Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Heimberufen

Bemooster Bursche zieh' ich aus – ade!
Behüt dich Gott, Philisterhaus – ade!
Zur alten Heimat geh' ich ein,
Muß selber nun Philister sein –
Ade! ade! ade!
Ach! Scheiden und meiden tut weh!«

Ein Komitat! Rasch, Mutter, rasch!«

Das Töchterlein des Schreinermeisters in der Saalgasse rief es eifrig der im Hinterzimmer kramenden Mutter zu, und schnell eilte diese mit ans offene Fenster, wo beide nun neugierig hinausschauten. Wenn irgend ein Studentenaufzug auf der Straße zu sehen war, das war immer ein Ereignis, das man nicht versäumen durfte.

»Da kommen sie schon um die Ecke – von der Kirche her!«

Des Schreiners Töchterlein, das sich weit aus dem Fenster lehnte, hatte recht. Es bog in der Tat eben ein kleiner Zug von Studenten in die Straße ein und kam hier am Hause vorbei.

Aber kein fröhlicher Aufzug war es. Langsam, mit feierlichem Ernst, fast wie ein Trauergeleit anzusehen, kam die kleine Schar herangeschritten, zu zweien und zweien. Nur an der Spitze des Zuges gingen drei in einer Reihe – ein Student, in Mantel und Hut, reisefertig, rechts und links unterm Arm gefaßt von seinen Begleitern.

Fast wie ein Trauergeleit! Und es war ja auch ein solches: Treue Freunde gaben hier einem Scheidenden, der für immer aus Jenas Toren ausziehen wollte, das letzte Geleit – das Komitat. Langsam und gedämpft hallten dazu die Worte des traditionellen, wehmütig-schönen Abschiedsliedes durch die schon dämmernde, stille Gasse:

»Fahrt wohl, ihr Straßen grad und krumm – ade!
Ich zieh' nicht mehr in euch herum – ade!
Durchtön' euch nicht mehr mit Gesang,
Mit Lärm nicht mehr und Sporenklang.
            Ade! ade! ade!
Ach! Scheiden und meiden tut weh!

Ihr Brüder drängt euch um mich her – ade!
Macht mir mein leichtes Herz nicht schwer – ade!
Auf frischem Roß, mit frohem Sang
Geleitet mich den Weg entlang!
            Ade! ade! ade!
Ach! Scheiden und meiden tut weh!

Im nächsten Dorfe kehret ein – ade!
Trinkt noch mit mir von einem Wein – ade!
Und nun, ihr Brüder, sei's weil muß:
Das letzte Glas, den letzten Kuß!
            Ade! ade! ade!
Ach! Scheiden und meiden tut weh!«

Nun war der kleine Zug vor dem Hause angekommen. Voller Interesse blickte das Mädchen im Fenster drunten auf die Vorüberziehenden.

»Sieh doch, Mutter – das ist ja der hübsche Große, der damals bei der Schillerfeier die Fahne trug. Ich besinne mich noch genau darauf!« flüsterte die Tochter eifrig der Meisterin zu. »Ach, wie schade, daß der auch schon weg muß. Und so mitten im Semester – da muß doch irgend was passiert sein. Sieh mal, wie traurig er aussieht! Ach, er kann mir recht leid tun!«

Das Mädchen hatte recht gesehen. Es war in der Tat Helmut Berendt, dem hier seine Vereinsbrüder von der »Freien Germanistischen Vereinigung« das Geleite zur Bahn gaben; denn noch heute sollte er, dem Gebot des Vaters folgend, Jena verlassen, zuerst um auf der Feste Mittweida seine Haft zu verbüßen, dann um nach Erfurt zu gehen und dort in ein kaufmännisches Geschäft einzutreten. Es galt also heut für ihn einen doppelten Abschied: von Jena und vom Burschentum!

Schwer lastete dieses Bewußtsein auf Helmut. In den letzten Nächten war kein Schlaf mehr in seine Augen gekommen, bleich und verstört schritt er so am Arm seiner Freunde dahin. Die Augen hielt er fest zu Boden gesenkt; er fürchtete, daß ihm der letzte Augenblick der trauten Gassen, die er oftmals frohen Muts durchwandert hatte, Tränen entlocken könnte. Zum letzten Male! Wie trostlos, wie sterbenstraurig klang es ihm immer und immer wieder im Ohr! Nie wieder sollte er das alte, liebe Nest sehen, nie wieder die treuen Genossen ernster und froher Stunden da neben ihm! Vorbei war es mit aller Burschenherrlichkeit, aller Wissenschaft – vorbei für immer, immer!

