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Na, nun laß es gut sein, Frau! Schließlich kommt der Junge ja doch nicht aus der Welt. In den Ferien werden wir ihn immer wieder haben, na und schließlich wird's ja auch mal zwischendurch gehen, daß wir ihn besuchen, wenn's sonst gar nicht auszuhalten ist.«
Tröstend die Hand auf die Schulter seiner Frau legend, die am Fenster vor ihrem Nähtischchen saß und in ihr Taschentuch hineinschluchzte, sprach es der Steuerinspektor Berendt. Er war ein großer, starker Mann von fast strengem Aussehen, wozu sein mächtiger patriarchalischer dunkler Vollbart noch besonders beitrug. Aber dennoch leuchtete aus den Augen beim näheren Zusehen im Grunde eine herzliche Güte, die einen bald Zutrauen zu der Art des Mannes gewinnen ließ. Es waren die Eltern Helmut Berendts, die hier beisammen waren in der Scheidestunde; denn es galt, sich jetzt von dem Sohne zu trennen, der nun die Landesuniversität Jena beziehen sollte.
Freilich, es war ja keine leichte Sache, so ein Kind aus dem Elternhause zu entlassen, wo es in treuer Hut bald an die zwanzig Jahre gehegt und gepflegt, in jedem Schritt geleitet und beobachtet worden war. Nun sollte der Junge hinaus in die Welt und sich dort seinen Weg allein bahnen, sich zwischen fremden Menschen zurecht finden und in so manchen Schwierigkeiten sich allein Rat und Tat wissen.
Die schwere Stunde, die nun herangerückt war, war freilich lange vorhergesehen worden. In den letzten Monaten, ja schon seit mehr als Jahresfrist war in der Familie nur zu oft das große gewichtige Thema behandelt worden, ob man den Jungen nun zur Universität schicken solle oder nicht.
Wenn es nach seinen Neigungen ging, so hätte dies ja freilich keine Frage sein können; denn seitdem Helmut denken konnte, stand es für ihn fest, daß er ein Studierter werden wollte. Und der Junge hatte doch sicher auch das Zeug dazu. Seit Jahren stets der Erste in der Klasse und nun als primus omnium mit einem so glänzenden Zeugnis entlassen – es wäre ja ein Jammer gewesen, wenn diese schönen Anlagen hätten verkümmern sollen. Aber es sprachen doch auch noch andere Dinge gewichtig mit. Das Beamteneinkommen des Vaters war nur bescheiden und die Familie groß, da war das Studium des Ältesten nur mit sehr schweren Opfern durchzusetzen möglich. Aber nach gewissenhafter Prüfung hatten sich die Eltern doch dazu entschlossen, an dem so außerordentlich begabten Sohn nichts zu versäumen, und so war es denn ausgemacht worden, daß Helmut nach bestandenem Examen zur Universität gehen sollte, um sich dort für die Gymnasiallehrerlaufbahn vorzubereiten.
Der große Tag war nun da, aber noch einmal traten jetzt alle Bedenken, die auch sonst noch dem Schritte sich entgegengestellt hatten, mit all ihrem Gewicht hervor. Namentlich die Mutter empfand es so recht im tiefsten Herzen, was es heißen sollte, das Kind von sich zu lassen, das ihr in neunzehn langen Jahren so ans Herz gewachsen war. Bei aller Selbständigkeit in seinem Charakter war Helmut stets der liebevollste und zärtlichste Sohn gewesen, der gerade mit der Mutter die innigsten Herzensbeziehungen unterhalten hatte; weit mehr als mit dem Vater, der doch stets eine gewisse würdevolle väterliche Schranke zwischen sich und seinen Kindern aufrecht erhielt, die er nur in seltenen Augenblicken weichen Empfindens überschritt. Frau Berendt meinte, das Herz müsse ihr brechen, daß nun dieses schöne Miteinanderleben ein Ende haben sollte. Wer würde da draußen in der Fremde der Vertraute ihres Sohnes werden an ihrer Stelle? War er doch bisher mit all und jedem, was seine Seele bewegte, zu ihr gekommen; hatte er sie doch an allen seinen Freuden und Sorgen innigen Anteil nehmen lassen! Wer sollte ihm nun in schwierigen Fällen mit Rat und Tat zur Seite stehen? Ach, er kam jetzt in eine völlig neue Welt hinein, wo er sich manchmal nicht zurechtfinden, ja wo nicht selten die Versuchung an ihn herantreten würde! Gerade da hätte er einen liebevollen Berater so nötig gehabt, und der sollte ihm nun fehlen!
