Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Einzug in die Musenstadt

Nach kurzer Wanderung, die sie auf einem äußeren Straßenzug um die Stadt herumgebracht hatte, waren die Freunde am Bahnhof zu Jena angelangt und machten sich nun daran, dort nach ihrem Gepäck zu forschen, das mit der Bahn vorausgegangen war.

Während sie noch vor dem Gepäckschalter standen, näherte sich ihnen plötzlich ein freundlich dreinblickender, wohlbeleibter Mann mit graugelocktem Haar und behäbig-rötlichem Antlitz, das von einem gesunden Durst zeugte, und zog grüßend seinen Hut: »Guten Tag, meine Herren, darf ich mir vielleicht erlauben, Sie behilflich zu sein? Die Herren sind doch gewiß Studente und woll'n ihr Gepäck nach der Stadt geschafft ham?«

Heinz und Helmut waren erfreut, daß sich ihnen auf diese Weise eine willkommene Hilfe bot, und nahmen die bereitwilligen Dienste des Alten an, der ihnen nun bei der Auslieferung des Gepäcks behilflich war, das dann von ihm auf den draußen bereitstehenden Schubkarren verladen wurde. Sie hielten den freundlichen Mann für einen Kommissionär, zu dessen Obliegenheiten die Beförderung von Gepäck gehörte, eine Annahme, die ja auch sehr naheliegend war. Hätten sie indessen die gelegentlichen Blicke des Einverständnisses bemerkt, die der behäbige Alte unter verschmitztem Lächeln mit ein paar Herren in roten Mützen wechselte, die in einer Ecke der Bahnhofshalle unter anderem Publikum standen, so wären ihnen wohl einige besondere Bedenken gekommen. Jedoch die beiden waren zu sehr mit der Beförderung ihres Gepäcks beschäftigt, als daß sie darauf geachtet hätten. So vertrauten sie sich denn unbedenklich der Führung des Mannes an, der, während er nun mit seiner Schubkarre dicht am Rande des Bürgersteiges neben ihnen hertrottete, alsbald mit großer Redseligkeit eine Unterhaltung mit ihnen eröffnete.

»Die Herren suchen doch gewiß auch e Logis?« Die Freunde nickten bejahend. »Haben de Herren schon irgend was in Aussicht genommen?« Die Frage wurde verneint. »Nu, da kann ich Se e scheenes Budche empfehlen, e feines Budche. Da wer'n de Herren emal gut aufgehoben sein.«

Die Freunde waren damit einverstanden, daß der Alte ihnen auf diese Weise das Geschäft des Wohnungsuchens in der ihnen völlig unbekannten Stadt erleichtern wollte, und so folgten sie ihm denn zu dem von ihm vorgeschlagenen Haus. Dieses lag an einem kleinen Vorflutgraben der Saale, der sich durch die Vorstadt schlängelte und ein kleines Eiland umschloß, von zum größten Teil älteren malerischen Häuschen besetzt, die in üppigem Grün verwilderter Gärtchen anheimelnd dalagen. Das von ihrem Führer empfohlene Haus zeichnete sich indessen durch ein sehr stattliches Ansehen vor seinem Nachbarn aus. Es machte fast den Eindruck eines Patrizierhauses mit seinen zwei Stockwerken und den blinkenden Fenstern, hinter denen allenthalben freundliche Blumentöpfe zwischen den weißen Gardinen hervorgrüßten.

»Das Haus geheert Se dem Herrn Ziegeleibesitzer Härtel, des is Se e reicher Mann; der hat Se draußen bei Löbstadt ene große Ziegelei, aber er wohnt hier in der Stadt. Er hat auch 'nen Sohn, der selber studiert hat und nu e Referendar is, un daderum is die Wohnung, die der junge Herr früher bewohnt hat, nu zu vermieten, weil se sonst leer is. Des is Se e feines Budche, sag' ich Se, so was Scheenes kriegen Se in ganz Jene nich wieder. Des is Se blos so 'ne Gelegenheit, heern Se.«

Und sehr stolz auf diese günstige Gelegenheit, die er so seinen beiden jungen Freunden hier verschaffen konnte, klingelte der Alte mit Gönnermiene an dem blitzblank geputzten Griff der Hausglocke. Ein lautes Schellen dröhnte durch die Hausflur und alsbald erschien ein sauberes Dienstmädchen, das nach einigen erklärenden Worten des Alten die drei in ein Zimmer linkerhand von der Hausflur eintreten ließ mit dem Bemerken, sie werde gleich Frau Härtel rufen. Einstweilen sahen sich die Freunde in diesem Raum um. Es war ein großes, schönes Zimmer mit Plüschmöbeln und gutem Nußbaummobiliar, richtig wie ein Salon ausgestattet; zwei Türen führten aus diesem Zimmer in die anstoßenden Räume.

»Das is Se das Logis,« sagte der Alte und blickte die beiden Studenten triumphierend an. »Nu, was hab' ich Se gesagt, das is doch e Staatsbudche!«

»Großartig, wirklich tadellos,« brach Heinz Rickmann in ehrliche Bewunderung aus, Berendt aber setzte etwas beklommen hinzu: »Die werden wir aber nicht bezahlen können. Die wird gewiß sehr teuer sein.«

»Ach, das is Se nich so schlimm,« tröstete der Alte. »Die Frau Härtel wird schon mit sich reden lassen. Das is Se äne sehr leitselige Frau.«

Und er hatte recht. Gleich darauf trat die Frau Ziegeleibesitzer selbst ein, eine stattliche Vierzigerin von echt frauenhaftem, mütterlichem Aussehen. Mit freundlichem Lächeln begrüßte sie die beiden jungen Leute, die sich respektvoll vor ihr verneigten.

»Ich höre, meine Herren, Sie kommen wegen des Logis?«

»Ja allerdings, gnädige Frau,« erwiderte Rickmann, »aber –«

»Das heißt, wir wollten uns zunächst einmal erkundigen,« fügte Helmut Berendt etwas stockend hinzu.

