Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

In schwerer Schuld

Schulte harrte in seiner Wohnung dem Bescheide entgegen, den ihm Rickmann bringen wollte. Das Wohnzimmer Schultes – er hatte außerdem noch ein anstoßendes Schlafkabinett gemietet – zeigte eine für Jenenser Studentenverhältnisse auffällige Eleganz. Teppiche und Felle bedeckten den Fußboden, eine Chaiselongue und ein Schaukelstuhl vervollständigten die Einrichtung, an den Wänden waren zahlreiche Couleurembleme und sonstige Dekorationsgegenstände angebracht. Einen besonderen Schmuck des Wohnzimmers hatte die erwähnte wertvolle Garnitur aus Hirschgeweihen gebildet: Kronleuchter, Sessel, Schreibutensilien, Rauchservice und ähnliche Gebrauchsgegenstände, alle mit dem Alanenwappen und ‑farben geschmückt.

Mit bitterem Ausdruck flogen Schultes Blicke, wenn er ab und zu aus seinem dumpfen Brüten auffuhr, über den ungewöhnlichen Studentenluxus. Wie schneidend kontrastierte dieser erborgte und verlogene Glanz mit seiner gegenwärtigen Lage! Kein Gegenstand in diesem Zimmer war in Wahrheit sein eigen; alles war von den Lieferanten auf Kredit genommen, alle hatten ja an den reichen Vater daheim geglaubt und sich durch das kavaliermäßige Auftreten des eleganten jungen Menschen bewegen lassen, ihm unbedenklich die besten Waren ihres Geschäfts ins Haus zu senden. Ja, man begnügte sich nicht nur damit, ihm die gewünschten Gegenstände ohne weiteres zu »verkaufen«, sondern man hängte ihm noch dies und jenes auf, das er ursprünglich gar nicht hatte erwerben wollen.

So hatte sich denn im Laufe der Jahre diese elegante Wohnungseinrichtung in Schultes Räumen zusammengefunden, um die er so oft von den bescheideneren Couleurbrüdern beneidet worden war. Ja, wenn sie wüßten, wie es in Wahrheit um ihn stand! Wie bald vielleicht all der Plunder hier unter den Hammer kommen und das Unheil über ihn, den leichtfertigen Borger, zusammenschlagen würde!

Zum ersten Male in seinem Leben kam Schulte recht zum Bewußtsein, was für ein fürchterliches Scheinleben das war, das er geführt hatte. Es war denn doch ein großer Unterschied zwischen der Art, wie wohl hie und da ein Student einmal einen Kredit in Anspruch nahm, und seinem, Schultes System, von anderer Leute Geld zu leben – ein System, das wirklich nicht mehr viel verschieden war von dem eines abenteuernden Glücksritters, wie es ihm selbst jetzt in seiner Verzweiflung erscheinen wollte. Denn wenn er sich bisher leichtsinnigerweise mit dem Gedanken beruhigt hatte, er würde in Zukunft einmal in der Lage sein, alles wieder zurückzuerstatten, so zeigte ihm doch die heutige Stunde mit ihrem furchtbaren Ernst, auf wie tönernen Füßen dieses Hoffnungsgebilde gestanden hatte! Ein Windhauch konnte es umblasen und eine furchtbare Angst packte ihn plötzlich. Wehe ihm, wenn das geschah, wenn jetzt durch das unselige Vorkommnis seine fragwürdige Existenz womöglich die Gerichte beschäftigen würde! Dort würde man kein Verständnis mehr haben für seine leichtsinnige Art, das Leben aufzufassen.

Stöhnend fuhr sich Schulte zum Hals und riß sich am Kragen, er glaubte ersticken zu müssen. Wie war es denn nur möglich gewesen, daß es so weit mit ihm hatte kommen können? Wenn er zurückdachte an vergangene Zeiten – er war doch wirklich kein schlechter Mensch gewesen! Bis zum Abgang vom Gymnasium lag überhaupt sein Leben vorwurfsfrei vor ihm, aber dann begann es bergab mit ihm zu gehen. Der plötzliche Übergang aus der strengen Zucht der Schule in die berauschende Freiheit des akademischen Lebens hatte ihm den Kopf verwirrt, die Sinne umnebelt; er war trunken geworden im Freiheitsrausch.