Dieser letzte Gedanke war es vornehmlich, der auch Vater Berendt im Innersten beschäftigte. Wenn er auch selbst niemals in direkte Berührung mit dem studentischen Leben gekommen war, so wußte er doch als erfahrener Mann genugsam, wie sich das Leben und Treiben auf den Universitäten abspielte und wie es für viele junge Leute verhängnisvoll wurde. Freilich, sein Sohn hatte vortreffliche Charaktereigenschaften, vor allem eine Festigkeit des Willens und eine ruhige, vernünftige Auffassung der Dinge, die ihn gewiß vor schlimmen Irrwegen bewahren würde – aber dennoch!
So ging denn auch der Inspektor, die Hände auf den Rücken gelegt, gesenkten Hauptes mit ernster Miene im Zimmer auf und ab, selber in einer gewissen sorgenvollen Stimmung trotz der tröstenden Worte, die er soeben seiner Frau gespendet hatte.
Da aber wurden plötzlich draußen auf der Flur Schritte laut, die Tür öffnete sich und herein trat der Sohn, dem die Sorgen der Eltern galten, Helmut, im Mantel und Hut, den Handkoffer in der Linken, an dessen Griff dienstbeflissen die jüngeren Geschwister zu dritt gefaßt hatten, um dem lieben Bruder die Last tragen zu helfen. An seinem rechten Arm aber hing Hilde, die älteste Schwester, die, nur wenig jünger als Helmut selbst, sich innig an den Bruder schmiegte.
Sie hatten eben zusammen auf ihre Art in einer schönen, stillen Stunde den Abschied Helmuts von seinem Vaterhaus, von seiner Kindheit und deren getreuesten Gefährtin, eben dieser Schwester, gefeiert. Was hatte es da alles zu tun gegeben! Da war kein Winkel in Haus, Hof und Garten, den die beiden nicht noch einmal aufgesucht hatten, um sich in traurig schönen, süßen Erinnerungen vergangene Stunden zurückzurufen.
Da war die kleine Giebelstube, die ihre früheste Kindheit gesehen hatte, jene Jahre, wo die jüngeren Geschwister noch nicht da waren und sie beide allein in harmlosen Kinderspielen sorglose Tage verlebten. Daran angrenzend der dämmernde, weite Boden mit seinen dunklen Ecken und Winkeln hinter phantastisch vorspringendem Gebälk und alten Kisten mit verstaubtem Hausrat, die ein so prächtiges Versteck abgegeben und wo man in süßem Gruseln oft stundenlang gehockt und sich die wundervollsten Märchen flüsternd erzählt hatte.
Und drunten der Garten! Etwas verwildert, aber dafür ein umso prächtigerer Spielplatz, wo sie sich nach Herzenslust hatten tummeln können. Hier wurden die ersten Freundschaften geschlossen mit Schulgefährten und Nachbarskindern und all die fröhlichen Spiele getrieben, die nach Schule und Schularbeit ihnen die freien Stunden so im Fluge hatten dahinstreichen lassen. Von jedem Baum, von jeder Hecke hatten sie liebevollen Abschied genommen. An jedes knüpfte sich ja eine traute Erinnerung. Hier unter der alten Akazie lag Ami begraben, der langjährige treue Wächter ihres Hauses, dem der Biß der tückischen Ratte ein so jähes Ende bereitete – ein trauriges Ende der mit fieberhafter Kampfbegier unternommenen Rattenjagd! In einer anderen Ecke, unter dem Fliederstrauch, in dem im Mai die Nachtigall so süß in linden Mondscheinnächten schluchzte, lag der liebe kleine Hans, der Kanarienvogel, der über Mütterchens Nähplatz sein fröhliches Zwitschern hatte so lange erklingen lassen. Und hinterm Holzstall, wo alte Balken und Bretter aufgestapelt lagen, was waren dort für ruhmreiche Schlachten gekämpft worden – Schlachten, gegen welche die der homerischen Helden ein Kinderspiel waren! Auf der gewaltigen Holzburg, die durch eine hohe Brustwehr aus Brettern und Balken noch uneinnehmbarer gemacht worden war, hatte Helmut mit wackeren Kämpen gestanden, im Geist die Rolle König Gunthers und der Burgunden in Etzels Hofburg spielend, und von unten heran war das wilde Volk der Hunnen herangestürmt, bewehrt mit hölzernen Schwertern und Spießen, um die also Belagerten furchtbar zu bekennen. Blut war zwar nicht in Strömen geflossen, aber so manch böse Wunde war doch dabei den Harken und hölzernen Waschkesseldeckeln geschlagen worden, die man als vorzügliche Schilde heimlich aus Mutters Waschküche entlehnte, Übergriffe im Spieleifer, die freilich hinterher eine gar harte Ahndung durch den erzürnten Vater fanden.