Frau Härtel lächelte gutmütig; sie schien zu ahnen, was die beiden jungen Leute bedenklich machte.

»Nun sehen Sie sich doch erst einmal die Räume an, meine Herren,« sagte sie liebenswürdig und ging ihnen voran nach dem ersten der anstoßenden Zimmer, indem sie ihnen die Tür öffnete. »Hier, das war das Arbeitszimmer meines Sohnes, das würde aber nun wohl als Schlafzimmer für einen der Herren eingerichtet werden müssen.« Es war gleichfalls ein schöner großer und heller Raum, der sich da vor ihren Blicken öffnete, mit einer prächtigen Aussicht auf den Garten des Grundstücks.

Dann schritten sie der Hausfrau nach in das dritte Gemach hinüber, das bereits jetzt schon als Schlafstube möbliert war, eine etwas kleinere Stube, deren helle Fenster aber einen entzückenden Ausblick auf den erwähnten Flutgraben boten. Es war förmlich ein kleines Venedig, das hier vor den Blicken auftauchte. Zu beiden Seiten des dunklen, lautlos dahinfließenden Wassers standen altersgraue Bauten, zum Teil auf Pfählen mit vorspringenden Holzgalerien, zwischendurch ein wildes Geranke von Hecken und Büschen, die weit über den dunklen Wasserspiegel hinüberhingen und lauschige Winkelchen bildeten. Hie und da sprang von dem Erdgeschoß dieser Häuschen ein verankerter Holzsteg vor, auf dem eine fleißige Hausfrau oder Magd ungestört dem Geschäft des Waschens oblag – ein anmutendes Kleinstadtidyll voll stiller Poesie und wohltuenden Friedens. Namentlich Helmut Berendt war hocherfreut von diesem Ausblick und der Wunsch erstand in ihm, dieses kleine Stübchen im besonderen sein eigen nennen zu dürfen.

»O, das ist ja reizend!« entfuhr es ihm, und seine offenen Augen verrieten der Hausfrau den brennenden Wunsch, hier hausen zu können.

»Nun, meine Herren, wenn es Ihnen gefällt, so könnten wir ja näher über die Sache reden.«

»Ja gewiß, gnädige Frau,« bestätigte der gewandtere Rickmann, »es fragt sich nur, ob wir uns über den Preis einigen können. Wir hatten natürlich nur an eine mäßige Summe gedacht, wie wir hörten, daß sie in Jena für Studentenwohnungen üblich sei.«

»Nun, meine Herren, wir wollen ja weiter keine Geschäfte mit dem Vermieten machen. Sie haben vielleicht schon gehört –« sie nickte zu dem Alten hinüber – »daß die Räume hier früher von meinem Sohn als Student bewohnt gewesen sind, und wir wollten sie nur nicht leer stehen lassen. Wenn Ihnen neunzig Mark für das Semester nicht zu viel wären –«

Heinz und Helmut fuhren in freudigem Entzücken auf. Das war ja geradezu ideal; auf sechzig bis fünfundsiebzig Mark ein jeder waren sie gefaßt gewesen, und nun bot sich ihnen hier diese wundervolle Gelegenheit, ein eigenes Schlafzimmer mit einem gemeinschaftlichen, geradezu hochherrschaftlich eingerichteten Salon zu bewohnen für den so geringen Preis! Freudestrahlend sagten daher beide wie mit einem Atemzuge zu.

»Nun, da wären wir ja einig, meine Herren,« meinte Frau Härtel und reichte lächelnd ihren beiden neuen Mietern die Hand, die sich alsbald beeilten, sich ihr vorzustellen. Die freundliche Frau richtete noch einige Fragen nach den Familien der jungen Leute an diese und ging dann mit dem Wunsche, daß sie recht gute Hausgenossen werden möchten, wieder hinaus, um ihr Mädchen zur weiteren Hilfeleistung zu schicken.

Schnell schaffte nun der gutmütige Alte ihnen ihre Koffer und Körbe in die Wohnung und wurde dann mit einem Taler für seine schätzbaren Dienste glänzend belohnt, worüber er mit einem schmunzelnden Lächeln und vielen Dienern dankend quittierte; dann empfahl er sich wieder.

Eine reichliche Stunde mochte verflossen sein; mit großem Eifer hatten die Freunde sich inzwischen bereits in der Hauptsache eingerichtet und gönnten sich nun einen Augenblick der wohlverdienten Ruhe nach den mancherlei Erlebnissen und Eindrücken dieses ersten Tages ihres neuen Lebens.

»Du, ist das nicht großartig, wie wir hier hausen? Wie die Fürsten, was?«

Heinz Rickmann sagte es, nachdem er sich mit nachlässiger Grandezza auf das Plüschsofa ihres Salons geworfen hatte, allerdings vom Elternhaus her noch mit so viel Rücksichtnahme ausgestattet, daß er die Stiefel über die Lehne hinausragen ließ, und qualmte mit mächtigen Zügen die erste Zigarre im neuen Heim vor sich hin.

»Ja, es ist geradezu ideal,« echote Helmut, der aus dem offenen Fenster hinauslehnte, von wo sein Blick den prächtigen Garten ihres Hauses überflog, der jetzt in den bunten Farben des Herbstes reizvoll spielte. »Du, auch eine famose Laube gibt's hier; vielleicht dürfen wir die ebenfalls benutzen. Das könnte ich mir zu nett vorstellen, hier an heißen, Sommertagen im Schatten zu sitzen mit einem guten Buch gemütlich bei der Pfeife!«

Eine solche schmauchen zu dürfen, war eines jener Ideale, auf dessen Verwirklichung sich Helmut Berendt bislang besonders gefreut hatte. Zu Haus war ihm zwar im letzten Schuljahr der mäßige Genuß des Tabaks gestattet worden, aber die ordnungsliebende Mutter hatte aus Rücksicht auf ihre stets sauber gewaschenen und geplätteten Gardinen immer doch gerade den Genuß der ersehnten Tabakspfeife untersagt. Nun aber stand der Erfüllung dieses seines lang gehegten Wunsches nichts mehr im Wege.

