Paul Grabein
In Jena ein Student
Paul Grabein

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Im Hörsaal

Das Auditorium war dicht gefüllt; wohl an siebzig bis achtzig Hörer mochten in dem hellen weiten Raum versammelt sein, des berühmten Lehrers gewärtig, der heute seine erste Vorlesung im Semester halten sollte. Es war dies immer ein kleines Ereignis, denn der berühmte Vormann pflegte alljährlich, wenn er von neuem einen Kursus junger Philologen in seine Wissenschaft einzuführen hatte, mit einer seiner berühmten geistvollen Ansprachen auf das Wesen dieser Wissenschaft hinzuweisen.

Die Hörer brauchten nicht lange zu warten. Kaum war der letzte Schlag der alten zitternden Turmuhr oben vom Universitätsgebäude verhallt, da tat sich auch schon die Tür auf und der Erwartete trat ein, eine hohe, aber etwas gebeugte Gestalt; aus dem faltenreichen Antlitz mit dem silberweißen Haar leuchtete ehrfurchtgebietendes Wissen.

Mit donnerndem Trampeln wurde der gefeierte Lehrer empfangen. Im ersten Augenblick war Helmut ordentlich erschrocken über diese Art des Grußes, die ihm völlig neu war. In der Schule pflegte eine solche Kundgebung gerade das Gegenteil von Sympathie zu bedeuten. Hier dankte der Lehrer mit freundlichem Lächeln mehrfach nickend für die ihm gewordene Auszeichnung. Sich langsam auf dem Katheder niederlassend, begann er dann seine Hefte zu entfalten. Lautlose Stille herrschte, als er zu sprechen anhub:

»Meine Herren! Es ist meine Aufgabe, Sie in das Gebiet der vergleichenden Sprachforschung einzuführen. Es ist ein weites, auf den ersten Blick schwer zu übersehendes Gebiet, auf das Sie da treten. Was Sie bisher davon im Schulunterricht kennen gelernt haben, das mag Ihnen vielleicht nicht sehr lebensvoll erschienen sein. Sie haben sich aber da nur in dem vielfach dürren und trockenen Vorland aufhalten müssen. Aber nun folgen Sie mir getrost weiter hinein in dieses weite Gebiet und bald werden Sie sehen, daß sich ein Wunderland vor Ihnen auftut.

»Was Sie bisher für tote Formen gehalten haben, das sehen Sie allmählich Leben gewinnen. Ja, ein lebensvolles, gewaltiges Gebilde ist die Sprache des Menschen! Nichts Feststehendes, nichts Erstarrtes. Täglich, stündlich wechselt sie ihre Gestalt; hier fällt Überlebtes ab, dort entwickelt sich Neues. Wunderbare Anpassungen können Sie in diesem lebendigen Organismus erkennen, Anpassungen an das Nützliche und Zweckmäßige, wie Sie dies in der Naturgeschichte ja getan haben. Genau dieselben Gesetze walten auch hier.

»Um aber dies alles richtig verstehen zu können, dürfen Sie nicht am Studiertisch bleiben; nein, gehen Sie hinaus und blicken Sie mit frischfröhlichen Augen um sich, in diese Welt der Sprache hinein auf Ihren Wanderungen, wozu Ihnen ja gerade unser schönes Thüringer Land so viel Gelegenheit bietet. Machen Sie hier Ihre Beobachtungen. Thüringen ist überhaupt gewissermaßen ein ideales Gebiet für solche Forschungen, dieses Land, wo so viele deutsche Sprachgebiete zusammengrenzen, wo die verschiedensten Stämme germanischer und slawischer Rasse nebeneinander hausten und sich im Laufe der Jahrhunderte verschmolzen haben. Aber doch heute noch vermag der Forscher genau die Grenzlinie dieser Gebiete zu unterscheiden, ja oft läßt sich von Dorf zu Dorf, bisweilen sogar selbst von Dorfteil zu Dorfteil die Grenzlinie verfolgen. Lernen Sie da die lebendig wirkenden Sprachgesetze erkennen und verstehen!