Aber wie wunderbar verklärt erschienen jetzt all diese Jugendtaten! Es war Helmut, als ob er viele Jahre hindurch nur durch den Sonnenschein der glücklichsten Jugend gewandelt wäre und daß er nun aus diesem Eden herausschreiten sollte für immer. Ein Gefühl stiller Wehmut hatte so seine Seele in dieser Stunde beherrscht. Aber seine ganze Natur war doch zu gesund, als daß dies Empfinden mehr als ein Unterton geblieben wäre; über all diese melancholische Weichheit hinweg brach sich doch schließlich kraftvoll wieder das Gefühl der Freude Bahn an der herrlichen, nicht minder verlockenden Zukunft, der er nun mit schwellender Brust entgegenging.
So trat denn auch nun Helmut zu den Eltern, zwar bewegten Herzens, aber doch kraftvoll und freudig, erfüllt von der Zuversicht, daß der Weg, den er nun gehen wollte, der rechte sein würde, ihm selbst und allen seinen Lieben Freude und Glück bescherend.
»Vater – liebe Mutter, nun ist's so weit. Mein Korb steht unten fertig und es wird Zeit, zur Bahn zu gehen.«
Helmut trat auf die Mutter am Fenster zu und, sich von den Geschwistern frei machend, legte er jetzt seinen Arm liebevoll um den Hals der Mutter, die eifrig bemüht war, mit dem Taschentuch die schlecht verhehlten Spuren von Tränen aus dem Antlitz zu entfernen. Nun erhob sie sich von ihrem Sessel und schlang die Arme mit Inbrunst um den Hals des Sohnes.
»Mein Junge, mein lieber Junge!« Ihre Stimme zitterte in tiefster Bewegung. »So wollen wir denn hier Abschied nehmen. Du weißt, ich mag nicht zur Bahn – vor all den fremden Leuten! Hier im Elternhaus will ich dir Lebewohl sagen und dir wünschen – alles wünschen, was ein Mutterherz in solcher Stunde vom Himmel für dich erflehen kann. Bleib mir gesund und wohlbehalten, mein geliebter Junge – bleibe so, immer so, wie du bist! Besseres wüßte ich mir nicht zu wünschen.« Und mit inniger Liebkosung preßte sie den Sohn an sich.
Eine Weile hielten sich die beiden eng umschlungen, dann machte sich Helmut von der Mutter frei und wandte sich dem Vater zu, der gleichfalls herzugetreten war. Auch der Inspektor war in innerster Bewegung, obwohl er bestrebt war, sich dies äußerlich nicht merken zu lassen. Nur an dem Stocken der vor Bewegung fast rauhen Stimme konnte man es ihm anmerken. Er ergriff beide Hände des Sohnes und preßte sie mit einem krampfhaften Druck.
