Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Wieder im »lieben, alten Nest«

Poch, poch, poch!

Schon zum dritten Male klopfte es, und diesmal ziemlich kräftig, gegen Heinz Rickmanns Stubentür. Heinz, der schon beim vorigen Male aus seinem dumpfen Schlaf aufgefahren, aber immer noch halb im Traume war, wurde jetzt doch wirklich munter und horchte auf.

Zum Kuckuck, es war keine Traumvorstellung mehr; nein, es klopfte wirklich! Und diese Tatsache brachte ihn alsbald völlig zur Ermunterung. Vorsichtig erhob er seinen ziemlich schweren und wüsten Kopf aus den Federn, und von der Tatsache dieses Klopfens rückwärts spann sich in ihm eine Gedankenreihe, die ihn durch den tiefen Schlaf der letzten Nacht- und Morgenstunden zu den Schlußereignissen des bewegten gestrigen Tages führte.

Allmählich gestalteten sich diese immer klarer vor seinen forschenden Sinnen. Ja, das war wirklich gestern eine ziemlich böse Sitzung gewesen! Sie hatten Semester-Antrittskneipe in dem Alanenhaus gefeiert; eine stattliche Schar von acht neuen Füchsen war zum ersten Male an der Tafelrunde versammelt und dieses frohe Ereignis war denn in ganz außergewöhnlicher Form festlich begangen worden. In der vorgeschrittenen Stimmung, in der man sich befand, hatte man daher nach dem Schluß der offiziellen Kneipe noch nicht genug getan, sondern beschloß, noch einen Nachtbummel durch die Stadt zu machen, um allerlei fidelen Ulk zu stiften. Es hatte denn auch daran keineswegs gefehlt und zum Schluß hatte man das Standbild auf dem Markt »verschönen« wollen. Aber schließlich ertönten grelle Pfiffe aus mehreren Gäßchen und im Sturmschritt schossen zwei Schutzmänner daher, bereit, sich der Attentäter zu versichern.

Das war nun eine wilde Hetzjagd geworden. Wie verabredet, war die kleine Schar der Unfugstifter nach allen möglichen Seiten auseinander gelaufen, so daß die Hüter der Ordnung einen Augenblick ratlos standen, unschlüssig, wen sie verfolgen sollten. Dadurch war schon ein kleiner Vorsprung gewonnen worden und so war es denn auch Heinz, hinter den sich der eine der beiden Schutzleute dann hergemacht hatte, gelungen, mit Hilfe seiner jüngeren und kräftigeren Beine glücklich aus dem Staube zu kommen. Nach atemloser Flucht war er in den sicheren Hort seines Hauses angelangt, hatte sich dann schleunigst entkleidet und ins Bett geworfen. Ein tiefer Schlummer nahm hier den von allen Taten des ereignisreichen Tages Ermatteten liebevoll in seine Arme und ließ ihn alles vergessen. Nun aber kam plötzlich das Erwachen, und ein nicht sehr behagliches.

Eine dunkle Ahnung sagte Heinz, daß das fatale Klopfen da draußen, das eben schon wieder ertönte, in einem direkten Zusammenhange mit seiner gestrigen Missetat stehen könnte. Es war ja auch mehr als dreist gewesen, dem Standbild des Kurfürsten Band und Mütze einer Jenenser Korporation anzuhängen, so daß die Spur des Täters sehr leicht zu ermitteln war. Möglicherweise stand sogar in der Mütze sein Name eingeschrieben. Da war er dann also glücklich sofort erwischt. Und das wäre ihm sehr wenig angenehm gewesen!

Derartige Ulkstreiche waren nämlich im Laufe der Semester Heinzens Spezialität geworden und hatten ihn schon zu wiederholten Malen in Konflikt mit der Polizei gebracht. Allmählich war sein Sündenregister denn auch derartig bedenklich angeschwollen, daß ihn schon das letzte Mal der Universitätsamtmann zu sich zitieren ließ und ihn mit sehr ernsthafter Miene ermahnte, fortab sich ernsthafter zu benehmen. Falls er sich noch einmal eines groben Unfugs schuldig mache, so würde ihm sehr wahrscheinlich das Consilium abeundi, wo nicht gar die Relegation bevorstehen. Eine Weile hatte denn diese Ermahnung auch vorgehalten. Aber wer weiß, wie es gekommen war, in der gestrigen Feststimmung waren alle guten Vorsätze wieder einmal flöten gegangen und Heinz hatte sich abermals zu einem dummen Streich verleiten lassen.