Helmut biß die Zähne zusammen, sein Arm zuckte in dem seines Begleiters; aber schweigend schritt er weiter. Gesenkten Hauptes dahingehend, hatte er auf den Weg nicht geachtet. Nun aber fuhr er plötzlich auf.

Es schien nämlich, als verlangsamten seine Begleiter ihre Schritte. Schnell blickte er auf, und ein leises Zittern durchlief ihn: wirklich, da war er noch einmal vor seinem Hause, wo er so viele glückliche Stunden verlebt hatte, wo ihm so treue Herzen schlugen! Und wahrhaftig, da standen sie ja auch alle noch einmal am Fenster und winkten ihm traurig die letzten, stummen Scheidegrüße zu: die gute, liebe Frau Härtel mit ihrem braven Mann und Lischen, die liebe, kleine Kameradin! Noch einmal blickte auch Helmut zu ihnen hin, sein rechter Arm machte sich frei und erwiderte mit hastigem Gruß das Lebewohl; dann aber blickte er starr geradeaus. Es war ihm dunkel vor den Augen geworden und heiß brannte es darin. Schneller schritt er vorwärts, die Gefährten mit sich ziehend. Vorüber, vorüber, daß alles nur endlich zum Schluß kam!

Und wieder klang der Kehrreim des Liedes:

            »Ade! ade! ade!
Ach! Scheiden und meiden tut weh!«

In einem dunklen Hinterzimmer der Geschäftsräume der Bankfirma Stern & Co. saß Helmut Berendt an seinem Pult. Es stand dicht vor dem Fenster, aber trotzdem lag nur ein trübes, graues Licht über dem Tisch, und hinten im Zimmer mußte während des ganzen Tages die Gasflamme brennen. Das Fenster führte nur auf einen engen, dunklen Hof mit rauchgeschwärzten alten Mauern hinaus, auf den trübselig die matten Scheiben der kasernenmäßig angebrachten Fensterreihen sahen. Kein Baum, kein Strauch verschönte diesen trübseligen Hof des Hauses, das in fast allen seinen Stockwerken geschäftlichen Zwecken diente.

Helmut saß still über seine Arbeit gebeugt und schrieb. Er war nicht allein in dem Zimmer; links von ihm stand noch ein Doppelpult, an dem zwei andere junge Leute der Firma saßen, die ihm aber im Geschäftsalter und Rang bereits voraus waren. Die beiden waren gerade in einer halblaut geführten Unterhaltung begriffen, die sich auf den einen Chef der Firma bezog, der eben nach einer polternden Szene mit dem Buchhalter im Vorderzimmer sich ins Privatkontor begeben hatte, wo hinein man jetzt durch die nur halb geschlossene Tür sehen konnte.

»Potz Blitz, Jacques! Heute hat unser Herr Ignaz Stern wieder einen schlechten Tag.«

»Kein Wunder! Er liegt schief an der Börse; die Britanniahütte steht faul. Soll er wohl auch noch guter Laune sein?«

»Na, die ›Kompanie‹« – der Sprecher winkte mit dem Kopf nach dem Privatkontor hinten, wo man den zweiten Sozius, Herrn Adolf Kleber, gerade bei seiner gewohnten Flasche Rotspohn und einem Lendenbeefsteak beim Frühstück sitzen sah – »läßt sich jedenfalls durch den kleinen Zwischenfall in ihrem Appetit nicht beeinträchtigen.«

Herr Jacques belächelte pflichtschuldigst den Witz seines Mitkommis, der sich nun auch nach Helmut Berendt umsah, um zu sehen, ob auch dieser seiner Witzelei die gebührende Beachtung schenke. Aber der hatte anscheinend von diesem Zwiegespräch gar nichts vernommen, sondern fuhr mit ungeminderter Geschwindigkeit mechanisch über sein Rechnungsformular hin.

»Sie, Berendt – bringen Sie sich doch bloß nicht um,« zischelte der Witzbold zu ihm hinüber. »Sie schmieren ja gerade, als ob Sie's bezahlt kriegten.«

Ein lebhaftes Kichern begleitete diese nicht gerade taktvolle Anspielung auf die Anstellungsverhältnisse Berendts, der als Volontär vorerst ohne jede Vergütung arbeitete.