»Na, mein Junge, so wollen auch wir Abschied nehmen! Was wir dir zu sagen haben, deine liebe Mutter hat es dir ja eben gesagt. Du gehst von nun ab deinen Weg allein, aber wir haben das Vertrauen zu dir, daß du ihn fortab auch ohne unseren Rat finden wirst. Handle immer so, daß du es jederzeit vor dir und uns verantworten kannst, so wird ja alles gut werden. Es wird nicht ausbleiben, daß auch die Versuchung so manchmal an dich herantritt. Aber dann, mein Junge, sei fest und denke an diese Stunde. Vor allem hüte dich vor einem: Mache keine Schulden! Du weißt, ich bin nicht in der Lage, dir auch nur einen Pfennig mehr zu geben, als es geschieht. Hüte dich also vor dem Anfang, vor dem ersten Groschen, den du schuldig bleibst. Das ist wie eine Lawine, wenn sich an den winzigen Schneeball Flocke an Flocke ansetzt und bald zu erschreckender Größe anwächst. Ich weiß, daß man die jungen Leute dort in leichtsinniger Weise geradezu dazu auffordert und verlockt, einen ›Pump‹ anzulegen – es gilt das ja wohl auch für forsch und schneidig – aber hüte dich, mein Junge, vor solch falscher Forschheit! Zeig auf andere Weise, daß du ein ganzer Mensch bist. An Gelegenheit dazu wird es dir ja nicht fehlen – also, ich verlasse mich auf dich!« Mit festem Druck schüttelte der Vater noch einmal Helmut die Hand, dann aber ergriff auch er plötzlich dessen Kopf, drückte den Sohn in ausbrechender Zärtlichkeit an sich und preßte ihm einen Kuß auf den Mund.
Den anderen Kindern, die abseits diese ungewöhnliche Szene mit anschauten, wie der große, strenge Vater den hochaufgewachsenen Sohn, der ihn fast noch überragte, in so zärtlicher Weise an sich zog, war dabei recht feierlich zu Mute. Die Bedeutung dieser Stunde kam ihnen voll zum Bewußtsein.
Auch der Mutter ging es im Innersten nahe und noch einmal kam es wie ein leises Schluchzen von ihren Lippen. Auch sie drängte sich jetzt noch einmal heran und seine Schulter umfangend, sich zärtlich an ihn schmiegend, bat sie mit fast flehendem Ton: »Und eins noch, mein geliebtes, einziges Kind! Du wirst dich nicht schlagen, nicht duellieren – nicht wahr, das versprichst du deiner Mutter, die sonst keine ruhige Stunde mehr hätte?«
Helmut hatte tief bewegt, aber mit mannhafter Fassung diese Beweise elterlicher Liebe empfangen, dabei in tiefster Seele entschlossen, alles das zu tun, was von ihm in dieser Stunde voll Vertrauen erwartet wurde. Nun aber zuckte er doch unwillkürlich zusammen, er antwortete nicht gleich. Es bedurfte einiger Sekunden, ehe die wogenden Empfindungen, welche die Bitte der Mutter in ihm loslöste, zu einem bestimmten Entschluß sich gesammelt hatten.
»Liebe Mutter, ich will von Herzen gern alles tun, was ihr von mir verlangt; aber dieses Versprechen mußt du nicht von mir fordern.«
Angsterfüllt blickte die Mutter an seiner Seite auf, doch sie zärtlich beruhigend fuhr er fort: »Sieh mal, Mütterchen, du machst dir gewiß recht falsche Vorstellungen vom Studentenleben. Ich komme ja doch nicht in eine Horde von Raufbolden, die bloß darauf ausgehen, mit allen Leuten Skandal zu bekommen. Wer sich vernünftig und ruhig beträgt, der wird sicherlich auch von anderen in Ruhe gelassen. Und ich verspreche dir hier mit meinem Wort, daß ich in jeder Minute daran denken und niemals Anlaß zu einem Rencontre geben werde. Ich denke, das wird dir genügen, Mutter!«
Frau Berendt war zwar noch keineswegs so völlig beruhigt, aber diesmal kam der Vater Helmut zu Hilfe: »Na, laß gut sein, Frau,« beschwichtigte er sie freundlich und sah dem Sohn dabei voller Vertrauen ins Gesicht. »Wenn uns Helmut das verspricht und hält, kann es uns schon genügen!«
In diesem Augenblick wurden abermals Schritte, diesmal leichte, froh eilende Tritte, auf der Flur draußen hörbar und nach flüchtigem Anklopfen erschien auf den Zuruf des Inspektors Heinz Rickmann auf der Schwelle, der beste Freund Helmuts, der nun mit ihm zusammen nach der Universität reisen wollte. Auch er war im Reiseanzug und freudestrahlend kam er nun hereingestürmt, den Freund zur Fahrt ins sonnige Land der akademischen Freiheit abzuholen. Sein Erscheinen löste alsbald den feierlichen Ernst, der über der Familie gelagert hatte, und von seinem frohen, zuversichtlichen Wesen teilte sich unwillkürlich auch den anderen nun etwas mit.
