Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Der »grollende Achill«

Heinz Rickmann saß allein im Vorzimmer der Alanenkneipe. Den Kopf in die Hand gestützt, starrte er mit finsterem Gesicht vor sich hin. Nur wenige Schritte weiter, da hinter der geschlossenen Tür, saß der Konvent der Alania über ihn zu Gericht, um abzuurteilen über das schwere Verfehlen, dessen er sich gestern abend auf dem »Wilhelm« schuldig gemacht hatte.

Er war, von einem seltenen Glück begünstigt, wirklich mit heiler Haut in der stockdunklen Nacht gestern nach Jena hinuntergekommen und hatte sich nach Haus begeben, wo er den bereits in tiefem Schlaf liegenden Freund Helmut erregt aus dem Schlummer gerüttelt hatte, um ihm sein übervolles Herz auszuschütten. Nicht lange danach hatte es aber ans Fenster geklopft und sein Leibbursch war erschienen. Brendicke hatte dann noch stundenlang bei ihm gesessen und seinem begütigenden, verständigen Zureden, dem sich auch Helmut anschloß, war es dann wirklich gelungen, Heinz so weit wieder zu beruhigen, daß er von seinem ersten Entschluß abstand, aus der Alania auszutreten, und sich bereit fand, sich der Jurisdiktion des Konvents zu unterwerfen.

Nun fand die hochnotpeinliche Gerichtssitzung da nebenan statt! Und der Fall mußte verzweifelt ernst aufgefaßt werden, denn fast eine Stunde schon mußte Heinz, der als Angeschuldigter während der Beschlußfassung hinausgeschickt worden war, hier im Vorzimmer warten, und oftmals drang von drinnen der Schall erregten Sprechens zu ihm hinaus, ohne daß er indessen die einzelnen Worte hätte verstehen können.

Diese Entwicklung der Sache war nicht nach Heinzens Erwarten. Er hatte sich der Zusprache seines Leibburschen nur in der sicheren Hoffnung gefügt, daß man sein gestriges Verhalten bloß als eine etwas überscharfe Notwehr gegen seinen Bedränger auslegen und daher sehr milde, höchstens mit einem Verweis ahnden würde. Nun aber merkte er, daß man im Konvent der Alania die Sache offenbar anders auffaßte.

Allem Anschein nach hatten sich die meisten auf die Seite Doblers geschlagen und waren mit diesem der Ansicht, daß er als Fuchs ein recht- und schutzloses Individuum sei. So würde man ihn vielleicht obendrein noch gar wie einen schweren Frevler gegen das Couleurgesetz bestrafen. Nun, das fehlte wahrlich noch! Ingrimmig ballte Heinz die Faust. In ihm lebte ein stark ausgeprägtes Rechtsgefühl, das ihn schon von früher Jugend an auszeichnete. Er war ein äußerst gutmütiger und verträglicher Mensch; wenn ihm aber jemand, wie dies gestern geschehen war, an dieses Rechtsgefühl tastete, – so war es aus! Dann brauste es stürmisch in ihm auf, und jede Nachgiebigkeit war verflogen.

So regten sich denn jetzt auch in Heinz finstere, trotzige Gedanken: Wenn ihn nun ein scharfes Strafverdikt traf? Nein, ganz gewiß! Das würde er nicht auf sich sitzen lassen! Lieber ein Ende mit der ganzen unerquicklichen Geschichte, – komme auch da raus was da wolle!

Während Heinz also düster vor sich hinbrütete, fühlte er plötzlich etwas Kaltes, Weiches an seiner Rechten, die er auf das Knie gestemmt hatte; er sah hin und merkte, daß es die Nase des wackeren Leo war, der sich von seinem gewöhnlichen Platz in der dämmerigen Ecke inzwischen erhoben hatte und langsam auf den einsam Sitzenden zugegangen war, den er nun mit traulichem Schwanzwedeln begrüßte und mit seinen klugen guten Augen ansah, als wolle er besänftigend auf ihn einreden.

