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Achtes Kapitel.

Der Mann, dem all dies galt, befand sich unterdessen auf dem Wege nach Thingvellir. Mochten die Wolken auch niedrig hängen, so war sein Mut doch hoch; mochte die See sich mit einförmigem Stöhnen am dunklen Strande brechen, so sang sein ganzes Inneres im Hoffnungsjubel. Eine wilde Geschäftigkeit hatte sich seiner Gedanken, Vorstellungen, Empfindungen und Eingebungen bemächtigt, und zum ersten Male seit seiner Rückkehr nach Island war er vollkommen glücklich.

Gott hatte ihm gewährt, daß er zur rechten Zeit nach Island kommen und seiner Familie, die obdach- und heimatlos werden sollte, beistehen durfte! Er hatte gesündigt und er hatte gelitten, die heilige Pflicht der Sühne sollte ihm aber nicht versagt sein. Sein Bruder sollte das Gehöft, das, um ihn selbst vor dem Arm des Gesetzes zu retten, hypothekarisch belastet worden war, unverschuldet zurückerhalten! Zweihunderttausend Kronen hatte er in seiner Brieftasche, und diese sollten den alten Platz morgen früh auf der Versteigerung erkaufen!

Als er die zur Stadt hinausführende Straße entlang galoppierte, wirbelte seine Seele zwischen Hoffnung und Freude wie ein vom Winde getragenes Herbstblatt. Er sah sich im Dunkel des Abends das Gehöft erreichen, und seine Mutter und Magnus und seine Tochter Elin ihm entgegentreten. Er hörte sich selbst sagen: »Mutter, kennst du mich nicht? Ich bin Oskar, und ich bin zurückgekommen, um alles wieder gut zu machen.« Und am andern Tage, nachdem die Versteigerung vorüber und der Amtsrichter wieder fort war und jeder vor Glückseligkeit Tränen vergoß, sah er sich Elin zwischen seine Knie nehmen – Elin, mit den Augen von Thora, doch mit seinen eignen Zügen wie aus einem Spiegelbild ihn anblickend – und hörte sich zu ihr sagen: »du wirst jetzt mit mir kommen, mein Liebling, und wenn es dir als Kind an irgend etwas gefehlt hat, so will ich an dir als erwachsenem Mädchen alles wieder gut machen!«

Der Pony-Junge wurde von seiner heiteren Laune angesteckt und sang, während sie dahin galoppierten, Verse aus dem Elfenlied:

»Tanze bei Tag und tanze bei Nacht,
Leben und Zeit entfliehen uns sacht,
Liebe allein ist von ewiger Macht.«

Er war ein schlanker, achtzehnjähriger Bursche, der seiner Mutter ähnlich sehen mußte, denn er hatte das rosa und weiße Gesicht eines Mädchens. Sie hatten die heißen Quellen und den Ellida-Fluß hinter sich und waren bis auf die Höhen des ersten Berges angelangt, ehe der Frohsinn des Knaben anfing, sich zu überschatten. Während sie ihre Ponys ruhten und ihre Sattelgurten fester schnallten, sagte er im erschreckten Flüsterton –

»Hören Sie wohl, Herr?«

»Hören was?« fragte Christian Christiansson.

»Die Koppe,« sagte der Knabe, auf einen Felsen von rauhen Umrissen auf der obersten Gebirgslinie zu ihrer Rechten deutend, über dem, wie ein großes Ungetüm der Luft, eine dunkle Wolke schwebte.

»Was soll sie, mein Junge?«

»Der Sturm und die Koppe sind Freunde, Herr, denn sie flüstern immer zusammen, ehe der Wind herabkommt. Wenn die Leute sie miteinander flüstern hören, erzittern sie, weil sie wissen, daß der Sturm dann kommt.«

»Laß uns denn eilen,« sagte Christian Christiansson.