Der Inspektor begrüßte den Freund seines Sohnes mit herzlichem Händeschütteln.
»Nun, Heinz, das ist recht, daß Sie mit unserem Jungen auch auf der Universität gute Freundschaft halten wollen. Helfen Sie einander und bestärken Sie sich in allem Guten, stehen Sie sich treu zur Seite, wenn's einmal not tun sollte. Und nun reist mit Gott! Wir wollen uns den Weg zur Bahn sparen, es sei genug an diesem einen Abschied! Die Kinder werden euch ja wohl noch das Geleite geben,« setzte er mit einem Blick auf die Geschwister hinzu.
Noch einmal eine innige Umarmung von Vater und Mutter und dann wandten sich die beiden jungen Leute, begleitet von der ältesten Schwester, zum Gehen, hinter ihnen drein die kleinen Trabanten, die sich ungeheuer wichtig und geehrt vorkamen, daß sie dem abreisenden Bruder Studio wenigstens das Gepäck nachtragen durften. So zog die kleine Schar aus dem Haus und Garten hinaus, von der Straße draußen noch einmal mit wehenden Tüchern den Eltern zuwinkend, die vom offenen Fenster aus ihnen nachschauten.
»Mit Gott, mein Junge!«
Es waren die letzten Worte, der Abschiedsgruß, der Helmut beim Verlassen des Elternhauses nachklang. – – –
»Station Kösen!«
Der Schaffner rief es, die Wagentür aufreißend und eiligst den Zug entlang weiterlaufend. Mit freudiger Hast kletterten die beiden jungen Insassen des Abteils – Helmut Berendt und Heinz Rickmann – den Tritt hinunter, froh, daß hier die Fahrt beendet war; denn den Rest der Reise nach Jena hatten sie beschlossen von hier aus zu Fuß zurückzulegen.
Bald hatten sie den Bahnhof hinter sich und schritten nun munter auf der Straße vorwärts, die sie der Saalaue zuführte. Schnell verschwanden auch die letzten Häuser des freundlichen Städtchens rechts und links am Wege, und vor ihnen breitete sich der grüne Wiesenteppich des Flußtales aus, über dem hinten die malerisch geformten Berge anstiegen, jetzt in die wundervollen, buntfarbigen, satten Tinten des Herbstes getaucht. Und rechts, wo der nackte Fels in steilem Sturz sich zur Saale hinabsenkt, tauchte nun plötzlich die alte, weißschimmernde Burg mit ihren malerischen Giebeln und dem spitzen Dach auf dem trutzigen runden Turm auf, die altberühmte Rudelsburg.
»An der Saale hellem Strande!« Hell löste sich die Melodie aus Berendts Mund, der mit leuchtenden Augen die Burg zuerst entdeckt hatte und nun mit dem Stock darauf wies. In begeisterungsvoller Bewunderung blickten die beiden Freunde einige Augenblicke nach dem ehrwürdigen Wahrzeichen einer großen romantischen Vergangenheit hin, die da wie eine Grenzwächterin den Eingang in das gelobte Land der akademischen Freiheit hütete. Denn das wußten beide, daß die Rudelsburg schon mit zum Bezirk Jenas gehörte, daß zu ihr gar oftmals Jenenser Studenten heraufgespritzt kamen, um sich dort zu erfrischen und zu vergnügen.