»Ach, das kann überhaupt großartig werden!« – behaglich räkelte sich Rickmann auf seinem Sofa – »nun so ganz allein, wo man nach keinem mehr zu fragen hat. Juhuhuhu!! Mir ist zu fidel zu Mute.« Und alsbald begann er einen schwindelerregenden Wirbel mit den Beinen auf der Sofalehne zu trommeln.

In demselben Augenblicke klopfte es an die Tür ihres Salons. Einen Augenblick sahen sich die beiden Freunde fragend an, dann aber entfuhr Helmut, der schon vom Fenster aufgestanden war, schnell ein »Herein!« Die Tür öffnete sich und herein traten mit einer sehr höflichen Verbeugung zwei Herren, in schwarz-rot-silbernem Studentenband, die Mützen in der Hand. Mit einem nicht geringen Schreck flog Rickmann vom Sofa hoch, wo er sich eben noch in Hemdärmeln in der beschriebenen Pose geräkelt hatte. Himmel, was hatte das zu bedeuten? Auch Berendt starrte mit höchster Verwunderung den unerwarteten Besuch an, der ihnen da plötzlich ins Haus geschneit war. Aber das Wunder sollte sich ihnen allmählich erklären.

»Verzeihung, meine Herren, wenn wir so unbekannterweise ins Haus fallen. Gestatten Sie, daß wir uns Ihnen zunächst vorstellen: cand. jur. Brendicke – Studiosus Wehnert.«

Mit etwas befangener Verbeugung erwiderten die beiden jungen Leute die Vorstellung, indem sich zugleich Rickmann rückwärts konzentrierte und mit einigen unklaren Worten der Entschuldigung in sein Jakett fuhr. Herr Brendicke, der ältere der beiden fremden Studenten, fuhr nun aber fort: »Wir hörten von unserem Couleurdiener, der den Herren hier die Wohnung nachgewiesen und das Gepäck hergeschafft hat« – aha! mit einem Male ging den beiden ein gewaltiger Seifensieder auf – »daß die Herren eben frisch in Jena angekommen und hier noch ganz unbekannt sind. Wir möchten uns nun erlauben, uns den Herren Kommilitonen ergebenst zur Verfügung zu stellen, wenn die Herren vielleicht in irgend einer Beziehung unserer Hilfe bedürfen. Es ist ja Kommilitonenpflicht, in solchen Fällen einander beizuspringen; es würde uns ein besonderes Vergnügen sein, wenn wir den Herren irgendwie nützlich sein könnten.« Abermals eine schneidige, höfliche Verbeugung.

»Danke verbindlichst,« dienerte Rickmann, während auch sein Freund sich stumm verbeugte. »Die Herren sind außerordentlich liebenswürdig.« Er wußte im übrigen nicht recht, was er zu diesem überraschend freundlichen Angebot sagen sollte. Aber die beiden Menschenfreunde ließen sich in keiner Weise durch die ungewohnte Situation stören.

»Die Herren gestatten wohl,« sagte Brendicke mit großer Selbstverständlichkeit, indem er sich auf einen der Plüschstühle am Salontisch niederließ und Mütze und Couleurstock ablegte, während es sein Begleiter sich in gleicher Weise bequem machte.

»Die Herren wohnen hier übrigens tadellos.« Herr Brendicke ließ seine Blicke durch den vortrefflich ausgestatteten Raum schweifen und richtete sie dann auf die beiden Bewohner, als ob er gewissermaßen von dem Raum auf die Qualität seiner Mieter und deren Wechsel insbesondere Rückschluß ziehen wollte.

»Es läßt sich überhaupt hier in Jena famos auskommen. Na, das werden ja die Herren bald selbst sehen. Sie kennen Jena noch gar nicht, nicht wahr? Nun, da wird es Ihnen doch gewiß auch von Interesse sein, sich einmal in der Stadt umzusehen. Wenn die Herren sonst nicht anderweitig disponiert haben, wird es uns ein besonderes Vergnügen sein, Ihren Cicerone zu machen. Es ist ja noch ein Stündchen hell draußen, und Sie können sich in dieser Zeit gut über unser Saale-Athen informieren.«

Berendt sah den Freund etwas verlegen an und wußte nicht recht, was zu erwidern, Rickmann dagegen wollte es als unhöflich erscheinen, ein so liebenswürdiges Anerbieten abzuschlagen, und so entgegnete er mit einem höflichen Diener: »Aber gewiß, meine Herren, wenn wir Ihre Zeit nicht allzusehr in Anspruch nehmen – es wird uns ein Vergnügen sein.«

So wanderten denn nun alle vier, Rickmann an der Seite des Herrn Wehnert, Berendt an der Seite Brendickes, durch die Stadt. Ihre beiden neuen Bekannten waren in der Tat vorzügliche Führer, die sie mit gutem Humor und großer Sachkenntnis über alles Wissenswerte unterrichteten. Zunächst führten sie die beiden Neulinge auf kürzestem Weg zum Markt. Im warmen Sonnengold des Spätnachmittags lag der würdige, alte Platz da, rings umrahmt von den charakteristischen Bauten, auf der einen Seite namentlich das alte Rathaus mit den zwei spitzen Giebeln, ein Zeuge vergangener Jahrhunderte und alter akademischer Herrlichkeit. Wie sie auf den Platz hinaustraten, schlug gerade die große Uhr im Giebel des Rathauses.

»Sehen Sie, da können wir Ihnen gleich den Klapperhans im vollsten Glanze vorführen,« lächelte Herr Brendicke und wies mit dem Stock auf eine Figur, die oberhalb des Uhrwerkes aus einer Ecke herausfuhr, um nach einem darüber befindlichen Apfel zu haschen.