Helmut sah auch jetzt nicht von seiner Arbeit auf, sondern schrieb ruhig weiter, als hätte er die Bemerkung nicht gehört.

Dieses absichtliche Überhören verdroß die beiden denn auch nicht wenig – waren sie doch sowieso schon schlecht genug auf ihren neuen Kollegen zu sprechen.

»Na, lassen Sie man den ›Herrn Studenten‹ lieber in Ruhe, Max,« riet der mit Jacques angeredete junge Mann dem anderen. »Der ist viel zu fein für uns. Er fordert Sie sonst am Ende noch auf blanke Scheren oder krumme Lineale.«

Abermals kicherten die beiden in hämischer Weise vor sich hin. Die Worte des Herrn Jacques waren diesmal so laut geäußert, daß Berendt sie unbedingt hätte hören müssen. Und er hatte sie auch vernommen; aber dennoch verzog sich auch jetzt wieder keine Miene in seinem Gesicht, er nahm nicht die geringste Notiz von dieser Verhöhnung, sondern schrieb nach wie vor weiter, ohne aufzusehen. Allerdings, wer näher zusah, hätte wohl bemerken müssen, wie die federführende rechte Hand heftig zitterte, so daß es aller Willenskraft bedurfte, um die vorschriftsmäßige kaufmännische Schrift auch weiter einzuhalten.

Die höhnischen Worte hatten Helmut Berendt in der Tat im tiefsten Innern getroffen. Hatten sie doch an den wunden Punkt gerührt, über den er nie und nimmer hinwegkommen konnte, die lange Zeit hindurch, die er nun schon hier im Geschäft tätig war. Über ein halbes Jahr war dies schon der Fall. Da war er nach erledigter Festungshaft, der Anordnung des Vaters folgend, hierher gekommen in das Haus Stern & Co., wo ihm ein Freund des Vaters die Anstellung bewirkt hatte, eine Anstellung, die der Vater nach Lage der Dinge sogar noch als eine günstige bezeichnen mußte. Denn es sollte bereits nach Jahresfrist eine gewisse monatliche Vergütung bezahlt werden und nach dem zweiten Jahre Helmuts Anstellung mit einem kleinen Gehalt erfolgen, von dem er bei bescheidenen Ansprüchen selbständig seinen Unterhalt bestreiten konnte.

Mit dem Bewußtsein, schwer gegen den Willen des Vaters gefehlt zu haben, hatte sich Helmut in seine neue Laufbahn gefunden. Allerdings hatte es nur nach schwerem, monatelangem innerem Kampfe geschehen können, bei dem er ein Stück seines eigenen Ich hingab. Nur blutenden Herzens hatte er sich von dem geliebten Studium losgerungen, mit dem er bereits mit jeder Faser seines Wesens verwachsen war. Aber eine ehrliche und gesunde Natur, wie er war, hatte er ohne jede Verbissenheit oder krankhafte Resignation sich an die neue Aufgabe seines Lebens herangemacht mit dem besten Willen, auch in diesem neuen Berufe sein Bestes zu leisten und Tüchtiges zu erreichen.

Doch nur allzubald hatte er merken müssen, wie schwer ihm das fiel. Es lag allerdings zum großen Teil an dem unglücklichen Umstande, daß die Personen, die er in dem Hause Stern & Co. vorfand und auf die er besonders angewiesen war, sehr wenig angenehm waren. Seine Chefs kümmerten sich gar nicht um ihn, sondern überließen ihn, nachdem sie den Neuling dem Kontorpersonal vorgestellt hatten, der Aufsicht des Prokuristen. Dieser war ein verbissener, nörgelnder Mensch, der zwar seine Pflicht gegen die Chefs ausgezeichnet tat, sich aber ein wahres Vergnügen daraus machte, das Kontorpersonal zu tyrannisieren. Nur wer ihm als dem Allgewaltigen im Hause Stern & Co. schmeichelte, der erfreute sich seiner Gunst. Nun aber lag es ganz und gar nicht in Helmuts Charakter, solche Liebedienerei mitzumachen. Im Gegenteil, in dem Bestreben, stets eine aufrechte Haltung zu zeigen, wurde er alsbald eher etwas unzugänglich und abweisend. So war denn sein persönliches Verhältnis zu dem Prokuristen sehr schnell ein höchst unerquickliches geworden.