Bum, bum! Beinahe heftig pochte es jetzt draußen mit kräftiger Hand gegen die Tür, ein lautes Echo in Heinzens Brust wachrufend – das böse Gewissen! Aber was half's? Er konnte sich schließlich hier doch nicht tot stellen; wenn der Schutzmann da draußen von seiner Wirtin erfahren hatte, daß er drin sei, so half ihm alles nichts; er wurde doch abgefaßt. Also heraus aus dem Bett und aufgemacht!

Eins, zwei, drei! war Heinz in die notdürftigsten Kleidungsstücke gefahren, dann eilte er zur Tür und entriegelte sie. Aber wie groß war sein Erstaunen, als da anstatt des befürchteten Uniformierten plötzlich sein alter Freund und Schulgefährte Helmut Berendt vor ihm stand! Das war in der Tat eine angenehme Enttäuschung, und Heinzens Freudenruf kam daher wirklich aus vollstem Herzen, als er nun den alten Gefährten seiner Jugend im Überschwang seines Gefühls an sich riß und vergnügt zu sich in die Stube hereinzog.

»Nein, alter Junge, bist du's wirklich? Das ist ja zu famos! Aber wie in aller Welt kommst du denn hier nach Jena reingeschneit? Ich denke, du drückst nach wie vor den Kontorschemel in Erfurt!«

Helmut machte sich aus den Armen des Freundes los, ergriff mit herzhaftem Druck dessen Hand und schüttelte sie kräftig. Auch seine Augen leuchteten auf in der hellen Freude des Wiedersehens.

»Das war einmal, Heinz; aber dem Himmel sei Dank, ich bin wieder frei, bin wieder Student. Seit gestern wieder hier in Jena! Freilich,« und seine Mienen wurden plötzlich sehr ernst, »leider nicht so, wie ich mir es erwünscht hätte. Ich studiere gegen den Willen meines Vaters und muß daher fortab auf eigenen Füßen stehen. Aber gleichviel, ich lebe doch wieder in der Welt, in der ich einzig und allein gedeihen kann, und das wird mir über alles Bittere hinweghelfen.«

»Was, gegen den Willen deines Vaters?« Höchst erstaunt zog Heinz den Freund zu sich hin aufs Sofa. »Aber erzähl doch nur, wie ist denn das alles gekommen?«

Heinz zog den Freund zu sich auf das Sofa.

Helmut setzte ausführlich auseinander, wie sein Entschluß herangereift war. Er schloß seinen Bericht mit der Hoffnung, daß, wenn sein Vater sich freilich auch jetzt zürnend von ihm abwende, da er gegen seinen ausdrücklichen Willen den kaufmännischen Beruf wieder aufgegeben habe, er ihm doch später wohl verzeihen werde, wenn er ihm erst durch die Tat bewiesen hätte, daß sein Entschluß aus einem heiligen, inneren Drang heraus erfolgt sei, und daß es so das beste für ihn gewesen wäre.

»Armer Junge, da hast du ordentlich was durchmachen müssen!« In aufrichtigem Mitgefühl drückte Heinz dem Freunde die Hand. »Das ist ja ein wahrer Roman, den du erlebt hast! Aber wo hast du dich denn vorläufig untergebracht?«

»Ich wohne natürlich bei Härtels, die wirklich wie Eltern an mir handeln. Es ist geradezu rührend! Aber wie herzensgern sie mir auch ihre Hilfe gewähren, du kannst doch verstehen, Heinz, daß sie mich bedrückt und daß ich nicht eher Ruhe haben werde, als bis ich durch Stundengeben oder andere Beschäftigung mir soviel Geld zu verdienen im stande bin, daß ich aus eigenen Mitteln existieren kann. Es wird ja freilich nur sehr bescheiden gehen, aber ich bringe es fertig – du kannst mir's glauben.«

»Ja, ja, du bist schon der Mann dazu!« Heinz nickte in stiller Bewunderung zu dem Freunde hinüber, und ein Seufzer entfuhr ihm, denn unwillkürlich dachte er an sich. Was würde er wohl in solcher Lage angefangen haben? Er brachte es wohl schwerlich fertig, auf eigenen Füßen zu stehen. War es ihm doch jetzt schon trotz der reichlichen Zuwendung seines Vaters kaum möglich, immer glatt auszukommen. Aber schnell schüttelte er diese beklemmenden Gedanken wieder von sich ab. Nur nicht den Kopf hängen lassen!