»Seit ein paar Jahrhunderten quält sich der arme Bursch schon, den Apfel zu kriegen, aber es gelingt ihm nicht. Und hier« – er wandte sich zur Rechten, auf die ehrwürdige erzene Statue des Gründers der Universität Jena, des Kurfürsten Johann Friedrich, deutend – »hier haben Sie unseren alten guten ›Hannfried‹, in der Linken das Kommersbuch, in der Rechten den Speer – das monumentale Symbol unserer akademischen Freiheit. Zu seinen Füßen entwickelt sich der höchste studentische Glanz bei festlichen Gelegenheiten. Sie müssen nämlich wissen, daß wir nach altem Brauch unsere feierlichen Kommerse und Frühschoppen hier auf offenem Markt abhalten unter ehrfürchtigem Staunen und froher Teilnahme der ganzen Jenenser Bürgerschaft.«

Bewundernd schauten die beiden jungen Freunde über den Marktplatz hin; die stolz beseligende Ahnung ihres nunmehrigen eigenen Wertes überkam sie. Auch sie gehörten ja nun zu diesem ausgezeichneten Stande bevorrechtigter freier Männer, die hier in Jena den Ton angaben.

Dann führte sie ihr Weg weiter zur Universität hin, die, am Fürstengraben unter schönen alten Bäumen gelegen, natürlich besonders ihr Interesse erregte. Man warf auch einen Blick hinein in die langen Korridore und einzelne der Hörsäle und schritt dann am schwarzen Brett vorüber, an dem Dutzende von Anschlägen, zum Teil mit den farbigen Wappen und Zirkeln der studentischen Korporationen, hingen.

»Ei sieh mal, du!« – Rickmann stieß seinen Freund Berendt in die Seite – »doch ein bißchen anders als bei uns auf dem Pennal, was?« Er dachte dabei an den beinahe gefängnismäßigen Eindruck der Schulkorridore, wo draußen an den Klassentüren nur die Lektionspläne hingen.

Dann ging es weiter hin zum alten Kollegiengebäude, jenem ältesten Überbleibsel der Jenenser Hochschule, das mit seinen Spitzbogenportalen und tief gewölbten Korridoren noch ganz die ursprüngliche Bestimmung des alten Klosters verrät.

Ihr Weg führte sie zur Universität am Fürstengraben.

»Hier haust der gestrenge Herr Universitätsamtmann,« erklärte Herr Brendicke, auf eines der Zimmer weisend, an denen sie vorüberschritten, »der alle Vergehen contra usum grimmig ahndet: nächtlichen Ulk u. s. w. Na,« lächelte er vielsagend zu Rickmann hin, »die Herren werden ja hoffentlich mit ihm in keinen Konflikt kommen.«

Und wieder weiter ging der Weg: die Johannesgasse entlang durch das alte, massige Johannestor, den trutzigen Zeugen mittelalterlicher Wehrhaftigkeit der Stadt, in dessen dämmervollem Torbogen man noch heute das spitze Fallgatter niederrasseln zu sehen meint, und nach wenigen Minuten war man hinausgelangt zu einem Haus, aus dessen geöffneten Fenstern ein klirrendes, rasselndes Geräusch, fast wie aus einem Maschinensaal mit emsiger Betriebsamkeit schallte.

»Der Fechtboden,« erklärte Wehnert. »Aber den werden die Herren doch sicherlich kennen lernen!«

»Selbstverständlich,« beteuerte eifrig Rickmann.

»Das ist brav,« lobte Herr Brendicke. »Ich glaube, Sie werden ein forscher Fechter werden, Sie scheinen mir sehr das Zeug dazu zu haben.«

»Ich hoffe,« versetzte Rickmann mit strahlendem Gesicht und hoch erfreut über das ihm gespendete Lob. »Aber hier mein Freund wird's freilich noch besser als ich lernen, der hat eine Mordskraft.«

»Ah, was Sie sagen,« wendete sich Brendicke an seinen Begleiter, der größtenteils schweigend neben ihm herging, dafür aber durch seine glänzenden Blicke verriet, wie tief innerlich er all die neuen Eindrücke in sich verarbeitete. Nun errötete er ein wenig über das ihm von seinem Freunde gespendete Lob und wehrte bescheiden ab.

»Ich habe allerdings viel geturnt und meine Kräfte ziemlich geschult. Aber wie es mit dem Fechten werden wird, weiß ich natürlich noch nicht.« Und er dachte daran, daß er allerdings das Fechten als Leibesübung wohl betreiben wollte, aber eine praktische Betätigung, wie es natürlich seine neuen Bekannten voraussetzten, war ja nach seinen und seiner Eltern Anschauungen für ihn ausgeschlossen.

Einstweilen wurde der Punkt nicht weiter zwischen den vieren berührt, sondern man wandte sich wieder der Stadt zu, um weitere Sehenswürdigkeiten in Augenschein zu nehmen. Im Vorüberschreiten an einem Bäckerladen erhob sich von der Bank ein wohlbeleibter Herr in Hemdsärmeln und grüßte, respektvoll sein Käppchen ziehend, die beiden ihm wohlbekannten Couleurstudenten.

»Schön guten Tag, Meister Greiner,« nickten diese mit freundlichem Gruß, und im Vorübergehen raunte Brendicke dann den beiden Neulingen zu: »Sehen Sie, das ist der berühmte Meister Greiner, ein Jenenser Original, wie's im Buche steht. Der hat sich mal einen famosen Witz geleistet vor ein paar Jahren, als hier Bürgermeisterwahl war und die Philister sich fast die Schädel einschlugen wegen der beiden feindlichen Kandidaten, der Herren Pfeiffer und Schreiner. Da ließ er sich eines Tages auf einem Möbelwagen durch die Stadt fahren, an den Armen zwei gepolsterte Fechthandschuhe und ein großes Pappschild vor seinen Schmerbauch haltend, auf dem weithin leuchtend die Aufforderung an die Bürgerschaft prangte:

Da streiten sich die Leut',
Ob Pfeiffer oder Schreiner,
Ihr Leute, seid gescheit,
Wählt mich, den Meister Greiner!«