Aber auch mit den übrigen Angestellten des Hauses stand Helmut in keinen näheren Beziehungen. Es lag in Helmuts Wesen und in den besonderen Umständen, die ihn hierher gebracht hatten, wohl begründet, daß er mit einem großen Ernst und einer gewissen Zurückhaltung seinen neuen Berufsgenossen vom ersten Augenblick an entgegentrat. Hatte er doch immer das geheime Gefühl, daß man in ihm einen verbummelten Studenten wittere, der anders nicht mehr hatte weiter kommen können und nun hier Unterschlupf suchte und fand.

Diese Zurückhaltung aber wurde ihm von den Kollegen fälschlich für Kälte und Hochmut ausgelegt, und bald war man so mit dem Urteil über ihn fertig. Der »Herr Student« – wie er heimlich nur noch genannt wurde – war eben ein »hochnäsiger« Mensch, der sich für zu gut für das Kaufmannsgeschäft und seine neuen Kollegen hielt. Man legte daher auch ihm gegenüber eine frostige Zurückhaltung an den Tag; ja bald nahm der Ton sogar eine recht wenig kameradschaftliche, gehässige Färbung an, wie es eben der Vorfall mit den beiden Stubengenossen Berendts bewiesen hatte, die allerdings in ihrer ganzen Art Helmut besonders unsympathisch sein mußten.

Diese mißlichen Verhältnisse machten es Helmut einfach unmöglich, sich mit seiner neuen Lebenslage abzufinden. War es ihm doch an sich schon unendlich schwer, sich in das kaufmännische Leben und Empfinden hineinzuarbeiten. Das war eine völlig andere, fremde Welt, in die er hier mit einem Schlage hineinversetzt wurde, eine Welt, in der er sich nur unter sehr kluger Anleitung hätte überhaupt zurechtzufinden lernen.

Immer und immer wieder hatte Helmut indessen versucht, sich zu zwingen, über all die Schwierigkeiten hinwegzukommen, und namentlich die persönlichen Mißverhältnisse in seinem neuen Wirkungskreise stillschweigend zu ertragen. Er hatte das auch bis jetzt durchgesetzt; aber der heutige Tag – wo ihn zum ersten Male Worte offenen Hohnes über seine verunglückte Studentenlaufbahn trafen – ließ zum ersten Male das verzweiflungsvolle Gefühl in ihm aufsteigen, daß die Aufgabe über seine Kraft gehen würde.

Es hatte einer furchtbaren Energieanspannung für Helmut bedurft, daß er vorhin die Verhöhnung der beiden überhörte. Aber das fühlte er nur zu deutlich: ein zweites Mal würde es nicht mehr gelingen – dann kam es zu einem Ausbruch heftigster Art bei ihm. Und seine Folgen?

In Helmuts sich immer mehr verdüsternder Seele jagten sich dunkle, qualvolle Gedanken. In seiner Überreiztheit entwickelte er bereits ein verhängnisvolles Geschehnis aus dem anderen – er sah die Chefs Partei gegen ihn ergreifen, sich selbst darauf heftig sich verteidigen und das Ende vom Liede – man würde ihm einfach den Stuhl vor die Türe setzen! Und dann, was sollte dann werden? Seinem Vater durfte er dann ja nicht wieder vor die Augen treten!

Weg, weg mit solchen Gedanken! Das drohte ihn bloß aufzureiben. Und Helmut beugte sich tiefer über seine Arbeit: Nichts hören und sehen, was um ihn herum geschah, nichts grübeln – nur arbeiten, arbeiten, daß alles sonst um ihn versank! Das war das beste, das einzige, was er tun konnte. – – –

Es war ein Sonntagvormittag. Helmut hatte die ersten Morgenstunden dazu benutzt, einen Spaziergang draußen in den Anlagen zu machen, die sich auf dem früheren Wall der Stadt erhoben. Es war dies der einzige Tag, wo er Gelegenheit zu einer solchen Auffrischung hatte; denn in den Wochentagen rief ihn seine Pflicht schon um acht Uhr ins Geschäft und hielt ihn dort mit der kurzen Unterbrechung in der Mittagszeit bis zum Abend fest. Aber auch dann gönnte sich Helmut nicht den Luxus eines längeren Spaziergangs. Es war ihm empfohlen worden, noch die Stenographie zu erlernen, und so saß er fast jeden Abend zu Haus und übte eifrig diese neue Kunst, wenn er es nicht vorzog, sich aus volkswirtschaftlichen Lehrbüchern allerlei Belehrung zu holen, die er für sein besseres Fortkommen im neuen Berufe für notwendig hielt.