»Was die Welt morgen bringt, ob sie uns Sorgen bringt, Freud' oder Leid, danach ich niemals frag'; das schafft mir keine Plag'! Morgen ist auch ein Tag, heute ist heut'!« Dies sein Leiblied war auch so recht sein Lebensleitmotiv geworden. Und so fuhr er denn gleich wieder im leichten Plauderton fort: »Nun sag 'mal, wie sieht's denn in der Familie Härtel aus? Noch alles beim alten?«

Helmut nickte. »Nur daß Lischen nach Weimar in Pension gekommen, wie du ja weißt!«

»Ja, ja, die ist jetzt schon eine große Dame geworden. Ich bin noch im letzten Winter auf der Eisbahn ein paarmal mit ihr gelaufen; ein hübsches Mädel und läuft famos Schlittschuh. Du, eigentlich war das doch recht fidel, wie wir damals so zusammen hausten im ersten Semester; weißt du noch, alter Junge?«

»Ja, ja, Heinz, eine sorgenlose, schöne Zeit! Aber das ist nun vorbei.« Auch Helmut seufzte leicht. »Aber schön soll's drum auch jetzt sein! Ach, Heinz, ich freu' mich ja so sehr auf den ersten Ausflug wieder hinaus auf die Berge, in den Wald, wie ich dir's gar nicht sagen kann. Wenn man ein Jahr lang in engen Festungsmauern und in einer düsteren Kontorstube gesessen hat!« Und Helmut sog aus tiefster Brust die Luft der Freiheit ein, die ihn hier umwehte. »Aber nun erzähle doch von dir, Heinz; ich habe wahrhaftig noch gar nicht gefragt, wie dir's eigentlich geht.«

»Na, danke – ich kann ja nicht klagen,« versetzte Heinz mit einem leichten Anflug von Humor und wippte mit dem übergeschlagenen Fuß, betrachtete aber doch etwas nachdenklich den Hausschuh, der ihm lose vom Fuß herunterhing. »Man lebt und genießt, stellt auch manche Dummheit zwischendurch an – na, kurzum, was man so studieren nennt! Das Leben ist eben eine der zeitraubendsten Beschäftigungen.«

Der leichte Ton des Freundes war nicht nach Helmuts Geschmack. Er hatte zwar kaum erwartet, daß er Heinz in viel anderer Verfassung vorfinden würde; aber dennoch fiel es ihm jetzt recht ernst aufs Herz, daß er den alten Kameraden, der nun schon fünf Semester hinter sich hatte, in solch leichtsinniger Weise über sein Leben sprechen hörte.

»Ja, arbeitest du denn noch immer nicht, Heinz?« fragte er mit Nachdruck.

»Wozu? Die Arbeit ist kein Frosch, die huppt uns nicht davon!« Und Heinz drehte gemütlich die Daumen umeinander.

»Ja, aber Heinz, es wird doch nachgerade die höchste Zeit, daß du endlich einmal dich ernstlich zu beschäftigen anfängst!«

»Gewiß, gewiß!« bestätigte Heinz mit eifrigem Kopfnicken, »ich bin völlig deiner Ansicht. Beschäftigung ist recht gut, sie darf nur nicht in Arbeit ausarten.«

Jetzt aber hatte Helmut genug von diesem Ton.

»Nein, Heinz, so wollen wir nicht weiterreden! Die Sache ist denn doch viel zu ernst, als daß man sie mit so ein paar platten Witzeleien abtun könnte. Sieh, ich habe in diesem letzten Jahr den Ernst des Lebens kennen gelernt. Ich weiß, wie's tut, wenn man aus seiner Karriere hinausgeworfen wird und in ein Leben hinein muß, gegen das sich jede Faser in einem sträubt. Und du, Heinz, treibst diesem Schicksal unfehlbar entgegen. Was soll denn nur aus dir werden, wenn du so weiter wirtschaftest?«

Heinz schwieg still.

»Ich will es dir sagen,« fuhr Helmut dringlich fort. »Dein Vater wird eines Tages die Geduld verlieren, und das wird vielleicht gar nicht mehr lange dauern. Dann holt er dich nach Hause und du erfährst ein ähnliches Los, wie es mir beschieden war; freilich aus anderem Anlaß. Du wirst dich dann genau so unglücklich fühlen, wie ich es tat, ja noch hundertmal mehr! Denn dich wird dann die Reue plagen, der ewig nagende Vorwurf, daß du dir durch eigene Schuld selbst alles verscherzt hast. Sagst du dir denn das nicht selbst manchmal, Heinz?«

Immer noch schwieg Heinz Rickmann still; aber auch sein Gesicht war ernst geworden, ja hatte sogar jetzt den Ausdruck einer gewissen dumpfen Resignation angenommen. Helmut bemerkte diesen Ausdruck bei dem Freund und, von einer inneren Angst getrieben, packte er dessen beide Hände.

