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Neuntes Kapitel.

»O Gott! Welch eine Nacht,« sagte der Fremde. Er schien von der entronnenen Gefahr verstört und überwältigt.

Als Christian Christiansson die Türe von neuem geschlossen und wieder versichert hatte, schien die Finsternis dichter als je.

»Haben Sie Streichhölzer bei sich?« fragte er.

»Nein – ja – das heißt, ich fürchte, sie sind feucht,« sagte der Fremde. Er strich eines an und es verspritzte, ohne Feuer zu fangen.

»Seien Sie dann vorsichtig. Da schläft ein Junge auf dem Boden. Bringen Sie Ihr Pferd hierher.«

»Danke! Welch ein Glück, daß ich Sie hörte! Ich war vom Wege abgekommen und wunderte mich, auf welchem hohlen Untergrund ich wohl ginge, als Sie von unten riefen. Es hat mich fast zu Tode erschreckt.«

Es war eine junge Stimme. Der Fremde war augenscheinlich ein junger Mensch, wahrscheinlich ein Bauer. Sie unterhielten sich miteinander durch die Dunkelheit, ohne einander von Angesicht sehen zu können.

»Wer bist du, mein Junge?« fragte Christian Christiansson.

»Ich bin Eric Arnasson. Ich komme von Thingvellir. Wer sind Sie, Herr?«

»Ich bin ein Reisender und auf meinem Wege dorthin.«

»Sie wollen wahrscheinlich zur Versteigerung?«

»Ja.«

»Dann komme ich gerade von dem Hause, nach dem Sie hin wollen.«

»Bist du ein Knecht von der Pachtausspannung?«

»Ich war es, aber alle Hände sind nun entlassen. Ich war der letzte, der ging.«

»Wo sind Gudrun und Hans Vidalin?«

»Die wirtschaften seit zehn Jahren auf Korastead, Herr.«

»Und Asher?«

»Ist auch fort. Unser Kreis nahm schnell ab, als der Herr in Unglück geriet. Ich bin von klein auf bei ihm gewesen, heute nachmittag aber hat er mich auch abgelohnt.«

»Wo ist die alte Maria?«

»Lange tot.«

»Ist denn dort niemand übriggeblieben?«

»Niemand als der Herr und seine alte Mutter und seine junge Tochter.«

»Tochter?«

»Nun, jedermann nennt sie so, sie ist aber nur seine Nichte.«

»Ist da heute abend niemand sonst im Hause?«

»Soviel ich weiß, keine Seele. Und es wird vermutlich die letzte Nacht sein, die sie dort zubringen.«

»Aber die Versteigerung wird morgen nicht stattfinden, mein Junge. Der Kreisrichter kann unmöglich heute dorthin gelangen. Er muß von Borg kommen, und der Weg über den Berg ist womöglich noch ärger als dieser.«

»Der Kreisrichter ist schon da, Herr.«

»Schon?«

»Als ich fortging, war er gerade in der Küche, um eine Liste vom Hausinventar aufzunehmen und er sollte im Pfarrhause schlafen.«

Christian Christianssons Haare schienen sich zu sträuben. Die entsetzliche Reise sollte ihm also nicht erspart bleiben, trotz des Unwetters mußte er weiter. Seine Glieder fühlten sich wie Blei an, und nur mit äußerster Anstrengung vermochte er sie zu bewegen. Er schüttelte jedoch die Schwere ab und machte sich daran, die Stute zu satteln.

»Welche Zeit, meinst du, ist es, mein Junge?«

»Ich weiß nicht, meine Uhr ist stehengeblieben, und dann kann ich sie auch nicht sehen. Es muß aber wenigstens sieben Uhr sein. Sie denken aber doch nicht daran, heute abend noch weiter zu gehen, Herr?«

»Ich muß.«

»Sie werden Thingvellir nie erreichen, Herr. Es war schlimm genug für mich mit dem Rücken gegen den Sturm, aber es wird zehnmal schlimmer für Sie mit dem Gesicht ihm entgegen sein. Sie wären verloren, und Ihre Freunde würden Sie niemals wiedersehen.«