So war denn in Wahrheit nur der Sonntag der Tag, der ihm allein gehörte, und mit ganzem Herzen gab sich Helmut der Muße hin, die er ihm brachte. Jetzt von seinem kleinen Frühspaziergang zurückgekehrt, machte er es sich daheim so behaglich, wie es das bescheidene Stübchen erlaubte. Die beschränkten Mittel, die ihm nur zur Verfügung standen, hatten ihm bloß gestattet, sich im vierten Stock eines großen Wohnhauses bei einer wackeren Schneidersfamilie ein billiges, kleines Zimmer zu mieten. Aber das Stübchen war sauber und freundlich, und die Wirtsleute waren ruhige, anständige Menschen, so daß Helmut den Aufenthalt dort recht erträglich fand.

Heute am Sonntag war er überdies allein zu Hause. Der Meister war mit Kind und Kegel ausgezogen, um den schönen Frühlingstag im Freien zu verbringen. Ebenso hatten es die meisten übrigen Familien im Hause gemacht. So herrschte denn hier heute eine recht feiertägliche Stille, die Helmut nach seiner Art ausnutzte. Er hatte sich den geflochtenen Rohrstuhl, das Prunkstück seiner Einrichtung, ans offene Fenster gerückt, durch das die milde, würzige Frühlingsluft hereinwehte und ihm den süßen Duft der Obstbäume drunten im Vorgarten heraufführte.

So saß Helmut, vertieft in die Lektüre seines Lieblingsdichters.

Plötzlich riß ihn der schrille Klang der Klingel draußen aus der Flur aus seiner Versunkenheit. Er schaute von dem Buche auf, etwas ungehalten über die Störung. Ihm selbst konnte der mutmaßliche Besuch da draußen nicht gelten; er hatte ja niemanden, mit dem er hier Verkehr pflegte. Es war also offenbar jemand, der zu seinen Wirtsleuten wollte, und die waren nicht zu Hause. Also war die Störung völlig umsonst. Er wollte daher den ungebetenen Gast draußen ruhig stehen lassen und sich von neuem in seine Lektüre vertiefen, aber da zog es zum zweiten Male an der Klingel und diesmal sehr kräftig.

Recht unmutig sprang Helmut auf – es half also wirklich nichts, er mußte hingehen und öffnen. Dies tat er denn auch; aber nun, wie er den Riegel zurückschob und die Tür öffnete – welch freudiges Erschrecken! Da stand wahrhaftig kein anderer vor ihm als Heinz, sein alter Jugend- und Studienfreund Heinz Rickmann!

»Heinz, bist du's wirklich?«

»Heinz, bist du's wirklich?« entfuhr es unwillkürlich Helmuts Lippen, und seine beiden Hände streckten sich in freudiger Bewegung dem so unerwarteten und lieben Besuche entgegen.

»Sintemal es nicht mein Geist ist, so werde ich es wohl höchstselbst sein,« rief ihm lachend in altem Frohmut der Gefährte seiner Jugend entgegen und schüttelte ihm kräftig die dargebotene Hand.

»Aber so komm doch 'rein!« Eifrig zog Helmut den Freund zu sich ins Zimmer. »Leg ab, so – und nun in aller Welt sag mir bloß, wie kommst du denn hierher?«

»Na, höchst einfach; natürlich mit der Eisenbahn, geradenwegs von Jene her! Ich hatt' mir schon längst vorgenommen, mein alter Junge, einmal nach dir zu sehen. Aber du weißt ja, wie's im lieben Jena geht: man hat nichts zu tun und doch nie Zeit. So ist's denn lange bei dem guten Vorsatz geblieben. Aber heute morgen habe ich mich denn doch mal aufgerafft und mich auf die Reise zu dir gemacht, denk mal: schon um sechs expreß deswegen aufgestanden, doch eine fabelhafte Leistung, – nicht? So was ist mir seit den seligen Tagen meiner Pennälerzeit wahrhaftig nicht mehr vorgekommen! Ein größeres Opfer konnte ich meiner Freundschaft wirklich nicht bringen!«

»Es wird aber auch voll gewürdigt.« Mit froh strahlendem Antlitz drückte Helmut nochmals dem Freunde die Hand und nötigte ihn dann auf einen Stuhl.

Heinz sah sich indessen im Zimmer um, während er sich mit dem Taschentuche Kühlung zufächelte.

