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Wenige Stunden später fuhr Heinz aus schwerem Schlaf und wüstem Traum unruhig auf. Mit einer Gebärde des Entsetzens und lautem Stöhnen griff er um sich. Das war ja grauenvoll, was er da eben im Traume gesehen hatte!
Er war zu Hause gewesen, im Garten bei seinen Eltern. Vater und Mutter standen neben ihm und waren sehr unglücklich. Es war zwischen ihnen über seinen grenzenlosen Leichtsinn die Rede, über die vergeudeten schönen drei Jahre, die er nun schon in Jena zwecklos zugebracht hatte. Die Mutter war in Tränen aufgelöst; sie hatte allen Glauben, alle Hoffnung auf die Zukunft ihres Sohnes verloren, und der Vater sprach mit finsterem Ernst zu ihm.
Warnend erhob dieser seine Stimme und deutete dann auf den fernen Horizont, wo dräuend eine schwere, dunkle Wolkenwand stand. Seine Worte klangen sonderbar, fast prophetisch, als wollten sie sagen, es nahe dort ein furchtbares Verhängnis heran, das Heinz strafen und vernichten werde für den furchtbaren Leichtsinn, mit dem er sich und sie alle zu Grunde richtete. Mit einer dumpfen, schweren Furcht starrte Heinz nach jener Wolkenwand hin, und siehe da – vor seinen Augen nahm sie immer phantastischere Formen an, ein schreckhaftes Riesengebilde, ein Ungeheuer mit gräßlichem Rachen und weitgeöffneten Fängen wurde daraus, das immer näher und näher herankam, um ihn zu fassen.
Schließlich stand das Entsetzliche dicht vor ihm. Aber nun war es nicht mehr eine Wolke in Untiergestalt, sondern eine furchtbare, bergeshohe, schwarze Meereswelle, die sich mit unheimlichem, dumpf grollendem Donner unaufhaltsam heranwälzte.
Eine wahnsinnige Angst überfiel ihn da plötzlich, daß sie ihn begraben würde in schmetterndem Sturz und mit ihm die Seinen, über die er das Verderben mit heraufbeschworen hatte. Er wollte sie am Arm packen, sie mit sich fortreißen, weglaufen – aber er konnte nicht. Wie festgewurzelt hafteten seine Füße am Erdboden. Voll Entsetzen wollte er schreien, sich an die Eltern klammern, daß sie ihn mit fortziehen möchten, aber auf einmal waren sie weit weg. Nur noch einmal vernahm er aus weiter Ferne des Vaters ernst mahnende Stimme: »Mein Sohn, mein Sohn, kehre um, ehe es zu spät ist!«
Aber es war zu spät! Plötzlich war die Welle da, mit donnerähnlichem Krachen, das rings die Wände erschütterte, brach sie über ihm zusammen in tosend zermalmendem Sturz!
Heinz, der sich im Bette aufgerichtet hatte, fuhr sich mit schwerem Seufzer nach der Stirn. Noch stand da der kalte Angstschweiß, der bei dem furchtbaren Schreckgespenst des Traumes bei ihm ausgebrochen war. Wie entsetzlich lebendig war doch dieser Traum gewesen! Selbst jetzt, wo der helle Tag durch die Fenster schien und ihm sein friedliches Zimmer zeigte, in dem er wohlgeborgen vor all dem Schrecklichen lag, selbst jetzt noch hätte er darauf schwören mögen, daß es Wahrheit sei, was er da vor wenig Sekunden im Traum erlebt hatte. Noch jetzt dröhnte ihm das furchtbare Krachen in den Ohren, noch jetzt meinte er die entsetzliche, erdbebenähnliche Erschütterung an sich nachzittern zu fühlen, die die hereinbrechende Welle hervorgerufen hatte.