»Gute Nacht! Nimm den Knaben am Morgen mit nach Reykjavik zurück.«

Einmal wieder draußen auf dem Schneefelde, war sich Christian Christiansson keines andern Verlangens als eines ungestümen Dranges vorwärts zu eilen bewußt. Der Sattel war feucht, und er hatte das Gefühl, wie wenn er in kaltem Wasser säße; der Schnee war tiefer als vorher, und manchmal versank sein Pferd bis zum Sattelgurt. Die Dunkelheit hatte sich jetzt in nächtliche Finsternis verwandelt, und nur mit Schwierigkeit konnte er den Wahrzeichen der Reihe nach folgen. Der Wind warf sich ihm mit seiner ganzen Wucht entgegen, der Schnee peitschte ihm das Gesicht, aber doch kämpfte er sich durch, denn ein neuer und begeisternder Gedanke hatte sich seiner bemächtigt.

In seinem wilden Kampfe mit den Elementen focht der Allmächtige auf seiner Seite! Die teuflischen Mächte der Natur hatten ihn von dem Vorhaben, seinen Angehörigen Rettung zu bringen, abzuhalten versucht, und nachdem er das Rasthaus erreicht, ihn in eine falsche Ruhe gelullt; Gott aber hatte ihm in dem Knecht einen neuen Fingerzeig gesandt, daß seinen Lieben Gefahr drohe, und daß er, wenn er bis zum Morgen warte, das Ende seiner Reise zu spät erreichen würde! Diese Überzeugung ließ sein Herz erstarken, denn sie erweckte das Gefühl in ihm, als ob er sich in der unmittelbaren Gegenwart dessen befände, der mächtiger als ein Orkan ist.

Nach Verlauf von zwei Stunden jedoch begann das heilige Feuer dieser Theorie zu verrauchen. Seine Kräfte fingen an, abzunehmen und die Schläge seines Herzens erstickten ihn fast; dazu kam er in dem tiefer werdenden Schnee vom Wege ab, und als seine Stute in die vom Sturm zusammengewehten Schneeschanzen hineinstolperte, war er kaum kräftig genug, sie wieder herauszuziehen. Dann, ehe er es sich versah, begann die Stimme der Natur von neuem in ihm zu sprechen.

»Weshalb verließest du das Rasthaus? Der Kreisrichter mag im Pachthof sein, kein Käufer aber kann heute nacht dorthin gelangen, und wo die Leute zum Bieten fehlen, kann keine Versteigerung sein.

Noch im Verfolg dieses Gedankens sah er durch die Dunkelheit hindurch einen roten Punkt ihm entgegenschimmern und wandte den Kopf seines Pferdes der Richtung des Lichtes zu. Es erwies sich als aus dem Fenster eines Pachthofes kommend, und nachdem er die Tür gefunden und von draußen um Einlaß gebeten hatte, trat ein Mann heraus.

»Ich bin vom Wege abgekommen,« rief er durch das Gestöhne des Windes hindurch. »Sagen Sie mir, bitte, wo ich bin.«

»Dies ist Korastead,« rief der Mann zurück, und dann kam eine Frau in den Torweg und stellte sich hinter ihn. Der Mann war Hans Vidalin und die Frau war Gudrun, aber keiner von beiden erkannte ihn.

»Wohin geht Ihr Weg, Herr?« sagte Hans.

»Nach Thingvellir zur Versteigerung.«

»Dann sind Sie nicht sehr weit von Ihrem Wege ab. Halten Sie sich rechts bis zum Flußübergang und dann folgen Sie den Steinen bis Sie zur Kluft kommen.«

Christian Christiansson zögerte. »Ich bin müde, da ich ganz von Reykjavik herkomme, und es scheint zwecklos weiterzugehen. Kein anderer wird toll genug sein sich in solchem Wetter auf die Reise zu machen; und ohne Leute zum Bieten kann keine Versteigerung sein. Wenn Sie mir also Obdach und ein Streulager geben können –«

»Sie sind gern willkommen, Herr; wenn Sie den Platz jedoch zu kaufen beabsichtigen, täten Sie besser weiter zu gehen, um an Ort und Stelle zu gelangen.«

»Weshalb denn?«

»Weil der Verkauf in eines Kreisrichters Händen ist und auf jeden Fall stattfinden wird.«

»Wie kann er aber stattfinden, wenn niemand zum Bieten da ist?«

»Er selbst wird für jemand bieten, Herr, und wir alle wissen für wen.«

»Für wen denn?«

»Für jemand aus dem Regierungshause, den es diese ganzen fünfzehn Jahre nach dem Gute gelüstet hat.«

»So glauben Sie also, daß der Kreisrichter morgen früh, ob jemand da ist oder nicht, die Versteigerung halten wird?«

»Ganz sicher, Herr. Je weniger Bieter dort sind, desto lieber wird es ihm sein und desto besseren Handel wird der Minister machen.«

»Dann muß ich also weiter,« sagte Christian Christiansson.