»Ich bin völlig außer Atem. Vier Treppen steigen, das ist man in Jena gar nicht gewöhnt! Armer Junge, ich beneide dich wirklich nicht darum – täglich viermal oder gar noch öfter dies Vergnügen!«

»Ja,« sagte Helmut mit betrübtem Lächeln, sich dem Freunde gegenüber setzend, »hier ist überhaupt so manches anders, als im lieben Jena! Man muß sich eben in die Dinge schicken, wie sie einmal sind.«

»Na, nun aber sag doch vor allen Dingen, lieber Junge, wie geht's dir eigentlich – was machst du denn?« Heinz lehnte sich über den Tisch weg und klopfte dem Freund auf den Arm. »Wie gefällt dir's in deinem neuen Leben – wie?«

Helmuts eben noch so fröhliches Gesicht überschattete sich plötzlich, und kurz ablehnend antwortete er: »Danke, Heinz, aber reden wir nicht davon; es gibt ja Erfreulicheres, und du bist wohl nicht gerade hergekommen, um Trübsal mit mir zu blasen.«

»Armer Helmut, ich kann mir's natürlich denken. Es ist eine verwünscht harte Sache, so umzusatteln; aber – na mit der Zeit wirst du dich schon hineinfinden, nicht wahr?« Helmut nickte nur ernst. »Schließlich kommt man ja über alles weg, und wenn du nachher erst als Bankdirektor im Golde wühlst, paß mal auf, dann lachst du uns alle aus – es sei denn, daß wir kommen und dich zu sehr rupfen wollten!«

Das übermütige Lachen des Freundes rief auch in Helmuts Gesicht das Echo eines leisen Lächelns wach. Sein guter Heinz war doch immer noch der alte, stets voller Tollheiten und Torheiten, das alte, große Kind!

»Ja, ja, magst wohl recht haben!« entgegnete er, auf den scherzenden Ton des Freundes eingehend. »Aber komm, laß uns von was anderem reden – erzähl' mir von Jena! Ich habe so lange nichts mehr von dort gehört.«

»Na, schön, ich habe eine stattliche Menge Neuigkeiten,« erwiderte Heinz, »aber bevor ich den Strom meiner Rede über dich ergieße, gib mir einen Trunk, die trockene Kehle anzufeuchten. Denk doch, ich bin schon seit sechs Uhr auf den Beinen und die lange Eisenbahnfahrt! Also laß mich nicht länger schmachten. Irgend einen trinkbaren Tropfen wirst du doch wohl im Hause haben – nur Wasser nicht! Na, das ist ja doch aber auch eigentlich selbstverständlich.«

Helmut mußte lachen. »Fürchte nichts!« beruhigte er den Freund, »noch bin ich nicht solch Erzphilister geworden, daß ich einem Jenenser Studio zumutete, mit mir in schnödem Leitungswasser anzustoßen!« Er ging hinaus, aus der Küche seiner Wirtsleute ein paar Flaschen Bier und Gläser herbeizutragen.

»So,« zurückgekehrt kredenzte er dem Freunde das gefüllte Glas und ergriff das seine, »dein Wohl, mein lieber Heinz! Herzlich willkommen hier im Lande der Philister!«

»Prost, dein ganz Spezielles!« Mit einem kräftigen Jenenser Schluck, der keinen Tropfen im Glase übrig ließ, tat ihm Heinz Bescheid. Dann aber sah er sich suchend um: »Nun noch einen Tabak, mein Jungchen, dann sind alle meine irdischen Bedürfnisse fürs erste gestillt! Aber halt,« er wies auf die Wand über dem Sofa, »sind das nicht deine alten Jenenser Pfeifen?« Helmut bejahte. »Na also, her damit! Dir eine und mir eine – dann plaudert sich's noch einmal so gut vom lieben alten Nest drunten an der Saale!«

Gern tat Helmut dem Freunde den Willen; so stopften sie sich denn beide die langen Pfeifen mit dem goldgelben Tabak. »Knaster den gelben hat uns Apolda präpariert und uns denselben wohl dediziert!« summte Heinz gemütlich durch die Zähne, während er, schon das Rohr im Munde, langsam die Pfeife ansog und behaglich den weißblauen, duftenden Rauch von sich paffte. »So,« er lehnte sich gemächlich im Stuhle zurück, »nun kann's losgehen – Volldampf voraus! – Also von Jena willst du hören und vermutlich auch von mir, was ich dort treibe, nicht wahr, mein Alter?«

»Ja und recht viel!« bat Helmut.