Die freundliche Annäherung des treuen Tieres verfehlte denn auch nicht die Wirkung auf Heinz. Unwillkürlich klopfte er den mächtigen Kopf des Leonbergers mit seiner Rechten und leise murmelte er dabei, das Tier ansehend, vor sich hin: »Ja, ja, Leo, du bist ein braves Tier! Eine treue Seele – mehr wert, als mancher Mensch, der voller Verachtung auf dich herabblickt.«

Es war, als ob Leo mit seinen klugen Augen in Heinzens Blicken gelesen hätte, denn mit verstärktem Schwanzwedeln schaute er zu ihm auf. Aber noch einer war da, und zwar einer vom Geschlecht der Zweifüßler, das Heinz in dieser bitteren Stunde so verächtlich vorkam, der mit freundlicher Teilnahme auf Heinz blickte – der alte Apel-Franz, der Diener der Alania, der, mit dem Putzen von Tischgegenständen in der Ecke beschäftigt, schon lange schweigend auf den finster brütenden jungen Mann geschaut hatte. Nun plötzlich legte sich seine Rechte vertraulich auf Heinzens Schulter; er fühlte ja so etwas wie eine Art moralischer Verpflichtung dem jungen Füchslein da gegenüber, das er für die Alania hatte einfangen helfen, und gemütlich sprach er also zu ihm: »Na, Herr Rickmann, nu sein Sie man nich zu bange, es wärd se ja nich gleich so schlimm wärde, und ich hab' se ja in die fünfzehn Jahre, wo ich se nun schon bei die Herren Alanen bin, manches mit angesehe und Sie sind ja nicht der ärschte, der se mal so 'ne kleine Sache ausgefresse hat! Passen Sie uff: das wärd se werklich nich so schlimm, und den Kopf könne se Ihne doch wahrhaftig nicht abrieße!«

Eine Hand legte sich vertraulich auf Heinzens Schulter.

Heinz mußte trotz seiner trüben Stimmung lächeln, und gerührt von der herzlichen, wohlwollenden Gesinnung des alten Mannes streckte er diesem seine Hand hin. Der Alte da und der treue Hund zu seinen Füßen, sie bewiesen ihm doch in dieser ernsten Stunde, daß er nicht völlig einsam und verlassen hier war, daß doch auch noch manch wärmeres Empfinden hier für ihn vorhanden war. Er mußte namentlich an seinen treuen Leibburschen Brendicke denken, der sich in so freundschaftlicher Weise seiner angenommen hatte und jetzt auch sicherlich da drinnen für ihn manche scharfe Lanze brach. Ein milderes Empfinden begann da plötzlich in ihm aufzusteigen und mit hellerer Miene sprach er zu dem Alten: »Sie meinen es gut, lieber Apel, ich weiß es. Ich kann mir ja auch selbst nicht denken, daß man irgend etwas Ernsteres mir wird anhaben wollen. Na, wir werden ja wohl gleich sehen, ob Sie recht haben.«

Und Heinz hatte recht; wenige Minuten später ging die Tür auf, und herein trat der jüngste Bursche der Alania. Mit feierlicher Amtsmiene – man merkte ihm die hohe Würde an, hier als Nuntius eines hochwohllöblichen Konvents zu erscheinen – näherte er sich dem Angeklagten und mit einer kurzen straffen Verbeugung, die Mütze vor Rickmann lüftend, sagte er mit offizieller Miene: »Ich bitte dich, vor dem Konvent zu erscheinen!«

Mit klopfendem Herzen stand Heinz auf und griff nach seiner Mütze, die er neben sich auf dem Tisch liegen hatte. Die formelle Haltung dieses Sendboten, der, sich sofort umwendend, ihm voranschritt in den Sitzungsraum, verhieß ihm wenig Gutes. Mit festen Schritten folgte aber Heinz dem andern nach. Sein Entschluß stand unwiderruflich fest: sollte man es wirklich fertig bringen und ihn auch jetzt noch obendrein verurteilen – so wußte er, was er zu tun hatte!

Als Rickmann das Konventzimmer betrat, erhob sich plötzlich unter lautem Stuhlscharren die ganze stattliche Schar der Burschen, aktiver und inaktiver, wohl über zwanzig Mann, und mit ernsten Mienen blickten ihn nunmehr die Augen aller an. Der Anblick der straff dastehenden Burschen, die alle die Mütze vom Kopfe genommen hatten, übte unwillkürlich einen ernsten, ja trotz allen innerlichen Widerstrebens imponierenden Eindruck auf Heinz aus, und als nun der erste Chargierte am oberen Ende der Tafel mit lauter Stimme, mit einem fast feierlichen Tone, das Wort an ihn richtete, da war es dem jungen Fuchs nicht anders zu Mute, als wenn er vor einem richtigen Gerichtshof stände, dessen Vorsitzender ihm nun das Urteil verkündete, dem er mit banger Spannung und pochendem Herzen entgegenlauschte.