»Treten Sie aber ein und tauen Sie sich erst auf,« sagte Hans. Der Wind legt sich – es wird bald ruhig sein.«

Einige Augenblicke später hörte Christian Christiansson, während er in dem Elthause eine Tasse heißen Kaffees trank, Hans und Gudrun von den Seinen auf der Pachtausspannung erzählen.

»Wir haben zehn Jahre lang bei der Familie im Dienst gestanden und kennen sie also sehr gut,« sagte Hans.

»Die arme alte Anna!« sagte Gudrun. »Sie würde zu allem, was ich habe, willkommen sein, aber mit den heranwachsenden Knaben haben wir nicht ein Bett in der Badstofa frei.«

»Es ist eine angenommene Tochter da, nicht wahr?«

»Jawohl, Herr, und jedermann würde sich freuen, sie als Stütze zu bekommen, der Herr aber will nichts davon wissen sie gehen zu lassen. »Elin soll niemandes Magd werden,« sagt er.«

»Es ist nicht Magnus Stephensons Schuld, wenn das Unglück ihn befallen hat,« sagte Hans. »Er ist stark wie ein Simson und hat für sechs Leute gearbeitet.«

»Wie trägt er sein Mißgeschick?«

»Schlecht,« sagte Gudrun. »Er geht jetzt weder zur Kirche, noch liest er zu Hause die Andacht.«

»Ja,« sagte Hans, »seine Religion hat ihn gänzlich im Stich gelassen, armer Bursche, und wenn einem Menschen die abhanden kommt, bleibt ihm gar nichts.«

»Die Leute fürchten sich vor ihm,« sagte Gudrun. »Er sieht wie das Unheil selbst aus und schlägt immer mit den Armen um sich, so daß er die guten Geister, die einem Menschen zur Seite gehen, hinwegschreckt.«

»Und was, sagen die Leute, ist die Ursache seiner Veränderung?«

»Die Bank und schlechte Zeiten,« sagte Hans.

»Und ein schlechter Bruder,« sagte Gudrun.

»Sein Bruder ist tot und die alte Herrin hat einen Heiligen aus ihm gemacht, aber vor Magnus wagt sie seinen Namen nicht zu erwähnen, weil er dann aufsteht und zum Hause hinausgeht.«

»Haßt er ihn denn so bitter?«

»Es gab eine Zeit, wo er ihn, des bin ich im innersten Herzen überzeugt, ermordet haben würde,« sagte Hans.

Christian Christiansson fuhr zusammen und fing dann an, trotzdem seine halb erfrorenen Beine kaum den Sattel kreuzen oder seine geschwollenen Finger den Zügel halten konnten, sich für die Weiterreise nach Thingvellir vorzubereiten. Das Herz war ihm wieder gesunken, und die Hoffnung, in der er seine Reise angetreten hatte – die Hoffnung auf eine freudige Wiedervereinigung am Ende derselben – nun geschwunden.

Magnus' tiefer, leidenschaftlicher Haß machte es unmöglich, daß er sich seinen Angehörigen entdeckte. Wenn er vor die Tür geritten käme und sagte: »Ich bin Oskar, der Bericht meines Todes war falsch, und ich bin reich und vom Glück begünstigt zurückgekehrt,« was würde Magnus antworten? Er würde sagen: »Dein Vater ist tot, deine Frau ruht im Grabe, deine Mutter und dein Kind haben Armut und vielleicht Mangel gelitten, und das alles durch deine Schuld – meinst du, alles dies durch dein elendes Geld wieder gutmachen zu können?« Und dann würde sein Bruder ihn auf die Straße zurückschleudern.

