte sich, ob sie ihm als Christian Christiansson nicht die Liebe schenken möchte, die sie ihm als Vater versagte.

Dieser Gedanke wurde ebenfalls durch einen Schatten getrübt, er fand sich aber mit ihm ab. Nach langen Jahren der Hoffnung und der schweren Arbeit, war er, um sein Kind für sich zu beanspruchen, zurückgekehrt, und was er befürchtet hatte, war eingetroffen – ihr Herz war gegen ihn vergiftet worden. Aber während sie ihn als Oskar Stephenson verabscheute, liebte sie ihn als Christian Christiansson! O, schöne, blinde, rührende Täuschung, konnte er sie nicht aufrecht erhalten?

In dem Tumult, der wie der Strudel in einem dunklen Fluß ihm in Herz und Gehirn gärte, war er, ohne sich darüber klar zu sein, was er sagen oder tun wollte, aufgesprungen, um auf das Mädchen zuzugehen, als Anna mit der dampfenden Kaffeekanne in der Hand wieder ins Zimmer trat und aufmunternd sagte:

»Hier bringe ich ihn endlich! Das Feuer war ausgegangen im Elthause, und ich hatte Mühe genug, es wieder anzufachen.«

Und dann sich mit beiden – seiner Mutter und seiner Tochter – zur gleichen Zeit im Zimmer sehend, überwältigten ihn seine Gefühle von neuem, und es bedurfte seiner ganzen Willenskraft, um nicht mit allem zutage zu kommen und aller weiteren Qual ein Ende zu machen. Aber während die Worte seines Bekenntnisses ihm auf den Lippen schwebten, dachte er: »Nicht heute abend; morgen früh; und dann, o Freude, o Glück!«

Fast im selben Augenblick kehrte Magnus ins Haus zurück und sagte: »Mit der kleinen Stute war es fast zu Ende, Herr, aber ich habe sie abgerieben und ihr Heu gegeben, und sie soll, ehe ich zu Bett gehe, Mengfutter haben.«

»Vorher aber lassen Sie uns erst eine Flasche Brandy haben,« sagte Christian Christiansson, und einige Minuten später trug Elin die Schüsseln zum Aufwaschen ab und ging Anna, um das Fremdenzimmer herzurichten, in Magnus' Schlafstube, und beide Brüder saßen sich am Tische gegenüber, mit der Flasche zwischen sich.


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