Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Eine mutige Tat

Monate waren ins Land gegangen, schon stand der Herbst vor der Tür; aber noch herrschte eine sommerwarme Witterung, daß man glaubte, im heißesten Juli zu sein. Eine geradezu unerträgliche Schwüle und Trockenheit lastete seit vielen Wochen schon über dem ganzen Lande. Alles lechzte nach Regen, aber er kam nicht. Die schreckliche Dürre, die allenthalben ihren verderblichen Einfluß zeigte, hatte schon vielfach harte Not mit sich gebracht.

Auch in Jena machte sich die Trockenheit fühlbar. Die Saale hatte einen so geringen Wasserstand, wie sich die ältesten Leute dessen nicht erinnern konnten. An der großen Steinbrücke bei Camsdorf war das Bett so ausgetrocknet, daß nur noch hie und da im Steingerölle und Sand des Flußbettes eine kleine Wasserlache sichtbar war, von der das Wasser, unterwegs fast verschmachtend, in einem dünnen Faden zur nächsten Lache hinübersickerte. Den Kindern bot dieses seltene Schauspiel eine Fülle von Vergnügungen. Sie spazierten den ganzen Tag mit bloßen Füßen im Flußbett umher und suchten zwischen den Steinen nach allerlei Fundstücken. Weniger Freude freilich machte den Großen die schreckliche Dürre, mit der eine recht bedenkliche Teuerung fast aller Nahrungsmittel Hand in Hand ging. So herrschte denn im ganzen Lande nur ein sehnlicher Wunsch: Regen, Regen!

Und endlich ging dieser sehnsüchtige Wunsch in Erfüllung, freilich in einer Weise, die das Maß des Gewünschten weitaus übertraf. Furchtbare Gewitter, wahre Wolkenbrüche, gingen unausgesetzt nieder und tobten und rasten mit schrecklich verheerender Gewalt im Saaletal, wie allenthalben im Thüringer Lande. Namentlich auch droben auf den Bergen entfaltete das Unwetter seine verheerende Wirkung. Telegrammeldungen berichteten von fürchterlichen Zerstörungen in den Waldbergen, und bald kamen die ersten Nachrichten von der oberen Saale, daß ein riesiges Hochwasser, wie zu erwarten stand, dort eingetreten sei.

Auch in Jena machten sich die Anzeichen davon bald bemerkbar. Die ausgedörrte Saale füllte im Laufe weniger Stunden plötzlich wieder ihr altes Bett aus, ja sie begnügte sich bald nicht mehr damit, sondern trat rechts und links über ihre Ufer, so daß die ganze Saalaue weithin überschwemmt war und nur die Köpfe der Weiden aus der unabsehbaren Flut herausragten.

Zunächst betrachtete man das Steigen des Flusses noch ohne ernstere Besorgnisse, ja der Jugend machte die Sache sogar reichlichen Spaß. Die Studenten standen zu Dutzenden tagsüber auf der Saalebrücke und blickten über die steinerne Brüstung hinab in die dahinschießenden lehmgelben Fluten, die alle möglichen Gegenstände mit sich führten: Waschbütten, Wäschestücke, hölzerne Zuber, Eimer, eine Beute, die der boshafte Strom unvermutet den ahnungslosen Anwohnern seines oberen Laufes fortgerissen hatte.

Ein Riesenhallo unter diesen vergnügten Zuschauern erregte es, als plötzlich ein Waschfaß angeschwommen kam, aus dem ein klägliches, jammervolles Geheul erschallte. Ein kleiner Hund war durch irgend einen Zufall in dies hölzerne Gefährt geraten, in dem er nun eine unfreiwillige Wasserfahrt machen mußte. Sofort wurde beschlossen, das arme Tier zu retten, und mit langen Stangen gelang es denn auch in der Tat, den kleinen, vierfüßigen Bootsfahrer ans Ufer zu bugsieren und aufs Trockene zu bringen, wo er freudeheulend seinen Lebensrettern den Dank darbrachte. Aber auch andere Beute führte der Strom mit sich, die an die furchtbaren Verheerungen erinnerte, von denen die Zeitungen meldeten. Zahlreiche entwurzelte Obstbäume, Wirtschaftsgeräte, ja selbst Stühle und Tische und anderes Hausgerät kam den Fluß herabgetrieben.

Auch Helmut hatte stundenlang auf der Camsdorfer Brücke zugebracht, das Schauspiel des wild dahinbrausenden Stromes zu genießen. Dann war er nach Hause gegangen, und bald hatte ihn ein tiefer Schlaf die bunten Eindrücke des Tages vergessen lassen. Nun aber fuhr er zu früher Morgenstunde aus seinem Schlummer empor, wo er sonst noch der Ruhe zu pflegen gewohnt war.

War es ihm nicht, als wenn Glockenruf an sein Ohr schlug, ein ängstliches, heulendes Rufen, das ein banges Gefühl in seiner Seele loslöste? Schon dämmerte das erste Morgengrauen ins Gemach, und mit weitgeöffneten Augen lauschte Helmut hinaus – ja, kein Zweifel, es war der schrille Sturmruf der Glocken, der da draußen erschallte! Aber daneben noch ein anderer Laut: ein dumpfes Brausen und Rauschen, dicht an den Mauern des Hauses, fast wie ein entfesseltes Meer. Was war das?