Nicht heute nacht durfte er sich zu erkennen geben – unter keinen Umständen heute nacht! Vielleicht morgen, wenn der Verkauf vorüber und der Kreisrichter fort sein würde, und er den Weg geebnet und sich seines Willkommens gesichert hatte! Jetzt aber mußte er wie jeder andere Fremde, der zur Versteigerung und um des Gehöftes wegen nach Thingvellir kommen mochte, in der Pachtausspannung um Nachtlager bitten.

Nachdem er sich über den von ihm einzuschlagenden Weg ganz klar geworden war, faßte er neuen Mut und nahm seine Reise freudiger wieder auf. Der Sturm hatte nachgelassen, und als er plötzlich an die Mündung der Almanagja kam, legte er sich gänzlich, und man hätte glauben können, daß irgendein gewaltiger Vulkan im Himmel seine Schneelava auf die Erde geschüttet hätte.

Die Schlucht selbst war voller Erinnerungen für ihn – Erinnerungen an den Tag seines Triumphes, an den Tag seiner Schande – aber von dort, wo damals die Nationalflagge geweht hatte, hingen jetzt Eiszapfen hernieder, und in den Vertiefungen, in denen damals die Zelte gestanden, lag nun, riesigen Pilzen gleich, der zusammengetriebene Schnee. Er erinnerte sich der Hexe, die ihn gewarnt hatte: »Nehmen Sie sich vor Ihrem Bruder in acht,« und er sah Magnus' weißes Gesicht, das dem Tanz so plötzlich ein Ende gemacht hatte, deutlich wieder vor sich. In der nun herrschenden lautlosen Stille entschleierte sich der Himmel und überspannte wie ein majestätisches, mit Sternen besetztes Dach die schroffen Wände. Er aber stolperte in der unten herrschenden Dunkelheit weiter auf die gefrorene Oberfläche des Ertränkungsteiches hinauf und ritt fast geradeswegs auf die Stelle zu, auf der er damals mit Helga gesessen hatte.

An der über den gefrorenen Wasserfall führenden Brücke zeigten sich ihm zum erstenmal die erleuchteten Fenster der Pachtausspannung, und sein Herz schien ihm stille zu stehen. Dort lebten seine Mutter, sein Bruder und seine kleine Tochter miteinander, und fünfzehn Jahre lang hatte er dafür gearbeitet, sich ihnen zuzugesellen; jetzt aber, da er so nahe war, konnte er sich kaum zum Weitergehen entschließen.

Würde seine Mutter – sie, die seine Gesichtszüge zuerst gelesen und ihn von der Wiege auf gekannt hatte, ihn wiedererkennen? Bald befürchtete er es und dann wieder in dem Aufruhr seines wogenden Herzens befürchtete er das Gegenteil. Niemand in Island hatte ihn bis jetzt erkannt, und er wußte, daß er nun noch weniger als sonst sich selbst gliche, denn in Korastead hatte ihm der Spiegel beim Fortgehen gezeigt, daß seine Lippen geschwollen und seine Augen von der übermäßigen Anstrengung des entsetzlichen Tages blutunterlaufen waren.

Er war unterhalb der Brücke über das knirschende, gespaltene Eis des Flusses hinübergeritten und hatte den stillen, schneebedeckten, zum Gehöft führenden Pfad erreicht, als die Türe sich öffnete und zwei Männer aus dem Hause heraustraten. »Der Kreisrichter und der Pastor,« dachte er bei sich selbst. Er hielt sein Pferd an, und so hörten sie ihn nicht; nachdem sie jedoch den zum Pastorat führenden Weg eingeschlagen hatten, begannen die Hunde drinnen zu bellen.

Das Klopfen seines Herzens erstickte ihn fast, und es hätte nicht viel bedurft, um ihn zur Umkehr und zur Flucht zu bewegen. Wielange er dort gestanden hatte – ob fünf oder zehn Minuten – wußte er nicht. Hundert Gedanken, wilder als der wirbelnde Schnee, wogten in seinem Gehirn. In der Überzeugung jedoch, daß der allmächtige Gott, der ihn durch die Gefahren dieses entsetzlichen Tages hindurchgeführt – die Anschläge des Teufels und der Elemente vereitelt und ihn seinem Willen, wie einem noch mächtigeren Orkan gemäß geleitet hatte – schließlich kein anderes als ein gutes Ende im Sinne haben könne, drängte er sein Pferd bis an den Fuß der Treppe hinan und erhob seine Peitsche gegen das Fenster.


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