»Rickmann!« mit ernster, strenger Stimme, sprach es der erste Chargierte, »ich habe dir im Namen des Konvents mitzuteilen, daß der Konvent sich leider genötigt gesehen hat, eine ernstere Strafe über dich zu verhängen. Es ist zwar nicht verkannt worden, daß dich Dobler in gewissem Sinne gereizt hat, und es ist ferner in Erwägung gezogen worden, daß du noch ein ganz junges Mitglied von uns bist, das in studentischer Zucht und Sitte noch nicht derartig sicher ist, wie es die Alania von denen unbedingt erwarten muß, die die Ehre haben, sich zu ihren Mitgliedern zu zählen. Es ist ferner namentlich auch darauf Rücksicht genommen worden, daß du in offenbar ungewohnter Weise hast trinken müssen und daher nicht mehr im vollsten Maße deine Selbstbeherrschung besaßest. Trotz alledem aber bleibt doch dein Vergehen; sowohl dein aufsässiges Verhalten gegen den Burschen Dobler, wie auch ganz besonders dein unqualifizierbares Benehmen nachher zum Schluß war ein derartiges, daß eine strenge Sühne dafür nicht umgangen werden kann. Es ist eine der vornehmsten Aufgaben einer Korporation, ihre Mitglieder so zu erziehen, daß sie in allen Situationen sich tadellos zu beherrschen wissen, und so wünschen wir denn, daß du die Strafe, die wir dir auferlegen werden, auch so auffassest: als eine dich vielleicht hart treffende, aber doch gut gemeinte Maßregel, um dir die noch fehlende nötige Direktion anzugewöhnen, die die größte Zierde eines Couleurstudenten ist. – Ich habe dir also mitzuteilen, daß der Konvent sich gezwungen gesehen hat, eine Dimissionsstrafe über dich zu verhängen. Die zwangsweise Entziehung unserer Farben, die wir vorübergehend über dich verhängen müssen, wird dich hoffentlich zu dem Bewußtsein bringen, wie schwer du gefehlt hast, als du diese Farben in unbedachtem Auflehnen mutwillig von dir geworfen! Dies Vergehen ist ein so schweres für einen Couleurstudenten, daß, wenn es bei völliger Besinnung geschehen oder von einem älteren Couleurstudenten verübt worden wäre, unbedingt die Dimission in perpetuum über ihn hätte verhängt werden müssen. In Anbetracht aber der vorhin von mir dargelegten Milderungsgründe hat auch der Konvent sich entschlossen, deinem Fall noch einmal eine weniger rigorose Beurteilung angedeihen zu lassen und dich nur mit einer zeitweiligen Dimission auf vier Wochen zu bestrafen. Du wirst bereits wissen, daß es dir in dieser Zeit nicht nur verboten ist, unsere Farben zu tragen, sondern auch unser Haus zu besuchen und überhaupt mit unseren Leuten zu verkehren. Lediglich zum Fechtboden hast du regelmäßig zu erscheinen, natürlich im Hut! Zum Verkehr mit dir in dieser Zeit ist ausschließlich dein Leibbursch Brendicke bestimmt, dessen warmer Fürsprache und günstiger Beurteilung deiner Person – wie ich hier noch besonders hervorheben möchte – du es besonders zu verdanken hast, daß dich eine so relativ milde Strafe getroffen hat. Ich danke!«

Mit einem streng formellen, kaum merklichen Neigen des Kopfes und einer gebieterischen Handbewegung verabschiedete der erste Chargierte den Fuchs in schneidigem Tone.

Rickmann war zum Schluß seiner Worte sehr blaß geworden, aber er hatte die Zähne krampfhaft aufeinander gebissen und seine leidenschaftlich aufbrennenden Augen hatten sich fest in die des Chargierten gebohrt. Es wogte in ihm vor aufbrandender Erregung, und der Sturm in seinem Inneren hatte sich in einer heftigen Erwiderung entladen wollen; aber die gebieterische, kalte Art, in der er soeben verabschiedet wurde – es war ja nicht anders, als ob man ihm die Tür wiese! – schnitt ihm die Möglichkeit dazu ab. So raffte sich denn Heinz mit einem Ruck in die Höhe und, ohne ein Wort zu sagen, machte er scharf kehrt und ging mit eilenden Schritten aus dem Sitzungsraum davon.

 


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