In einer Stunde hatten sie das düstere und unfruchtbare Land des roten Hügels, roten Sees und des tiefen Bergteiches mit seinem dunklen Wasser und unheimlichen Ufer erreicht, und zu der Zeit hatte die große Wolke, die so schwer über der Koppe gehangen, sich in viele Teile zerteilt, und jeder Teil schien den andern am Himmel zu bekriegen, denn die Luft erdröhnte in donnergleichen Geräuschen.

»Sollten wir nicht lieber im Pachthof von Middale einkehren, Herr?« fragte der Knabe.

Christian Christiansson aber dachte an seine Mutter, an Magnus, an Elin und an die Versteigerung morgen in der Frühe und beschloß weiter zu reiten.

Sie waren am Saum der Moosfelder Heide angelangt, als der Schnee zu fallen anfing, erst in dicken Flocken wie tote Schmetterlinge, denn der Wind war, trotzdem die Wolken am Himmel dahinjagten und das Gegrolle über ihren Häuptern sie fast betäubte, bis jetzt noch nicht bis auf den Erdboden herabgedrungen.

Christian Christiansson dachte daran, was der Minister gesagt hatte, daß es nichts Entsetzlicheres auf der Welt gäbe, als auf diesem verlassenen Moor von einem Schneesturm überfallen zu werden und fragte sich während eines Augenblickes, ob es nicht geratener sei, nach Middale zurückzukehren und dort das Ende des Sturmes abzuwarten. Im nächsten Augenblick jedoch sagte er sich, daß die teuflischen Mächte, die ihn seit seiner Ankunft in Island auf Schritt und Tritt verfolgt hatten, nur versuchten, ihn an der Ausführung des von ihm beabsichtigten guten Werkes zu verhindern, und deshalb müsse er unter allen Umständen weiter.

»Du fürchtest dich doch nicht, mein Junge?«

»Nicht gerade fürchten,« stammelte der Knabe.

»Dann laß uns also galoppieren.«

Die Heide selbst, als sie sie betraten, war eine weiße, von schwarzen Felsen und Bergen umrahmte Wildnis. Nur indem sie den Meilensteinen folgten, die weißköpfigen, hintereinander her marschierenden Schildwachen gleich, mit dem Winde zugekehrtem Rücken über die weite Fläche daherzuschreiten schienen, vermochten sie ihren Weg zu finden.

Das Gefühl der Verlassenheit war entsetzlich, und eine Stimme schien zu rufen: »Kehre um, solange es noch Zeit ist.« Aber wieder gedachte Christian Christiansson seiner Mutter, Magnus', Elins und der morgen früh stattfindenden Versteigerung, und dann trieb er sein Pferd durch den tiefer und tiefer fallenden Schnee.

Sie waren noch nicht viel weiter gekommen, als der Wind herniederfuhr und ihnen das Gesicht zu zerschneiden begann. Es schien, als ob die Flocken wie Splitter von Flintsteinen auf sie herabgeworfen und geschleudert würden, und als ob jede einzelne ihre Haut durchschnitte. Darauf erreichte die Kälte das äußerste. Das Eis legte sich über ihre Augen, und sie mußten jede zweite Minute stillhalten, um es abzubrechen.

Schließlich umhüllte sie Finsternis, die tödliche, undurchdringliche Finsternis des Windes und Schnees. Eine wilde Flut wirbelnder Schneeflocken fegte über das Moor und verbarg sie voreinander. Es wurde so finster, daß sie nur wenige Meter zu jeder Seite hin sehen konnten, und sie mußten sich, um sich nicht gegenseitig zu verlieren, von Zeit zu Zeit zurufen.

Der Sturm hatte sie nun mit seiner ganzen Wucht gepackt, und an Umkehr war nicht mehr zu denken. Der Wind pfiff und heulte und klagte, der Schnee riß und schnitt. Auf keiner Seite gab es einen schützenden Felsen oder Baum oder Busch, nur die weite Wildnis der zunehmenden Finsternis umhüllte und überschattete sie.