»Schön! Also Jena steht noch, um dich vorerst darüber zu beruhigen. Es hat im Laufe deiner Abwesenheit vermutlich seine Einwohnerzahl um einige Dutzend flotter Studenten vermehrt und erfreut sich auch sonst noch eines wohlgeordneten Betriebes. Auch Vater und Mutter Härtel sind bei bestem Wohlsein, ebenso Lischen, ihr Töchterlein. Letzteres steht übrigens im Begriffe, sich zu einer richtigen jungen Dame auszuwachsen, und befindet sich zu ihrer Ausbildung in einem Pensionat in Weimar. Auch der alte »Wilhelm« lebt und gedeiht noch immer und ergötzt seine Gäste nach wie vor mit seiner unnachahmlichen Grobheit. Auch alle die anderen Originale Jenas, vom Kämmerkarl bis zum Blumenröschen funktionieren noch unverändert. Was nun deinen verehrten Freund Heinz Rickmann angeht, so ist selbiger noch immer aktives Mitglied einer wohllöblichen Alania und hat es im Laufe der Zeit auf siebzehn Mensuren gebracht. Leider hat diese ebenso ehrenvolle wie zeitraubende Beschäftigung des Aktivseins ihm noch nicht erlaubt, intimere Fühlung mit der Wissenschaft zu gewinnen, wie er tief beschämt gestehen muß.«

Zum Zeichen seiner Zerknirschtheit paffte Heinz umso mächtiger aus der Pfeife und hüllte sein olympisches Haupt in dichte Rauchwolken ein.

»Na, aber halten wir uns nicht länger bei diesem etwas kitzligen Punkte auf,« fuhr er dann fort. »Noch ist ja die blühende goldene Zeit, noch sind die Tage der Rosen, und nur allzu früh wird auch für mich die Stunde schlagen, wo ich an den eigens dazu angebrachten Ernst des Lebens wohl oder übel herantreten muß. Inzwischen habe ich auch wirklich keine Zeit, übermäßig viel über so etwas nachzudenken. Du Mensch! Wir haben bewegte Zeiten hinter uns!« Er rückte mit erwachendem Eifer näher an Helmut heran. »Es hat einen großen Krach zwischen dem Jenenser und Hallenser L. C. gegeben; Kontrahagen und Säbel-P.P.-Suiten sind nur so gerasselt. Auch wir natürlich nicht zu knapp dazwischen! Ich war rausgestellt bei den ersten vier Paar neulich in Jena – habe natürlich abgestochen nach dreieinhalb Minuten! Vielleicht besinnst du dich? Den langen Franke, der früher in Jena bei den Pfälzern aktiv war! Den Juristen, der ewig so grinste! Na, das Lachen ist ihm diesmal beiläufig vergangen. Ich habe ihm einen Mordsriegel reingepfeffert!« In Erinnerung an seine Heldentat lachte Heinz vergnügt vor sich hin. »Aber leider haben wir nicht alle solchen Dusel gehabt; einer von uns hat noch ausgepaukt, die beiden anderen sind leider abgestochen worden. Darunter auch mein Leibbursch, der arme Brendicke, und zwar sehr bösartig! Es ist wirklich eine tragische Geschichte mit dem armen Kerl. Er hätt's ja eigentlich gar nicht mehr nötig gehabt, noch anzutreten. Er stand schon im Staatsexamen – du weißt ja, er war Mediziner und hatte bereits vier Stationen mit der Eins gemacht, großartig, nicht wahr? Ja, er hatte es immer verstanden, ein forscher Student zu sein und doch dabei mordsmäßig zu arbeiten, und nun denk dir das Pech! Er wurde durch einen unglücklichen Zufall in die Sache mit reingerissen, ließ es sich nicht nehmen, sich mit auf P.P. rausstellen zu lassen und erlebte eine fürchterliche Abfuhr. Er mußte in die Klinik – na, und das Ende vom Lied: Daumen, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand steif geblieben, unheilbar – für immer!«

Helmut machte eine Gebärde des Erschreckens.