Höchst amüsiert schauten die beiden Neulinge noch einmal nach dem humorvollen Mann zurück, der behaglich schmunzelnd sein Pfeifchen vor sich hin rauchte, als könnte er kein Wässerlein trüben. Dann sahen sie sich einige Minuten später vor dem Eingang eines stattlichen Gasthauses und nun richtete Herr Brendicke mit anscheinend ernster Miene das Wort an sie: »So, meine Herren, nun müssen wir Sie aber unbedingt noch immatrikulieren.«

Mit höchstem Erstaunen sahen die beiden erst ihre Führer, dann das Haus vor ihnen an, das doch unverkennbar den Charakter eines Bierlokals an sich trug. Die beiden anderen weideten sich an dem Staunen der Neulinge und lächelnd meinte Herr Brendicke: »Ja, ja, meine Herren, kommen Sie nur herein, es hat alles seine Richtigkeit.«

Rickmann und Berendt wußten wirklich nicht, was sie von all dem halten sollten, folgten aber erwartungsvoll ihren freundlichen Führern, die nun mit ihnen in das Lokal eintraten und in dem hinteren Raum einen auf sie zutretenden Herrn im eleganten Smoking mit freundlich glänzendem, vollem Gesicht und einer stattlichen Glatze in dem dunkelbraunen Lockenhaar begrüßten.

»Hier, Kämmer-Karl, stellen wir dir die jüngsten Jenenser Füchse vor, die Herren Studiosus Rickmann und Berendt. Und das, meine Herren, ist unser berühmter Kämmer-Karl, comes de Pfeifenstein, Dr. med. im vierten Semester – und nun, Kämmer-Karl, schreite unverzüglich zur Immatrikulation dieser Herren.«

Der stets fidele Wirt winkte alsbald einem der Kellner, der schleunigst mit einem Tablett und drei Likören wiederkam. Kämmer-Karl lud die beiden jungen Herren ein, je einen Likör zu trinken, und nachdem das geschehen war, hielt er ihnen die Hand zum Einschlagen hin: »Ich immatrikuliere euch hiermit in der aula Vimariensis (der »Weimarische Hof«, der Name seines Restaurants) und verpflichte euch zugleich auf die Statuten.«

Mit herzhaftem Lachen schlugen die beiden neu »Immatrikulierten« in die Hand des biederen Wirtes ein, der darauf alsbald aus seiner Brusttasche für jeden eine bereits vorrätig gedruckte Matrikel herauszog und ihnen zum Andenken an diese gewichtige Amtshandlung überreichte. Nachdem man mit dem originellen »Rektor der aula Vimariensis« noch ein Weilchen geplaudert hatte, brachen die vier wieder auf, um noch eine weitere Sehenswürdigkeit Jenas in Augenschein zu nehmen.

Diesmal ging der Weg durch die Stadt hindurch zur Bibliothek, wo in einem der Parterreräume der berühmte »Drache« aufbewahrt wird, eines der bekannten sieben Jenenser Wunder. Mit großer Spannung traten Rickmann und Berendt an das Ungeheuer heran, sie dachten wirklich ein ausgestopftes Fabelwesen zu sehen; denn ihre Führer hatten ihnen erzählt, daß dieser berühmte Drache von Jenenser Studenten unter Teilnahme der Bürgerschaft in einer Höhle der Sophienhöhe gefunden worden sei. Wie erstaunten sie aber nun, als sie ein kleines, künstlich hergestelltes Monstrum von vielleicht 1 Meter Länge erblickten, das aus allerlei abenteuerlichen Gegenständen wie Stiefelknechten, Korkenziehern u. s. w. verfertigt war und im übrigen in der Tat die Form eines Drachens erhalten hatte. Es handelte sich bei der ganzen Geschichte natürlich nur um einen Studentenulk. Es waren nämlich in alter Zeit Jenenser Bürger auf das abenteuerliche Gerücht, daß ein Drache bei der Sophienhöhe entdeckt worden sei, hineingefallen, mit dem die spaßhaften Studenten sie nur angelockt hatten, um sie dann mit ihrem Machwerk nicht wenig zu enttäuschen.

All die Eindrücke, die sie so im Fluge bei diesem Rundgang durch Alt-Jena gewonnen hatten, wirbelten gewaltig in den Köpfen der beiden Neulinge umher, und im Chaos dieser Empfindungen hob sich klar nur die eine hervor: es war doch etwas Großartiges mit diesem Jena, wo offenbar sich alles um den Bruder Studio drehte und die Bürgerschaft volles Verständnis für seine Eigenheiten, seine Fröhlichkeit und seine Scherze hatte!

Wieder draußen auf dem Platz vor der Bibliothek angekommen, schlug Herr Brendicke nun aber vor: »Meine Herren, ich glaube, nach unserem anstrengenden Wege können wir uns nun einmal ein Stündchen gemütlichen Ausruhens gönnen. Vielleicht machen uns die Herren die Freude, zur Erfrischung jetzt ein Glas Bier mit uns auf unserem Haus zu trinken.«

Einen Augenblick stutzten die beiden und besonders Berendt hatte ein eigenes Gefühl, als sollten sie sich nun lieber mit höflichem Dank von ihren Begleitern verabschieden und nicht dieser Einladung folgen. Aber anderseits wäre es doch auch wieder höchst unhöflich gewesen, dies zu tun, nachdem sie so lange sich die Dienste der freundlichen Herren hatten gefallen lassen. So blieb denn wohl nichts weiter übrig, als auch hier noch mitzumachen und mit einem dankenden Worte nahmen sie daher die Einladung an. Es war inzwischen schon dämmrig geworden und als sie nach einem Gang von wenigen Minuten vor einem schönen, zwischen Gärten und Villen gelegenen Grundstück anlangten, leuchteten ihnen schon die hellstrahlenden Fenster eines stattlichen Hauses entgegen, vor dem sie in der Dunkelheit von hohem Flaggenmast eine Fahne wehen sahen, offenbar in den Farben ihrer Begleiter.