Schnell machten sich daher die beiden wieder auf den Weg, um dem begehrten Ziele zuzueilen, das dort so verlockend schimmerte. Bald setzte sie der Fährmann über den munter dahintreibenden Strom, dessen dunkle Fluten sich hier in vielfachen Biegungen die Berge entlang wälzten, und dann schritten sie quer über den grünen Wiesenplan hin dem Walde zu. Das war ein lustiges Wandern in der frischen Herbstluft, die so anregend um die Schläfe wehte, während aus dem schon modernden Laub, das unter ihren Tritten raschelnd dalag, jener süße, kräftige Duft aufstieg, der im Laubwald zur Herbstzeit den Wanderer so eigenartig umfängt. Noch lag nichts von der Wehmut des großen Sterbens in der Natur über diesem Wald, eine frohe Lebenslust lockte vielmehr aus der bunten Farbenpracht des Forstes, über dem die warme Mittagsonne strahlte; ein Tag, so recht geschaffen zum Wandern, und von selbst drängte sich ihnen da der ewig schöne und junge Gesang Scheffels auf die Lippen:
»Wohlauf, die Luft geht frisch und rein,
Wer lange sitzt, muß rosten.
Den allersonn'gsten Sonnenschein
Läßt uns der Himmel kosten.
Jetzt gebt mir Stab und Ordenskleid
Der fahrenden Scholaren;
Ich will zur schönen Sommerszeit
Ins Land der Franken fahren!
Valleri, vallera, valleri, vallera.
Ins Land der Franken fahren!«
Mit frischen Stimmen, die weithin durch den schweigenden Wald tönten, schmetterten die beiden jungen Wanderer den flotten Marschrhythmus des Liedes hinaus, mit schnellen Schritten aufwärts steigend.
Eine halbe Stunde mochten sie so gewandert sein und waren schon ziemlich auf der Höhe, da lichtete sich plötzlich zur Rechten der Wald und auf einem frei ragenden Plateau tauchte vor ihren Blicken ein Denkmal auf. Auf einem Stuhl ein herrlicher, schlanker Jüngling, lässig und doch kraftvoll in den Sessel zurückgelehnt, den charaktervollen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, mit der Rechten wie spielend den langen Hieber haltend, und zu seinen Füßen eine halb aufgerichtete Dogge, die mit verständnisvollem Blick zu der sinnenden, jugendlichen Gestalt aufschaute – das wundervolle Denkmal, das Meister Norbert Pfretzschner dem jungen Studenten Bismarck errichtet hat.
Wahrlich, keinen schöneren Platz konnte man sich denken für dieses prächtige Bildnis des Mannes, welcher der deutschen akademischen Jugend vornehmlich so teuer gewesen und der für alle Zeit ein Heros sein wird, der Begeisterung in ihre jungen Herzen strömen läßt.
Auch Berendt und Rickmann standen bewundernd vor dem lebensvollen Bildnis und mit freudigem Stolz hob sich ihre Brust, da sie sich dessen bewußt waren, daß auch sie nun zu den Bevorzugten sich rechnen durften, die den Großen dort besonders als den Ihren ansprechen dürfen. Ohne daß sie es aussprachen, rang sich in dieser Minute in ihnen das begeisterte stumme Gelöbnis durch, es diesem da nachzutun, soweit es in ihren Kräften stand. Froh, frei, stark wollten sie sein wie jener, sie wollten das fröhliche Studentenleben genießen, aber auch in ernster, treuer Arbeit streben nach großen Zielen!
So wandten sie sich denn endlich von dem Denkmal ab und schritten weiter, den Weg auf der Höhe der Berglehne entlang, der sie in wenigen Minuten an ihr Ziel bringen mußte. Noch einmal wurde ihre Wanderung unterbrochen durch ein anderes Monument, ein ernstes, weihevolles Erinnerungszeichen: das Denkmal deutscher Korpsstudenten, die im heiligen Kampfe fürs Vaterland gefallen waren. Auch vor diesem eindrucksvollen Zeichen deutschen Studententums machten sie in ernster Stimmung halt. Wie beredt gemahnte dies Monument daran, daß der deutsche Student doch nicht bloß zu harmloser, fröhlicher Freiheit berufen, sondern auch zu ernster, großer Pflicht, daß er ein Hüter treudeutscher, vaterlandsbegeisterter Gesinnung sein soll, und von Herzen bereit, diese Gesinnung mit seinem Blut zu besiegeln, wenn das Vaterland ruft. Schweigend schritten die beiden Freunde um das Denkmal herum, die lange Reihe der Namen jener überfliegend, die gleich ihnen jugendfroh und hoffnungsvoll zur Universität gezogen waren, um bald darauf, von furchtbar schwerer Schicksalsfügung hinausgedrängt auf die blutige Walstatt, einen ungeahnten vorzeitigen Tod zu finden. Wie ein heiliges Vermächtnis sprachen diese Namen zu ihnen: Genießt eure Jugend, eure Freiheit, aber seid eingedenk, daß hinter aller frohen Lust der große Ernst des Lebens steht! Laßt die Stunden nicht ungenützt und leichtsinnig verrinnen! Wie bald vielleicht werdet ihr Rechenschaft darüber abzulegen haben!