Er hatte andere in fröhlichem Leichtsinn dies und jenes machen sehen, was ihn reizte es nachzutun, ja es noch zu übertreffen, und so hatte er sich denn immer mehr hineingelebt in die unselige Rolle, die er schließlich spielte. Es hatte seinem Ehrgeiz geschmeichelt, wenn er von den anderen angestaunt wurde wegen seiner kostspieligen und extravaganten Neigungen. Ha, wie er jetzt diese lächerliche Eitelkeit verwünschte!

Was war all der glänzende Tand, dieses verlogene Luxusleben wert, dem er die Ruhe seines Gewissens, seinen ehrlichen Namen geopfert hatte?! Ein ingrimmiger Zorn über sich selbst brannte plötzlich in ihm auf und über die anderen, die ihn mit ihrem unbedachten Beifall in seinem verhängnisvollen Treiben noch bestärkt hatten. Ach, wenn es das Schicksal doch noch einmal gnädig mit ihm meinen wollte! Er würde gewiß von dieser Stunde an ein anderer Mensch werden, mit eisernem Fleiß arbeiten, um bald sein Studium abzuschließen und in die Lage zu kommen, später aus eigenem Verdienst alle Schulden ehrlich wieder abzutragen!

Schultes Hände rangen sich wie in einem stummen verzweifelten Flehen ineinander, und sein Blick starrte sehnsüchtig, inbrünstig vor sich hin.

So traf ihn Heinz, als er eine Stunde später wieder bei ihm eintrat. Das Bild des verzweiflungsvoll in sich zusammengesunken Dasitzenden, der erst beim Öffnen der Tür mit einem unbeschreiblichen Blick scheuer Angst auffuhr, brannte sich in Heinzens Seele ein. Im Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke: so oder ähnlich wirst auch du vielleicht einst sitzen, wenn du's weiter treibst wie bisher, wenn auch von dir sich die Hand der Eltern abwendet!

Aber es war jetzt nicht an der Zeit, diesen Gedanken weiter zu spinnen, denn Schulte fuhr in höchster Erregung auf ihn los, und seine Augen hingen mit verzehrender Ungeduld an Heinzens Mund. Der sollte ihm ja die mit pochendem Herzen erwartete Entscheidung bringen.

»Alles gut!« rief ihm Heinz hastig entgegen, um dem Unglücklichen gleich mit dem ersten Wort die tröstende Gewißheit zu verschaffen. »Der Russe gibt dir das Geld!«

»Dem Himmel sei gedankt!« Mit unterdrücktem Jubel stieß Schulte die Worte hervor und preßte gewaltsam Heinzens Hand. »Aber so sag doch nur, wie ist dir's gelungen? Ist's denn wirklich wahr? Kann ich mich wahrhaftig darauf verlassen?«

»Du kannst dich fest darauf verlassen,« versicherte Heinz. »Morgen früh hast du das Geld, sobald der Bankier öffnet. Herr Wasilew hatte im Augenblick nicht so viel Bargeld bei sich, sonst hätte er mir sofort den Betrag überreicht.«

»Und du hast dich für mich verbürgt?«

»Der Russe hat auf jede Bürgschaft verzichtet; er erklärte lachend, daß er verborgtes Geld grundsätzlich als verlorenes Geld ansehe. Im übrigen sei seine Auffassung die: entweder der Borger sei ein Ehrenmann, dann würde er das Geld, sobald er könne, auch ohne jede Bürgschaft zurückzahlen; oder er sei es nicht – na dann!« Heinz zuckte bezeichnend die Achseln. »Außerdem erklärte Herr Wasilew, er freue sich, seinem Freunde Helmut endlich einmal einen Gefallen tun zu können; denn nur Berendt zuliebe hat er sich natürlich auf die Geschichte eingelassen.«

»Rickmann, wie soll ich dir nur danken, dir und deinem Freunde? Wie soll ich je im Leben das wieder gut machen?« Mit zitternder Stimme und tränenden Augen griff Schulte abermals nach den Händen Rickmanns.

Eben wollte Heinz in jenem Sinne erwidern, den er sich vorhin zurechtgelegt hatte, da tönte unten von der Straße ein heller, lockender Pfiff – das ihnen so wohlbekannte Zeichen der Alanen.

Heinz fühlte, wie die Hand Schultes in der seinen plötzlich erzitterte, eiskalt wurde und sich dann in jäher Bewegung von seiner Rechten löste, und auch Heinz selbst spürte, wie es ihn jetzt in diesem Augenblick mit einem geheimen leisen Erschauern überrieselte. Er konnte sich keine Rechenschaft abgeben, warum; aber es war so.