Als sie durch das Gartentor das Grundstück betraten, zog Brendicke mit sehr höflicher Verbeugung die Mütze, ebenso tat sein Begleiter, und begrüßte hier nochmals die Gäste.

»Meine Herren, ich gestatte mir, Sie auf eigenem Grund und Boden herzlich willkommen zu heißen. Wir betreten jetzt Alanias Reich.«

Berendt und Rickmann fühlten sich von diesem ritterlichen Gruß sehr geschmeichelt; es imponierte ihnen überhaupt gewaltig, daß die Herren Alanen hier auf einem eigenen Besitz hausten, und erwartungsvoll folgten sie ihren Begleitern nun in das Innere des Hauses nach. Schon auf der Diele, in die sie nun traten und wo der ihnen wohlbekannte Alte, jetzt aber in einem roten Frack und roter Mütze mit Tressen besetzt, entgegentrat, um ihnen mit vertraulichem Gruße ihre Sachen abzunehmen, hörten sie fröhliche Stimmen aus dem Nebenraum an ihr Ohr dringen. Es war das Gesellschaftszimmer der Alanen, dessen Tür ihnen nun Brendicke weit öffnete, um sie eintreten zu lassen.

Ein gewaltiges Stuhlscharren erhob sich, alle dort versammelten Herren fuhren von ihren Sitzen auf, und das eben noch laute Schwirren der Unterhaltung machte einem plötzlichen erwartungsvollen Schweigen Platz. So fühlten sich die beiden jungen Gäste ordentlich beklommen, als sie nun in den stattlich eingerichteten, holzgetäfelten Raum traten, der ganz im Stil eines altdeutsch eingerichteten Zimmers gehalten war, an zahlreichen Wappenschildern und Wanddekorationen die Farben der Verbindung aufweisend.

Es erfolgte eine umfangreiche Vorstellung, dann wurden die beiden höflichst gebeten, Platz zu nehmen, und alsbald wurde auch ihnen ein Deckelschoppen mit dem Wappen der Alania vorgesetzt. Herr Brendicke, der zwischen den beiden Gästen saß – zur Rechten Berendts hatte ein wohlbeleibter, mit mächtigen Schmissen besäter Herr, ein cand. jur. Dobler, Platz genommen – zog in liebenswürdiger Zuvorkommenheit seine Mütze und trank seinen beiden jungen Bekannten einen Schluck aufs ganz Spezielle zur Begrüßung vor.

»Ich hoffe, daß es den Herren bei uns ein wenig gefallen wird. Wir haben heute keine eigentliche Kneipe, sondern sind nur gemütlich beim Bier zusammen. Aber fidel wollen wir darum doch sein – in diesem Sinne, meine Herren!« Und er stieß mit seinen neuen Bekannten an, die gespannt der Dinge harrten, die sich da noch begeben sollten.

Wennschon Rickmann sowohl wie Berendt bisher mit studentischen Kreisen noch keine Berührung gehabt hatten, so waren sie doch immerhin so weit über studentische Dinge unterrichtet, daß sie ahnten, daß diese ganze Einladung schließlich darauf hinauslaufen würde, sie zu bewegen, auch der Alania beizutreten. Für Rickmann brachte freilich dieser Gedanke kein besonderes Dilemma mit sich; er war von vornherein schon so gut wie entschlossen, sich die bunte Mütze aufzusetzen, und es kam nur darauf an, die ihm zusagende Korporation ausfindig zu machen. Allerdings hatte er sich vorgenommen, nicht bei der ersten besten Verbindung einzuspringen, sondern sich möglichst der Reihe nach bei diesen umzusehen und die ihm zusagendste sich auszuwählen. Immerhin, diese Alanen schienen recht famose Leute zu sein und man konnte ja nicht wissen, vielleicht entschloß er sich zu ihren Farben.

Anders dagegen stand es mit Berendt. Er war des Versprechens eingedenk, das er seinem Vater gegeben hatte, sich jeder Extravaganz fernzuhalten, und ohne jeden Zweifel hätte es eine solche bedeutet, wenn er bei einer derartigen Korporation aktiv geworden wäre. Denn es lag auf der Hand, daß eine solche Verbindung, die so repräsentativ auftrat, immerhin erhebliche Geldopfer an die einzelnen Mitglieder stellen mußte, die er nicht zu bringen im stande war. Mit einem geheimen Seufzer freilich machte sich dies Berendt klar. Er war ja nichts weniger als ein Kopfhänger und hätte für sein Leben gern auch so ein frischfröhliches Studentenleben in der bunten Mütze mitgemacht; aber es konnte nun einmal nicht sein, und so beschloß er denn, den Gedanken sich beizeiten aus der Seele zu schaffen, ehe er erst noch tiefe Wurzel geschlagen hatte. Vertrauern wollte er darum ja im übrigen seine Studentenzeit auch nicht; man konnte sicherlich auch so mit gleichgesinnten Genossen fröhlich sein und alles Schöne genießen, was dies prächtige alte Nest an der Saale augenscheinlich in Hülle und Fülle bot. So war denn der leise Anflug von Resignation, der sich einen Augenblick über Berendt senken wollte, schnell wieder verflogen und mit frohem Sinn gab er sich dem munteren Treiben hin, das sich rings um ihn an der großen Tafel entfaltete. Ein fröhliches Lied folgte dem anderen, heitere Scherze würzten die Unterhaltung und von so manchen ausgelassenen Streichen Jenenser Studenten wurde den Neulingen erzählt.

»Nun, wie gefällt es Ihnen hier bei uns?« wandte sich plötzlich Berendts Nachbar zur Rechten an ihn.

»O, es ist reizend hier, wundervoll?« gestand Berendt offen ein.