Nun waren nur noch wenige hundert Schritte zurückzulegen auf dem sich windenden Pfade, dann tauchte plötzlich vor ihnen die erste Umwallung auf, die in vergangenen Zeiten den äußeren Burgbezirk umgrenzt hatte. Schnell war dieser durchmessen und nun standen sie vor der Holzbrücke, die über den Burggraben in das verwitterte Tor der eigentlichen, noch heute vorhandenen Burg führt. Gar heimlich und gastlich schaute es an dieser Stätte aus.
In dem alten Gemäuer hat sich eine freundliche Wirtschaft eingerichtet, die dem Wanderer Labung bietet; einzelne der Burgräume sind liebevoll ausgebaut zu gemütlichen Hallen, durch deren tiefe Fensternischen der Blick hinausschweift in das weite, lachende Land drunten zu Füßen. Aber unsere beiden Wanderer ließen sich nicht von der traulichen Enge dieser stimmungsvollen Kneipzimmer locken, sondern es trieb sie hinauf, noch höher, auf die Zinne des Turmes, von dort den schönsten und genußreichsten Blick ins Land zu tun.
Nun standen sie auf dem Söller des alten Turmes und ihr freudetrunkener Blick überflog ringsum das lachende Gefilde, das sich ihnen bot: da drunten in der Tiefe das schlängelnde, glitzernde Band der Saale, das sich um die vorspringenden Berge windet, jenseit des breiten Tales wieder bewaldete Höhen mit freundlichen Winzerhäuschen und Villen besät, nach allen Richtungen weithin Wald und Feld in buntem Wechsel sich streckend bis hinten zur Ferne, wo die dunklen Säume der Thüringer Waldberge aufragen. Und dies ganze herrliche Bild getaucht in das leuchtende Sonnengold, das die bunten Farben des Herbstes in sattesten Tönen schillern und spielen ließ. Dicht unter ihnen umkreiste eine Schar Dohlen krächzend in rastlosem Spiele einen verfallenen Altan, in dessen morschem Mauerwerk sie sich eingenistet hatten. Gleißend wie Metall glänzte im Sonnenschein ihr dunkles Gefieder, von dem es im schnellen Zickzackflug fast, wie Strahlen zu den Augen der Beschauer schoß.
Lange, lange saßen die Freunde dicht aneinander geschmiegt auf der Zinne des Turmes und blickten ins Land hinaus. Wie weit wurde ihnen da das Herz in wogenden Empfindungen! Eine Fülle von wundervollen Bildern stieg vor ihnen auf aus alter Vergangenheit, wo hier ein machtvolles Dynastengeschlecht mit trotzigem Herrensinn gesessen, weithin über die Gaue mit fürstlicher Gewalt herrschend. Wenn diese alten Mauern reden könnten, was hätten sie zu erzählen von großen und bewegten Zeiten! Aber keine wehmutvolle Trauer umwehte diese Stätte, denn hier hatten die Jahrhunderte das Leben nicht zum Aussterben gebracht; wenn auch in anderer Form, es wob doch jugendlich und kraftvoll um diese altersgrauen Steine. Wieder der Herrensitz eines machtvollen Geschlechts war diese Burg geworden – des jugendlichen, nie aussterbenden Geschlechts deutscher Studenten, das hier seinen Vorort gewählt hat. Und wie zum Zeichen klang jetzt plötzlich aus den Burgräumen drunten ein fröhlicher Sang empor:
»Und in Jene lebt's sich bene.«
»Studenten!« Mit leuchtenden Augen rief es Rickmann aus, den Freund anstoßend. Weit beugten sich die beiden über die Zinne vor und richtig, dort unten im Grünen des Burghofes saßen an langer Tafel eine Schar buntbemützter Musensöhne, die inzwischen auch zur Höhe hinaufgestiegen waren, Söhne des benachbarten Jena. Bei fröhlichem Becherschwung ließen sie ihre Lieder erklingen zum Preis der alten Burg und des lieben Jena.