»Ja – nicht wahr? – ein Pech ersten Ranges! Natürlich muß er nun den ärztlichen Beruf aufgeben – so unmittelbar vorm Ziel! Es war wirklich, um die Bäume rauf zu klettern! Der arme, arme Junge! Das Schlimmste ist, er hat kein Geld. Seine Mutter ist eine arme Witwe, die ihn mit Mühe und Not gerad so weit gebracht hatte.«

»Aber was fängt der Unglückliche denn nun bloß an?« forschte Helmut in tiefstem Mitleid.

Heinz zuckte die Achseln. »Ja, das weiß er selbst noch nicht. Zunächst ist er nach Haus; vielleicht daß sich irgend ein Unterschlupf da für ihn findet. Auf alle Fälle – 'ne verpfuschte Existenz!«

Ein ernstes Schweigen trat ein.

»Doch zu schrecklich!« unterbrach Helmut die Pause. »Ja, ja, das heitere Studentenleben hat doch auch manche recht ernste Schattenseiten.«

Heinz nickte zustimmend. »Hast recht! Das merkt man wahrhaftig, wenn man längere Zeit drin steckt. Habe mitunter schon selbst so das Gefühl gehabt, daß man oftmals nur hart am Rande des Abgrunds vorbeiläuft, und daß man eigentlich einen Heidendusel hat, wenn es immer noch so gut abgeht!«

Wieder trat eine Pause ein und gedankenvoll qualmte Heinz vor sich hin. Dann aber griff er mit einer raschen Bewegung nach seinem Glase, das Helmut inzwischen wieder angefüllt hatte.

»Ach was! Weg mit den Grillen und Sorgen!« Und er tat einen kräftigen Zug. »Schließlich kann man überall Pech haben, wenn es sein soll. Selbst dem bravsten Spießbürger kann ein Dachstein auf den Zylinder sausen und so sein ehrbares Dasein peinlich verkürzen. So was darf einem das Herz nicht schwer machen. Nein, Helmut, wahrhaftig nie und nimmer möchte ich darum das aufgeben, was ich hiermit gewonnen!« Er griff nach dem Farbenband des Bierzipfels an seiner Uhrkette. »Mit Stolz trage ich die Farben hier und ich werde sie tragen bis an mein Ende! Es geht doch nichts darüber, wenn man erst einmal den Geist der Sache richtig erfaßt hat. Gerade das, was ich im Anfang so schwer empfand, das Sichfügenlernen unter ein strenges Gesetz, die völlige Selbstbeherrschung auch in den schwierigsten Lagen, das halte ich nun für das Höchste, dessen der Couleurstudent sich rühmen kann, neben der Erziehung zu frischer Entschlossenheit und dem Beweise persönlichen Muts. Ich habe einsehen gelernt, daß mir damals sehr recht geschehen ist, und jene Lehre, wie so manche andere, die auch nachher nicht ausblieb, ist mir heilsam geworden. Ich habe wirklich in unserem Kreise manches gelernt, das wertvoll fürs ganze Leben sein wird, und darum –« Heinz schenkte sich das Glas voll und hielt es dem Freunde entgegen. »Stoßt an – Jena soll leben, Hurra hoch!«

Auch Helmut ergriff sein Glas und tat dem Freund Bescheid, aber es geschah mit einem wehmütigen Zug im Antlitz. Heinz bemerkte es wohl und rasch sprach er auf den Freund ein.

»Weißt du, mein Alterchen, nun aber haben wir eigentlich genug hier in der Stube gehockt. Sieh, wie draußen die Frühlingsonne lacht und lockt! Komm mit mir, zu einem fröhlichen Bummel draußen in Wald und Flur. Da wollen wir uns Kopf und Herz frisch machen, und nachher trinken wir ein gemütliches Fläschchen. Ich muß doch das Ereignis unseres Wiedersehens nach so langer Zeit gebührend feiern; außerdem leide ich an einem geradezu widerwärtigen Überschuß an Geldern! Da, hör mal« – und Heinz schlug lachend an die Hosentaschen, wo es allerdings für einen Jenenser Studenten unverantwortlich lebhaft klimperte – »da stoßen wir dann an auf unser liebes Jena! Du bleibst ihm, auch wenn du fern bist, doch treu! Nicht wahr, mein Alter?«

Heinz hielt dem Freunde die Hand hin.

»Ja, das weiß der Himmel!« Kräftig schlug Helmut seine Rechte in die Heinzens und hell leuchtete es wieder in seinen Augen auf.

So machten sich die beiden denn schnell fertig und zogen hinaus zu fröhlicher Wanderfahrt, wie einst in den schönen Jenenser Tagen.

 


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