»Ja, wir haben sicher auch das schönste Couleurhaus in ganz Jena,« rühmte mit freudigem Stolz Herr cand. jur. Dobler. »Wir haben mächtig reiche Philister, die für die Ausstattung unseres Hauses ordentlich was haben springen lassen und auch jetzt noch fortdauernd uns höchst anständige Zuschüsse gewähren, so daß wir viel günstiger dastehen als die anderen Korporationen. Wir brauchen daher auch von unseren Aktiven nur geringe Umlagen zu erheben.«

Berendt verstand den Wink, der darin lag, und war darauf gefaßt, nunmehr einen direkten Angriff Herrn Doblers auf seine persönliche Freiheit alsbald vor sich gehen zu sehen. Aber noch kam es nicht dazu, denn soeben gebot der erste Chargierte Silentium und schlug ein Lied vor.

Und in Jena lebt's sich bene
Und in Jena lebt's sich gut
Und in Jena lebt's sich gut.
Bin ja selber drin gewesen,
Wie da steht gedruckt zu lesen,
Zehn Semester wohlgemut,
Zehn Semester wohlgemut.

Und die Straßen sind so sauber,
Sind sie gleich ein wenig krumm.
Denn ein Wasser wird gelassen
Durch die ganze Stadt herum.

Und die allergrößte Freiheit
Ist in Jena auf dem Damm.
In Schlafröcken kann man gehen
Und den Bart sich lassen stehen
Wie ein jeder will und kann.

Und im Sommer und im Winter
Wird servieret auf der Straß'.
Hei, wie da die Schläger blitzen.
Hei, wie da die Hiebe sitzen,
Aber alles ist nur Spaß.

Famos! Das klappte anders, als so ein Pennäler-Singsang. In höchster Seligkeit nickte Rickmann seinem Freunde hinter dem Rücken Herrn Brendickes zu. Er schwamm förmlich in Vergnügen. Allmählich geriet er in eine recht animierte Stimmung, in der er die ganze Welt, das Jenenser Studentenleben, insbesondere das Couleurleben bei einer wohllöblichen Alania für einen geradezu idealen Zustand anzusehen geneigt war, an dem teilzunehmen er nichts einzuwenden wußte. Berendt dagegen ließ sich nicht so von der Stimmung fortreißen. In Erwartung dessen, was sicher nicht ausbleiben würde, hielt er sehr mit dem Genuß des Bieres zurück – es war auch sonst nicht seine Art zu bechern – und richtig, er tat gut daran, denn plötzlich eröffnete Herr Dobler wieder das Gefecht und diesmal ging er direkt zum Angriff über.

»Darf ich fragen, sind die Herren mit Jenenser Korporationen bekannt?«

Berendt verneinte.

»So haben Sie wohl auch noch nicht daran gedacht, wo sie eventuell aktiv werden könnten?«

»Ich für meinen Teil habe überhaupt nicht die Absicht, in eine Verbindung einzuspringen,« erwiderte Berendt ruhig.

Förmlich überrascht sah Herr Dobler den Gast an. Auf diese Antwort war er nicht gefaßt gewesen. Ein so stattlicher, strammer Bursch, und nicht aktiv werden? Ah bah, das gab's einfach gar nicht. Eine Pennälerschrulle, die dem jungen Mann einfach ausgetrieben werden mußte, und eins – zwei – drei wollte er das besorgen; hatte er doch schon so manches »Keilbein breit geschlagen«, und der sollte nicht der letzte sein!

Herr Dobler setzte sich also in Positur, verschränkte seine Arme, qualmte einen Augenblick mit hochgezogenen Brauen vor sich hin und wandte sich dann wieder seinem Nachbar zu.

»So, Sie beabsichtigen nicht aktiv zu werden. Hm, darf ich fragen, was für Gründe Sie dagegen haben?«

Berendt fühlte sich von diesem Inquisitorium nicht gerade angenehm berührt, aber er sah ja keinen Grund, dem Frager die Wahrheit vorzuenthalten; und schließlich war es vielleicht auch das allerbeste, wenn er offen sagte, was ihn abhielt. So entging er doch auch jedem falschen Verdacht.

»Ich verfüge nicht über die nötigen Mittel, aktiv werden zu können,« gestand er offen, Herrn Dobler mit einem ernsten Blick ansehend. Dieser schnippte mit einer lässigen Bewegung die Asche von seiner Zigarre weg.

»Na, wenn's weiter nichts ist« – leise lachte er vor sich hin – »in Jena kann einfach jeder aktiv werden, wenn er sonst nur will. Geld spielt hier bekanntlich gar keine Rolle. Erstens mal kostet's überhaupt nicht halb soviel, wie Sie vielleicht denken, und zweitens, wenn man wirklich keinen so großen Wechsel hat, so macht das auch nichts; man hat ja hier ausreichenden Pump!«

»Das mag sein.« Sehr ernst und fest erwiderte es Berendt. »Aber ich meinerseits habe nicht die Absicht, diesen Pump in Anspruch zu nehmen. Ich werde niemals auch nur einen Pfennig Schulden machen.«

Herr Dobler ließ plötzlich die Zigarre aus dem Munde sinken und mit großen Augen starrte er seinen Nachbar an, der dies große Wort so gelassen ausgesprochen; dann fing er plötzlich herzhaft zu lachen an.

»Nehmen Sie mir's nicht übel, Herr Berendt, aber da muß ich wirklich lachen.« Und er machte von diesem Recht den ausgiebigsten Gebrauch.

Berendt fühlte sich von dieser Art höchst unangenehm berührt. Ihm war es so ernst mit diesen Grundsätzen, mit seinem Versprechen, das er dem Vater daheim gegeben hatte, der ihn in banger Sorge hatte ziehen lassen und für den es gewiß ein bitter ernstes Ding war, überhaupt die nötigen Mittel zu seinem Studium aufzubringen. Wie konnte man darüber lachen, wenn jemand unter solchen Umständen erklärte, so handeln zu wollen, wie es doch einfach nur recht und billig war? Der Unmut, der sich in Berendts offenen Mienen spiegelte, war seinem Nachbarn zur Linken, stud. Brendicke, nicht entgangen. Er hatte wohl auch einen Teil der Unterhaltung mit angehört und sprang nun rasch ein, um den wenig vorteilhaften Eindruck seines Farbenbruders zu verwischen.