Mit freudiger Bewegung lauschten die beiden dem Sang; gar zu gern wäre Rickmann nun auch hinuntergestiegen in den Burghof und hätte womöglich sich den fröhlichen Sängern angeschlossen. Denn ihn verlangte schon längst danach, nun auch vollen Gebrauch von der akademischen Freiheit zu machen und sich in fröhlicher Kommersstimmung der neuen Würde voll bewußt zu werden. Aber Berendt hielt den Eifrigen zurück und erinnerte daran, daß sie sich jetzt hier nicht festsetzen durften. Nur eine kurze Erfrischungspause, dann hieß es für sie weiter wandern, denn sie wollten ja noch heute zu Fuß nach Jena gelangen. Es gelang auch dem besonnenen Freunde, den Tatendrang seines Gefährten einstweilen noch einmal zu bändigen, und so machten sie sich denn nach kurzer Pause drunten im Hof, wobei Rickmann freilich zwar manch verlangenden Blick nach den Buntbemützten drüben hinsandte, alsbald wieder auf den Weg.
Es war ein wackerer Marsch in der heißen Mittagsonne des Septembertages. Über Kamburg weg, die alte Stadt, die ihnen aus dem Hussitenlied gar wohl geläufig war, und vorüber an Dornburg mit seinen drei Schlössern, das durch Goethes Aufenthalt berühmt geworden, wanderten sie durch das Tal. Dann aber schritten sie wieder die Höhe hinauf auf die jenseits gelegenen Berge. Durch die wundervollen Buchenwaldungen und Nadelholzforste zogen sie dahin in großem Bogen, das »Hufeisen« entlang.
Schon begannen sie einen rechtschaffenen Hunger zu spüren nach dem vierstündigen Marsch – da lichtete sich endlich der Wald vor ihren Blicken. Sie kamen hinaus auf ein steiniges Bergplateau, das eine Strecke weiterhin sich in schroffem Absturz mit scharfem Felsgrat schnell zu Tal senkte, den Jenzig – und zu ihren Füßen lag »im weiten grünen Tal, von der Saale Arm umschlungen«, eine malerisch aufgebaute, altersgraue Stadt mit spitzen Giebeldächern, Zinnen und hochragendem Kirchturm: Jena!
»Thalatta! Thalatta!«
Mit hellem Jubelruf stürzte Heinz Rickmann vor bis an den Abhang des Berges und schwenkte begeistert zum Gruß den Hut durch die Luft, zu dem »alten, lieben Nest« da drunten hinab. Wahrlich, die Freude der Zehntausend mit Xenophon, als sie nach der langen Mühsal der Anabasis endlich das geliebte Meer wieder sahen, konnte nicht größer gewesen sein als jetzt die der beiden jungen Leute, als sie nun zum ersten Male, eng umschlungen, mit leuchtenden Blicken auf Jena herniederschauten, das gelobte Land akademischer Freiheit, in das sie nun auch einziehen sollten.
In all ihrer herzgewinnenden Traulichkeit lag die alte Stadt, die treue Pflegemutter unzähliger Studentengeschlechter, da drunten, ins fruchtbare Grün der breiten Saalaue gebettet, umflossen vom warmen, goldglänzenden Schein der herbstlichen Nachmittagsonne, mit ihren gemütlichen engen und krummen Gassen, mit freundlichem Grün, das sich um altersbraunes Gemäuer schlingt. Wie grüßend lachte sie herauf: Nur her zu mir, ihr junges Volk! Auch euch will ich in Treuen empfangen und beherbergen! Auf gute Freundschaft miteinander!
Wie hätten die beiden solch lockendem Gruß lange widerstehen können? – Im Sturmschritt fast – jede Müdigkeit, jedes Hungergefühl war ihnen plötzlich verflogen – eilten sie zu Tal und schritten wacker aus, ihrem nahen Ziel entgegen.