Aber wenn es auch nur ein Traum gewesen war, seine Nachwirkung blieb. Mit blassem Antlitz und schwer pochendem Herzen starrte Heinz, den Kopf in die Hand gestützt, vor sich hin; sein ganzes Leben in Jena zog an ihm vorüber. O, nur zu wahr hatte sein Vater im Traume zu ihm gesprochen! Ein verlorenes Leben war es, das er bis zu dieser Stunde hier geführt hatte. Was hatte er in dieser Zeit für sich getan, für seinen inneren Menschen, für sein Wissen, für seine Charakterentwicklung? Nichts, gar nichts!
In Saus und Braus hatte er dahingelebt; von den köstlichen Schätzen reichen Wissens, die er einst von der Schule mitgebracht hatte, war im tollen Treiben der Jahre einer nach dem anderen verloren gegangen, eine wilde Dumpfheit war allein im Kopf zurückgeblieben. Von all den guten Vorsätzen, dem sittlichen Wollen, das ihn einst beseelte, hatte nichts stand gehalten, alle Ansätze zur Einkehr waren immer wieder gescheitert. Selbst das traurige Begebnis mit seinem Freund Schulte, das ihn eine Zeit hindurch wirklich erschüttert und zu einem geregelten Leben und Arbeiten getrieben hatte, war schließlich doch auch wieder in seiner Bedeutung verblaßt und er war allmählich neuerdings in den alten Schlendrian geraten. In bodenlosem Leichtsinn hatte er so weiter in den Tag hineingelebt, unbekümmert darum, was dereinst aus ihm werden sollte.
Und was das schlimmste war, er hatte in diesem Bummelleben völlig die Kraft verloren, noch ernsthaft zu arbeiten, ja überhaupt nur ernsthaft zu streben. Er fühlte es jetzt in dieser Stunde plötzlich mit entsetzlicher Klarheit, wie selbst, wenn er wollte, die Kraft in ihm erloschen war, noch einmal umzukehren. Er konnte nicht mehr – zu spät, zu spät!
Und wieder brach ihm der kalte Angstschweiß am ganzen Leibe aus; es war ihm, als ob sich plötzlich alles um ihn zu drehen beginne, als ob der feste Boden unter seinen Füßen weiche und er tief, tief, unaufhaltsam hinunterstürze ins Verderben! Todesangst packte ihn, als wenn er ersticken müsse, und einem instinktiven Rettungsdrange folgend, sprang er plötzlich von seinem Lager empor. Luft mußte er haben, Luft, sollte er nicht zu Grunde gehen in dieser Stunde, sollte ihn nicht Verzweiflung übermannen!
Mit wenigen Schritten eilte er ans Fenster, das er nun mit zitternden Händen weit aufriß. Ah, wie das wohl tat, die frische Luft sich um die überhitzten Schläfen wehen zu lassen! Aber was war das?
Menschen kamen da plötzlich aus allen Gassen und Häusern gelaufen. Laute Rufe des Entsetzens, des Wehklagens schallten an sein Ohr, und in fliegender Hast eilten die wimmelnden Massen gerade auf sein Haus zu.
Was war denn nur geschehen? Ein Gedanke durchzuckte plötzlich sein Hirn: es mußte im Haus brennen! Es galt also sich zu retten, vor allen Dingen aber zu sehen, wo der Herd des Feuers lag, ob er noch die Treppe zur Flucht benutzen konnte.
Mit zwei Sprüngen stand er an der Tür zum Korridor, riß sie auf, aber – barmherziger Himmel, was war das?
Da, wo ihm gegenüber die Wand des Hinterhauses, der Eingang zu seinem Wohnzimmer, sich sonst immer vor seinen Blicken gezeigt hatte, war jetzt plötzlich eine gähnende Leere, schaute der blaue Himmel herein!
Fast versteinert vor tödlichem Entsetzen starrte Heinz auf das Wunder. War er denn irre, oder war das Wirklichkeit, was er sah? Wo war denn die Wand geblieben, die Decke, das ganze Hinterhaus?