Einen Augenblick standen beide wortlos da, nur ihre Augen suchten einander mit einem langen, verständnisvollen Blick; in Schultes Augen flackerte zugleich eine bange Angst auf.

Da tönte draußen zum zweiten Male der Pfiff. Heinz machte eine Bewegung, um ans Fenster zu treten, aber instinktiv faßte ihn Schultes Hand, um ihn daran zu hindern.

»Nicht! Ich bin nicht zu Hause,« und er machte Miene, in seine Schlafstube hinüberzueilen.

Da traf ihn ein stummer, doch umso beredterer Blick Heinzens; es lag darin fast etwas wie Verachtung. Der andere erschien ihm in diesem Augenblick, wie er sich angstvoll davonschleichen wollte, so feig, so erbärmlich! Heinz fühlte es in diesem Augenblick: was auch je mit ihm geschehen sollte, eines wußte er gewiß, er würde nie feige der Verantwortung entfliehen! Aufrecht würde er hintreten vor jedermann und seine Schuld vertreten! Und ohne ein Wort des Grußes an Schulte, der inzwischen an der Tür zum Schlafzimmer angekommen war, ging er hinaus.

Schon auf dem Treppenabsatz begegnete Heinz dem Couleurbruder, der unten gepfiffen hatte, dem zweiten Chargierten Bergmann, der jetzt mit eiligen Sprüngen die Treppe heraufkam. Bergmann war ein alter Widersacher von Schulte; daher überschlich Heinz jetzt von neuem ein dunkles Ahnen, daß dessen plötzliches Kommen Unheil für Schulte bedeute.

»'n Abend! Schulte ist doch zu Haus?« begrüßte Bergmann, noch ein paar Stufen tiefer stehend, den ersten Chargierten.

Heinz schwieg, unschlüssig, was er tun sollte. Er mochte den oben nicht verraten, anderseits widerstrebte es ihm aber aufs heftigste, sich durch ein Verleugnen Schultes gewissermaßen zum Mitschuldigen zu machen.

Aber ehe er noch eine Antwort gegeben hatte, sagte Bergmann selbst, indem er schnell zu ihm heraufkam: »Ich konnte es mir eigentlich schon denken; sein Wohnzimmer war ja hell,« und, an Heinz vorüber, trat er jetzt auf die Zimmertür zu, die er nach flüchtigem Anklopfen öffnete.

Unwillkürlich blieb Heinz stehen und schaute Bergmann nach, wie er in das erleuchtete Wohnzimmer Schultes eintrat. Was würde nun wohl geschehen?

Aber Bergmann zauderte nicht lange. »Ach so, er ist nebenan,« setzte er gleich als selbstverständlich hinzu und öffnete auch schon die Tür zum Schlafzimmer. Schulte hatte noch nicht Zeit gefunden, die vor ihm stehende Lampe auszudrehen; so sah er sich denn plötzlich Bergmann gegenüber.

»Gut, daß ich dich zu Hause treffe,« begrüßte ihn ohne weiteres der Chargierte, seine Mütze abnehmend. »Ich habe dich in dringender Sache zu sprechen, die meiner Ansicht nach keinen Aufschub erleidet.«

Schulte zuckte zusammen, aber schnell faßte er sich wieder.

»Und, bitte, um was handelt es sich?« Er suchte seinen Worten einen möglichst unbefangenen Klang zu geben, aber dennoch hörte Heinz deutlich die große innere Erregung aus der Frage heraus.

»Mir ist da eben etwas höchst Merkwürdiges begegnet,« klangen scharf die Worte Bergmanns, während er Schulte fest ins Auge faßte. »Wie ich beim Trödler Schnerber in der Vorstadt zufällig vorübergehe, sehe ich – ich denke, ich darf meinen Augen nicht trauen – eine schöne Zimmereinrichtung aus Hirschhorn im Schaufenster stehen, genau so, wie die deine, die doch jeder von uns nur allzugut kennt. Ein weiterer Blick zeigt mir, daß es eine Couleurausstattung ist mit Wappen, Schildern und Zirkeln. Die Entdeckung, ein solches Mobiliar dort unter dem alten Trödlerkram zu sehen, macht mich stutzen; ich trete näher und entdecke zu meiner höchsten Überraschung, daß es unsere Farben sind, daß dein Mobiliar dort beim Trödler prangt! Bist du im stande, mir eine Aufklärung hierfür zu geben?«

Schulte war bei den Worten Bergmanns erblaßt; jetzt suchte er sich zwar zu fassen, aber seine Worte kamen doch nur stockend von den Lippen.