»Heinz, laß dich doch wachrütteln!« Und er schüttelte den Freund krampfhaft. »Nicht dieses dumpfe Sichgehenlassen, das Gefühl: es ist ja doch zu spät, ich kann nicht mehr! Ums Himmels willen, nicht das! Du wirst doch noch einen Funken Energie in dir haben, dich aufzuraffen und ein neues Leben anzufangen! Heinz, du bist ja ein Mensch, der was kann, wenn er nur will! Wolle doch nur einmal, und du wirst sehen, es wird dir selbst bald zur größten Genugtuung gereichen!«

»Ja, ja, du hast recht.« Gepreßt kam es aus Heinzens Brust, und eine finstere Falte stand auf seiner Stirn. »Es ist nur so elend schwer, den Anfang zu machen! Wenn man nachher erst drin steht, so glaube ich selbst, geht die Sache wohl von allein. Aber dieser Anfang! Davor fürchte ich mich wirklich. Ich hab's schon ein paarmal versucht, aber es ist stets bei den ersten Schritten geblieben; dann kam ich gleich wieder ins alte Fahrwasser.«

»Gewiß, Heinz, der Anfang ist das Schwerste! Aber komm, ich will dir dabei helfen. Du weißt nicht, Heinz, wie ich mich darauf gefreut habe, auch dich wiederzusehen! Wie oft, wie oft habe ich an dich gedacht und wie leid hat es mir getan, daß unsere Wege so auseinandergegangen sind. Aber nun, wo ich sehe, daß du im Innersten selber keinen Gefallen mehr an deinem bisherigen Leben findest, nun laß uns doch wieder Hand in Hand miteinander gehen. Deinen Couleurbrüdern hast du ja mehr als genug Opfer gebracht. Denke doch nun endlich an dich selbst und auch ein wenig an mich. Sieh mal, Heinz! Ich kann jetzt wirklich einen treuen, ehrlichen Freund gebrauchen, so einsam und verlassen wie ich bin. Komm, laß uns also wieder recht aneinanderschließen! Sei du mir ein Tröster, und ich will dir eine Stütze werden in deinem neuen Leben. Ich will dich diese ersten Schritte auf der neuen Bahn führen, wenn du dich mir anvertrauen willst.«

Mit überzeugender Herzenswärme sprach Helmut und blickte dem Freund tief und bittend in die Augen. Dieser Blick drang Heinz bis ins Innerste und schmolz dort die Schlacken, die sich im Lauf der Zeit angesetzt hatten. Auch in seinem Auge flammte es plötzlich hell und frisch auf, wie in einem neuen, kräftigen Entschluß, und lebendig preßte er die Hände des Freundes.

»Ich danke dir, Helmut, du lieber, guter Junge! Ich weiß, wie gut du es mit mir meinst, und wahrhaftig, ich will es versuchen, ein anderer zu werden. Also auf neue, gute Kameradschaft denn! Und gleich morgen wollen wir mit der Sache anfangen. Ich will mir einen Repetitor suchen, mit dem ich alles einpauken kann, was ich bisher im Kolleg versäumt habe.«

»Recht so!« lobte Helmut. »Aber damit allein ist's nicht getan. Du wirst auch zu Haus arbeiten müssen, und gern will ich da bei dir sein, daß deine Kraft nicht beim ersten vergeblichen Anlauf erlahmt. Und ins Kolleg werde ich dich auch noch bringen, denn der Repetitor allein wird kaum alles tun können.«

»Du guter Kerl!« dankte Heinz dem Freunde nochmals. »Nun hat es wirklich keine Not, und mir ist gar nicht mehr bange: zwei solcher Leute wie wir – wir werden die Arbeit schon zwingen! Nicht? Wär' ja auch noch schöner!«

Schon wieder in der alten fröhlich-leichten Laune scherzend, sprang Heinz auf, um seine Toilette zu vervollständigen.

Nachdenklich sah ihm Helmut dabei zu. Diese plötzlich wiederkehrende leichte Stimmung wollte ihm nicht gefallen; er hatte gehofft, nachhaltiger auf Heinz eingewirkt zu haben. Aber man mußte sich schließlich wohl mit ihm in Geduld fassen. So mit einem Schlage ließ sich die Wandlung gewiß nicht bei ihm vollziehen. Nun, an seiner Hilfe und Ausdauer dabei sollte es jedenfalls nicht fehlen! Das gelobte er sich noch einmal im stillen.

Es war ein trüber Regentag heute gewesen, und über dem Musenstädtchen lagerte eine melancholische Stimmung, doppelt schwer jetzt am Abend, wo den grauen Tag die Dämmerung ablöste.

 


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