Verständnislos irrten seine Blicke über die Vorflur fort, von der noch mehrere Meter, sowie auch noch der Rest der Treppe erhalten waren. Eine elementare Gewalt mußte das ganze Hinterhaus wie mit einem einzigen entsetzlichen Schlage abgetrennt haben. Da plötzlich fuhr ihm wie ein Blitz der Gedanke durch den Kopf: das Hochwasser! Also es war doch etwas an dem Traum gewesen, der ihn da vor einer Minute so furchtbar aus dem Schlafe gerüttelt hatte: das donnernde, brausende Heranrollen der Wogen, die erdbebenähnliche Erschütterung, die er noch bei wachen Sinnen wahrgenommen hatte, sie waren keine Täuschung gewesen – das Hinterhaus war, vom Hochwasser unterwaschen, in sich zusammengebrochen!
Und da plötzlich ein zweiter, nicht auszudenkender Gedanke, der sich in sein Hirn krallte: sein Gast, Wasilew!
Alles Blut erstarrte Heinz in den Adern, und sein Herz stand still; er glaubte im Augenblick selber tot umsinken zu sollen. Kein Zweifel – dort unter den Trümmern des Hauses lag Wasilew begraben!
Mit kreidebleichem Antlitz taumelte Heinz zurück und klammerte sich halb bewußtlos am Pfosten seiner Schlafzimmertür fest, damit er nicht schwankte und hinschlug. Es war ja, um den Verstand zu verlieren: tot, starr, mit zerschmetterten Gliedern lag da unter den Trümmern des Hauses der Genosse, dem er noch vor drei Stunden in ausgelassener Fröhlichkeit frisch und gesund die Hand gedrückt hatte! Mitten in tollster Lebenslust war er aus dem Dasein hinweggerissen worden, ohne zur Besinnung zu kommen, war er im dumpfen Schlaf dahingerafft worden!
Und wieder ein Gedanke, der Heinz bis ins Mark traf: wenn er dort in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa gelegen hätte, wie er's wollte! Wenn ihn nicht die Höflichkeit des Russen davor bewahrt hätte, so läge jetzt nicht jener, sondern er selbst leblos unter den Trümmern begraben! Und seine Eltern daheim?! – Schien es nicht wie eine Fügung des Schicksals, daß alles so hatte kommen sollen?
Und wieder stand da der Traum vor seiner Seele. Ein furchtbares, ihn zu Boden schmetterndes Gefühl überkam Heinz, ein Gefühl geheimer Angst, voller Scheu vor der furchtbar erhabenen Macht da droben, die die Geschicke der Menschen lenkt. Dieses entsetzliche Unglück, der furchtbare Traum, sollten sie ihm nicht als ein Fingerzeig dienen, als eine letzte, gewaltige Warnung mit Flammenschrift, umzukehren, ehe es wirklich zu spät war?
Mit schwankenden Schritten schleppte sich Heinz in sein Schlafzimmer zurück und brach dort vernichtet auf einem Stuhl zusammen. Das Gesicht in die Hände vergraben; saß er so da und, bis in die tiefste Seele durchrüttelt von der furchtbaren Wucht dieser Stunde, die er zeit seines Lebens nicht vergessen würde, rang sich in seinem zerrissenen Inneren ein Entschluß durch: ja, er wollte auf diese letzte Warnung hören, die ihm zu teil geworden war! Mit dieser Stunde sagte er sich los von seiner Vergangenheit; ein neues Dasein sollte für ihn beginnen, zwar überschattet von dem Entsetzen, das er heute erfahren, aber klar und ernst. Er wußte nun, wo sein Ziel lag und wie er den Weg dazu finden würde.
So starrte Heinz vor sich hin, der Gefahr nicht gedenkend, der er in dem halbgeborstenen Hause ausgesetzt war, bis lautes Geschrei von der Straße ihn aus seinem Brüten aufrüttelte und veranlaßte, ans Fenster zu treten. Unten war inzwischen die Feuerwehr zur Stelle geeilt, und sie traf Anstalten, die noch im Hause befindlichen Einwohner in Sicherheit zu bringen; auch ihm galten nun die Bemühungen der wackeren Leute. Die Treppe war nicht mehr ohne Lebensgefahr zu gebrauchen, so wurde denn die Rettungsleiter angelegt, und wenige Minuten später verließ Heinz Rickmann auf ihren Sprossen die Stätte des Unheils.