»Ein unglückseliger Zufall,« murmelte er. »Ich war in Geldverlegenheiten – das Mobiliar war verpfändet und durch ein Versäumnis meinerseits – aber ich habe bereits alle erforderlichen Schritte getan,« fuhr er dann schneller fort. »Schon morgen früh sind die Sachen wieder in meinem Besitz.«

»Aber sie haben heute den ganzen Tag über zur Parade im Schaufenster gestanden! Unser Couleurwappen als Trödelkram öffentlich ausgestellt! Wahrhaftig ein erhebender Anblick!«

»Ich bedaure dieses Vorkommnis selber aufs tiefste,« versicherte Schulte, »du kannst mir glauben, daß es mir entsetzlich peinlich ist.«

»Damit wird an der Sache leider nichts geändert,« stieß Bergmann hart hervor. »Es ist geradezu ein Skandal, daß derartiges vorkommen konnte, und es gibt einfach keine Entschuldigung dafür. Eine solche Bloßstellung der Couleur ist noch nicht dagewesen! Na, du wirst selbstverständlich die Folgen deines Verhaltens zu tragen haben,« und Bergmann wollte sich mit feindseliger Miene zum Gehen wenden.

In Schultes Zügen malte sich der innere Kampf, der ihn in diesem Augenblick hin und her riß. Ein rasender Haß lohte in ihm gegen den alten Widersacher auf, der jetzt diese nur allzu willkommene Gelegenheit benutzen wollte, um ihm zu Leibe zu gehen. Auf der anderen Seite aber trieb ihn die Furcht vor den Folgen dieser Entdeckung dazu, den Versuch zu machen, von Bergmann Schonung zu erlangen.

Endlich siegte diese dumpfe Furcht und bittend sprach er: »Bergmann, wir haben uns bisher zwar nie besonders freundschaftlich gegenübergestanden; aber dennoch bitte ich dich jetzt in dieser Stunde herzlich: gehe nicht vor den Konvent! Es ist ja nur ein unglückseliger Zufall, daß du heute bei Schnerber vorbeigehen mußtest! Wäre es nicht geschehen, weder du noch irgend sonst ein Mensch hätte überhaupt jemals erfahren, daß die Sachen für ein paar Stunden dorthin gekommen sind; ich gebe dir mein Ehrenwort, schon morgen früh ist alles wieder in Ordnung. Also von einer Bloßstellung kann wirklich kaum die Rede sein. Ich bitte dich inständigst, behalte deine Entdeckung für dich und schweig zu unseren Leuten darüber; ich will es dir aufrichtig danken.«

Bergmann machte eine entschieden abwehrende Bewegung. »Bedaure! Ich sehe mich durchaus nicht in der Lage, deinem Wunsche zu entsprechen. Erstens, wer weiß, ob nicht schon ein anderer von unseren Leuten oder ein fremder Couleurstudent die Sachen bemerkt und das Gerücht davon in Umlauf gesetzt hat. Aber auch abgesehen davon, meine Pflicht gegen die Alania zwingt mich, eine derartige unentschuldbare Handlung unter allen Umständen zur Kenntnis des Konvents zu bringen.«

Schulte hob bittend seine Hände. »Bergmann, du ahnst nicht, was auf dem Spiele steht! Wenn ich dir alles sagen könnte! Diese Sache kann der Stein sein, der eine Lawine ins Rollen bringt; meine ganze Existenz, meine Zukunft kann vernichtet werden! Ich kann dir das alles im Augenblick nicht so auseinandersetzen; aber frage Rickmann, er wird es dir bestätigen: meine ganze Zukunft hängt davon ab! Hab' doch also Mitleid mit mir!«

Nur mit schwerster Selbstverleugnung hatte sich Schulte dem verhaßten Gegner gegenüber diese Bitte abgerungen, aber jener blieb kalt und mitleidlos. Er sah, hochmütig sich aufreckend, mit einem kalten Blick auf Schulte nieder. »Ich bin doch kein Kautschukmann! Was einmal meine Überzeugung ist, daran halte ich fest. Also, ich werde selbstverständlich dem Konvent Anzeige machen,« und formell grüßend setzte sich Bergmann die Mütze auf den Kopf und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

 


 << zurück weiter >>