Christian Christiansson tat es um den Jungen leid, seine eignen Lebensgeister dagegen waren mit jeder neuen Phase des Unwetters nur gestiegen. Es war ihm zumute, als ob er einen Zweikampf mit den Elementen fechte. Am andern Ende seiner Reise warteten seine Mutter, Magnus und Elin, und wenn er sie vor dem Morgen erreichte, würde er ihnen Rettung und Hilfe bringen. Es war ein Wettlauf wie ums Leben, um die Leben seiner Nächsten und Teuersten gegen die wilde Zügellosigkeit der elementaren Mächte. Die Natur selbst war, mit mehr als ihrer gewöhnlichen Herzlosigkeit gegen den Menschen, im teuflischen Kriege gegen seine Versuche die Seinen zu erretten. Er wollte sie jedoch besiegen! Mochte es schneien oder stürmen oder hageln oder donnern, er wollte die Heimat zur rechten Zeit für die Versteigerung erreichen!

Die Ponys versagten zuerst. Dasjenige, das Christian Christiansson ritt, war eine kräftige Stute reiferen Alters; des Knaben Pony aber war ein junges, neu zugerittenes Tier, und der Schnee und Wind schienen ihm den Atem zu nehmen. Nach einiger Zeit wandte es den Kopf vom Sturme ab und weigerte sich, weiterzugehen, und der Knabe war genötigt, abzusitzen und es, ihm voranschreitend, am Zügel mit sich fortzuziehen. Noch ein wenig weiter blieb es ganz stehen, glitt auf seine Seite nieder und konnte nur mit größter Mühe wieder auf die Beine gebracht werden.

»Es ist erst vier Jahre alt, und dies ist seine erste Reise,« sagte der Knabe in weinerlichem Ton, als er des Ponys Rücken mit der Peitsche berührte.

Darauf begann der Junge selbst den Mut zu verlieren. Er trug Sackhandschuhe (mit Daumen, aber keinen Fingern darin) und während er am Zügel gerissen hatte, war ihm der eine entfallen. Die Folge davon war, daß seine bloße Hand bald erfror und vollständig machtlos wurde. Dem Pferde voraufschreitend, waren seine Kleider steifgefroren und gestatteten ihm kaum, einen Fuß vor den andern zu setzen. Seine Stimme klang schwächer und seine Rede gebrochener, und wenn sein Gefährte ihm zurief, war er kaum imstande, zu antworten. Endlich rief er mit matter Stimme:

»Kommen Sie und holen Sie mich, Herr, meine Kraft ist zu Ende.«

Ein wenig später fing er zu phantasieren an, redete von seiner Mutter und versuchte, sich seiner Kleider zu entledigen, als ob er zu Bett gehen wolle.

Christian Christiansson verursachten die Qualen des Knaben tiefe Seelenpein. Er hob ihn auf seinen Sattel, mit dem Rücken gegen des Pferdes Kopf gelehnt und machte es ihm so bequem, wie die Umstände es in dieser entsetzlichen Lage erlaubten.

»Mut, Mut, mein Junge! Das Rasthaus kann nicht mehr weit sein. Dort wollen wir einkehren. Der Sturm wird vorübergehen.«

Die Vision der kleinen Hütte von Basaltblöcken, die er mit Helga betreten hatte, war ihm wie der Traum eines Seefiebers durch den Sinn gefahren. Wie lange Zeit und welche Anstrengungen es ihn kosten würde, dorthin zu gelangen, ahnte er nicht; vor dem jungen Pony hergehend und die Stute neben sich am Zügel führend, erreichte er sie jedoch endlich.

Sobald sie sich unter Dach befanden, fiel der Junge auf seine Knie und begann mit unverständlicher Aussprache, als ob er durch halb zugefrorene Lippen redete, den Glaubensartikel: »Ich glaube an einen allmächtigen Gott« herzubeten. Er dachte, er spräche sein Abendgebet.