»Aber auch sonst können Sie allenthalben im Leben für Ihre Wissenschaft wertvolle Beobachtungen machen. Hören Sie hin, wie das Volk spricht, studieren Sie die Sprache der einzelnen Stände, die jeder für sich eine kleine lebensvolle Welt darstellen. Ja selbst von den Kleinsten der Kleinen, von den Kindern können Sie für sich lernen. Hier walten – Sie werden das namentlich bei den charakteristischen Wort- und Satzbildungen finden – dieselben Gesetze vor, wie sie bei naiven Völkern im Kindesalter lebendig wirksam gewesen sind. Tun Sie das alles und Sie werden die Sprache lieb gewinnen, immer mehr wird sie Ihnen ihre Wunder zeigen.

»Die Sprache ist ein Spiegel des Kulturlebens der Menschen, gewissermaßen eine archäologische Fundstätte, die uns in ihren einzelnen Schichten aus geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeiten die kulturelle Entwicklung der Menschheit rückwärts verfolgen läßt mit allen ihren charakteristischen Niederschlägen. Aus diesen Fundstücken lassen sich die interessantesten kulturhistorischen Rückschlüsse ziehen. Die Philologie stellt sich Ihnen somit auch als eine höchst wertvolle Schwesterwissenschaft der Historik dar; sie verhilft dieser dazu, oft wahrhaft gewaltige Perspektiven zu eröffnen.

»Nur ein Beispiel sei hier für viele erwähnt: Wenn Sie – wie ich Ihnen das an gegebenem Ort des näheren darstellen werde – sehen, wie in fast allen Kultursprachen Europas und Zentralasiens die Bezeichnungen für Vater und Mutter von einem gleichen Urstamm abzuleiten sind, so läßt das einen unwiderruflichen Rückschluß auf eine große indogermanische Völkerwiege zu, auf ein Herausfließen des ganzen Völkerstromes aus einer gemeinschaftlichen Quelle. So wirft unsere Wissenschaft oftmals ein überraschendes, aufklärendes Licht in das tiefste Dunkel grauer Urzeit, wo alle Marksteine der Geschichte längst aufgehört haben, uns zu leiten. Darum noch einmal: Lernen Sie unsere Wissenschaft kennen, achten und lieben, meine Herren!«

Während der greise Gelehrte in seiner warmherzigen, begeisterten Weise mit leuchtenden Augen so sprach, war sein ehrwürdiges Haupt umleuchtet von dem Sonnenschein, der warm durch die Fenster fiel, wie von einer Gloriole. Helmut überkam ein hehres, reines Gefühl; er fühlte sich in dieser Stunde im Allerheiligsten der Wissenschaft und mit freudigem Stolz beseelte ihn das Bewußtsein, daß er selbst einst dazu berufen werden sollte, ein Priester in diesem Tempel zu werden.

Wie er dann, als das Kolleg zu Ende war, noch ganz den gewaltig anregenden Gedanken nachhängend, die da eben in seine Seele gedrungen waren, durch die Straßen schritt, seiner Behausung zu, und über den Marktplatz kam, wo fröhliche Studentenhaufen mit ihren bunten Mützen vor den Weinstuben saßen, da war es kein Gefühl heimlicher Sehnsucht mehr, das seine Blicke zu jenen hingezogen hätte. Nein, er neidete ihnen ihr Vergnügen nicht; fühlte er doch in dieser Stunde im tiefsten Innern, daß ihm auf seinem Wege hohe, reine Freuden beschieden waren, um die jene sich so manchmal im fröhlich leichten Sinn der Jugend brachten.

Aber nichts war ihm ferner, als darum etwa ein weltscheuer Einsiedler zu werden. Nein, er war sich dessen sicher, er würde Freunde, gleichgesinnte Arbeitsgenossen finden, die ihm auch frohe Kameraden in den freien Stunden sein würden. Und mit ihnen wollte er hinausschweifen in lustiger Wanderfahrt, hinauf auf die Berge, deren dunkle, malerisch geschwungene Linien dort so verlockend über die alten Zinnen und Dächer hinwegwinkten. Und mit einem seligen Vollgefühl seiner jungen Freiheit schritt er so vom ersten Gang zur Arbeit nach Haus.

 


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