»Sie haben sehr recht, Herr Berendt, Ihre Grundsätze sind höchst anerkennenswert. Mein Couleurbruder Dobler meinte das natürlich auch nur scherzhaft. Wir haben aber auch bei uns eine Reihe von Leuten, die aktiv sind und einen sehr bescheidenen Wechsel beziehen, ohne einen Pfennig Schulden zu haben. Sie würden also durchaus das eine mit dem anderen vereinen können.«

»Das mag der Fall sein, Herr Brendicke« – erwiderte Berendt dem Sprecher, der mit seinem feinen, freundlichen Wesen ihm recht sympathisch war – »aber ich bin trotzdem doch nicht in der Lage, aktiv werden zu können und ich will es auch nicht. Ich muß meine Studienzeit voll ausnutzen und würde schon aus diesem Grunde es mir niemals gestatten können, einer Verbindung anzugehören, die ihre Mitglieder natürlich vielfach in Anspruch nimmt.«

»O, damit ist es wirklich nicht so schlimm, wie Sie sich das vielleicht vorstellen. Zwei offizielle Abende in der Woche, dann täglich eine Stunde Fechtboden, aber sonst sind Sie völlig Herr Ihrer Zeit – das heißt, wenn Sie arbeiten wollen.«

Berendt war es peinlich, daß man ihm so zusetzte, und um allen weiteren Versuchen, ihn zu überreden, ein Ende zu machen, erklärte er Herrn Brendicke unumwunden: »Es tut mir leid, aber ich kann trotz alledem nicht aktiv werden. Ich habe meinem Vater ein Versprechen gegeben, das mir das direkt verbietet.«

»Na, wenn's weiter nichts ist!« wendete gemütlich Herr Dobler ein, der den Keilfuchs noch keineswegs so leichten Kaufs entwischen lassen wollte. »Kennen wir alles. Sie sind nicht der einzige, der seinem alten Herrn Stein und Bein hat schwören müssen, daß er nicht aktiv werden wollte, und hinterher ist doch alles anders gekommen. So was bringt man eben langsam und schmerzlos dem alten Herrn bei. Na, und im übrigen – ich kenne manchen, der seine vier Semester aktiv gewesen ist und der alte Herr hat überhaupt nichts davon gemerkt.«

»Verzeihen Sie!« – mit großer Energie und aller Entschlossenheit erwiderte es Berendt – »das sind Dinge, die ich niemals billigen kann. Nie und nimmer werde ich Heimlichkeiten vor meinem Vater haben.«

Herr Dobler sah abermals recht verdutzt nach seinem Nachbar. Dann zuckte er gelassen die Achseln, pustete den Rauch seiner Zigarre sehr kräftig vor sich hin, so daß die Rauchwolke fast Berendts Gesicht streifte – eine nicht zu verkennende symbolische Handlung, die klar besagte: na, dann kannst du mir eben gestohlen bleiben! Er kehrte sich dann recht rücksichtslos nach rechts einem seiner Couleurbrüder zu, vermutlich um diesem mitzuteilen, daß mit dem »stumpfsinnigen Menschen da« nicht viel anzufangen wäre.

Berendt fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Diese Nichtachtung, mit der Herr Dobler ihn jetzt plötzlich glaubte behandeln zu dürfen, reizte sein stark entwickeltes Ehrgefühl aufs heftigste. Für sein Leben gern hätte er ein scharfes Wort an seinen Nachbar gerichtet; aber in demselben Augenblick, wo ihm dies schon auf der Zunge schwebte, sah er plötzlich das Bild der Mutter vor sich auftauchen, wie sie ihn beim Abschied unter Tränen beschworen, allezeit an sie zu denken. Da bezwang er sich und schluckte seinen Ingrimm hinunter. Aber ihm war die Lust vergangen, noch länger in diesem Kreis zu weilen, und rasch erhob er sich, machte Herrn Brendicke, der sehr erstaunt zu ihm aufsah, eine höfliche Verbeugung und erklärte knapp: »Verzeihen Sie, Herr Brendicke, aber meine Zeit gestattet mir nicht, länger hier zu bleiben. Ich muß nach Hause, da ich noch einige Briefe zu erledigen habe.«

»Aber ich bitte, es ist ja noch nicht elf,« wendete der Angeredete überrascht ein, und auch Rickmann, der plötzlich aufmerksam wurde, rief verwundert: »Was, jetzt schon gehen? Deine Briefe haben gewiß doch noch bis morgen Zeit!« Auch die umsitzenden Herren der Alania, mit Ausnahme Doblers, umringten plötzlich Berendt und drangen auf ihn ein, doch noch zu bleiben. Aber dieser blieb fest, und als der Freund keine Anstalten machte, ihn zu begleiten – Rickmann wollte gar zu gern noch bleiben und bat immer wieder Berendt, doch auch ein gleiches zu tun, es sei doch zu gemütlich – verabschiedete sich Berendt wirklich allein.

Nur Herr Brendicke, der sich bis zum Schluß in seiner Höflichkeit gleich blieb, gab ihm noch das Geleit bis auf den Vorraum, während die anderen, die ihn vorher mit so viel umständlichen Ehrenbezeigungen hatten empfangen helfen, ihn jetzt plötzlich mit ersichtlicher Kühle ziehen ließen. Mit einem Lächeln der Bitterkeit auf den Lippen verließ Berendt so das Alanenhaus. Am meisten tat es ihm weh, daß da drinnen sein Freund Rickmann zurückgeblieben war, mit dem er doch das Versprechen ausgetauscht hatte, wie ein Bruder Seite an Seite stehen und durch das Studentenleben gehen zu wollen. Gleich am ersten Tag in Jena trennten sich ihre Wege; sollte es eine symbolische Bedeutung für die Zukunft haben? – Recht ernst ging er heim.

 


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