Das Rasthaus war nur schlecht versehen, es enthielt aber Heu für die Pferde, und sie begannen sofort es zu kauen. Eine Lampe war nicht vorhanden, und nachdem sie die Türe, um dem hereintreibenden Schnee zu wehren, geschlossen hatten, herrschte eine völlige Finsternis in dem Raume. Nach kurzer Zeit erwärmte der Atem der Ponys die Luft und taute die Kleider der Männer auf. Dies erzeugte große Kälte, und sie mußten, um ihren Körper vor Frostschauer und ihre Zähne vor dem Zusammenklappern zu bewahren, sich mit den Armen unter die Achselhöhlen schlagen.

Darauf, als die Ponys zu schwitzen anfingen, erhitzte sich die Luft, und der Knabe entledigte sich seiner äußeren Kleidungsstücke und legte sich neben dem jungen Pferde nieder, Seite an Seite, als ob es ein menschlicher Gefährte wäre.

Christian Christiansson warf sich auf die für die Reisenden hergerichtete Pritsche und horchte auf den Sturm draußen. Der Wind umheulte und umpfiff die Seiten des Häuschens, und er hatte die Empfindung, als ob der Schnee es tiefer und tiefer umhüllte. Wenn der Sturm anhielt, würde die kleine Hütte bald ganz begraben sein und es ihm schwer oder unmöglich werden einen Weg herauszubahnen.

Das Herz sank ihm. Seine entsetzliche Lage fing an ihn zu beunruhigen. Die teuflischen Elemente würden ihn doch besiegen. Er hatte nur erst die Hälfte seiner Reise hinter sich, und wenn er den Rest nicht vor dem Morgen bewältigte, würden seine Mutter und Magnus und die kleine Elin heimatlos sein. Und doch schien der Sturm nicht nachzulassen; die Ponys waren entkräftet und der Knabe vollständig erschöpft, und weiter zu kommen schien unmöglich.

Plötzlich fuhr ihm ein neuer Gedanke durch den Kopf und er erhob sich und rief:

»Mein Junge, mein Junge! Kennst du den Weg von Borg nach Thingvellir?«

»Ja, Herr,« antwortete des Knaben schläfrige Stimme durch die Dunkelheit.

»Was für eine Art Weg ist es?«

»Schrecklich, Herr.«

»Schlimmer als dieser?«

»Zehnmal schlimmer – über den Hegelberg und an den siedenden Gruben vorbei, Herr.«

»Gott sei gedankt!« sagte Christian Christiansson und legte sich beruhigt nieder, denn er sagte sich, daß derselbe Sturm, der ihn zurückhielt, auch den Kreisrichter zurückhalten müsse und morgen früh keine Versteigerung stattfinden könne.

Der Sturm pfiff und heulte und klagte in der wilden Wildnis draußen, jedoch hatte der Orkan nun seine Schrecken verloren. Der Knabe und das junge Pony waren eingeschlafen und atmeten schwer, die Stute kaute ihr letztes Heu, und Christian Christiansson hatte es sich mit einem Gefühl der Beruhigung für die Nacht bequem gemacht und war gerade dabei, in Bewußtlosigkeit zu versinken, als ein Gepolter auf dem Dach der kleinen Hütte erscholl.

Er schreckte auf und lauschte und wieder hörte er das Gepolter über seinem Haupte. Die Stute hatte ebenfalls das merkwürdige Geräusch vernommen, und mit Kauen innehaltend kam sie wie erschreckt zu ihm herüber und legte ihren Kopf auf seine Beine. Er verwirklichte nicht sofort, daß das Geräusch von menschlichen Fußtritten kam und daß jemand auf dem Dache herumging; sobald er sich dessen jedoch klar wurde, rief er hinaus: wer dort sei, und eine Stimme, die wie aus einem Grabe zu kommen schien, antwortete: »Laßt mich ein.«

Christian nahm die Sättel, mit denen er die Türe versichert hatte, fort und öffnete sie. Er fand draußen noch eine zweite Eingangstüre von dem seit seinem Eintritt gefallenen Schnee wegzuräumen; in kurzer Zeit jedoch hatte er sie mit dem zu diesem Zweck an der Wand hängenden Spaten fortgeschaufelt. Im nächsten Augenblick überschritt ein Mann die Schwelle – ein Mann mit einem Pferd.


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