Schnell fuhr Helmut in seine Kleider und eilte dann ans Fenster. Aber schon wie er es aufriß und den Kopf hinaussteckte, sah er, was über Nacht geschehen war: das Hochwasser war mit furchtbarer Gewalt gewachsen und hatte selbst den friedlichen Flutgraben zum Aufruhr gebracht, der sich sonst so träge hier zwischen den Gärten und Häusern dahinschob, im Sommer fast stagnierend. Ein reißender Wildbach war er jetzt geworden, der im tosenden Strudel quirlend seine trüben, milchigen Wassermassen dahinwälzte und hoch an den Häuserwänden emporschäumte, die seinen Weg einzwängten.

Mit einer Mischung von heimlichem Grausen und entzückter Bewunderung starrte Helmut auf dieses seltene Schauspiel. Aber plötzlich, was war das? Wie ein gellender Hilfeschrei aus menschlichem Munde drang es an sein Ohr. Noch einmal lauschte Helmut, den Kopf weit hinausgebeugt. Aber da klang abermals der Schrei, noch viel geängstigter, schier verzweifelt, und nun wußte er's: der Hilferuf dort drang aus dem geräumigen, massiv gebauten Pavillon des Härtelschen Gartens; es war die Stimme Lischens, die gerade hier zu Besuch bei den Eltern weilte und, wie immer im Sommer, an diesem bevorzugten Plätzchen ihr Quartier aufgeschlagen hatte.

Ein furchtbarer Schreck ließ Helmut das Herz im Augenblick stocken. Es fiel ihm plötzlich auf die Seele, wie tief der Pavillon lag, ganz unten am Wasser. Er mußte ja von dem furchtbar angeschwollenen Graben fast schon überflutet sein. Es galt also keine Minute zu verlieren. Wie er ging und stand, sprang Helmut aus seinem Parterrezimmer hinaus in den Garten und eilte zum Pavillon.

Mit einem Blick übersah er sofort die ganze Lage. Der tiefer liegende Teil des Gartens war in einen einzigen See verwandelt, in dem das Wasser weit über einen Meter hoch stehen mochte. Und diese wild entfesselte Flut umspülte brandend das Gebäude, in dem Lischen weilte. Nun konnte er auch erkennen, wie sie drinnen hinter dem Fenster verzweifelt die Hände rang und mit entsetzten Gebärden um Hilfe schrie.

Mit lauter Stimme rief ihr Helmut ein paar tröstende Worte hinüber. Dann sprang er in wilden Sätzen ins Wasser hinein, durch die aufspritzenden Fluten seinen Weg zum Pavillon nehmend. In zwei Minuten war er dort. Das Wasser reichte ihm bis an die Brust hinauf, als er am Pavillon angelangt war. Er wollte die Tür aufreißen, aber der gewaltige Druck des Wassers ließ es nicht zu. So mußte er denn auf andere Weise Hilfe schaffen. Es blieb nichts weiter übrig, als eines der Fenster einzuschlagen. Er schwang sich also an der Wand des Pavillons empor und – es gab ja nicht viel Zeit zu verlieren – mit einem Fausthieb gegen das' Kreuz des Fensters zertrümmerte er dieses, daß die Scheiben klirrend in das Innere des Pavillons fielen.

Helmut griff, einer blutigen Verwundung nicht achtend, die er sich zugezogen hatte, durch das Fenster und entriegelte es. Im nächsten Augenblick war er drin bei Lischen. Die Angst, in der das Mädchen sich befand, versiegelte ihr den Mund; sie klammerte sich nur verzweifelt an ihren Retter. Was mochte sie ausgestanden haben, hier über Nacht vom Hochwasser überrascht, wo alle ihre Hilferufe bisher ungestört im Tosen und Gurgeln des Wassers verhallt waren!

Aber es war jetzt nicht die Zeit zu langen Worten. Helmut nahm das Mädchen und half ihr, sich auf die Fensterbank schwingen, denn sie mußten diesen Weg ins Freie wählen, da sich die Tür nicht öffnen ließ. Furchtbar war der Druck des Wassers gegen die Wände des Hauses, in dem mehrfach bereits eine erschütternde Bewegung zu spüren war. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn Lischen hier noch länger hätte verweilen müssen! Das Haus konnte offenbar dem wilden Andrängen des Wassers nicht mehr standhalten. Also vorwärts denn! Mit einem Satz war Helmut wieder draußen und griff nun nach Lischen, die er nach Möglichkeit hoch emporhob, so daß sie nur wenig von den Fluten umspült wurde. So trug er seine Last durchs Wasser und hinüber nach dem schützenden Hause.

Helmut trug seine Last in das schützende Haus.

In der Aufregung des Rettungswerkes hatte Helmut kaum empfunden, wie schneidend kalt das Wasser war, so eisig, daß es ihm im ersten Augenblick fast den Atem benahm. Aber nun, wo die Gefahr hinter ihnen lag und das Mädchen gerettet im Hause der Eltern war, begann er plötzlich einen heftigen Frost am ganzen Körper zu spüren, der ihn an allen Gliedern schüttelte und die Zähne gegeneinander schlagen ließ. Doch was tat das? Ein Menschenleben war ja glücklich gerettet, und ein wenig von der Dankesschuld gegen die gute Familie Härtel hatte er abtragen können!

 


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