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Helmut war beim Packen seines Koffers. Mit welch anderen Empfindungen barg er jetzt seine Habe in dem Behälter, als damals, als er von Jena Abschied nahm! Wie er so dem altbewährten Koffer seine Habseligkeiten anvertraute, Stück für Stück hineinlegte, beschlich ihn ordentlich ein warmes Gefühl der Rührung; es war ihm, als habe er hier mit einem altvertrauten lebenden Reisegefährten zu tun.
Der Koffer da hatte auch gar treulich Leid und Freud mit ihm geteilt seit den Tagen, wo er aus dem Elternhause geschieden war. Auch die erste Reise hatte er mit ihm nach Jena gemacht. Was für stolze, schöne Hoffnungen hatte er damals mit seiner fahrenden Habe auf die Reise mitgenommen! Und was war dann daraus geworden?
Auch jetzt wieder, nach langen Tagen der Trübsal, packte er den Koffer, mit gläubigem Vertrauen auf eine bessere Zukunft, aber doch weit anders, als damals. Nicht stürmte er mehr wie der Jüngling mit tausend Masten hinaus auf den Ozean des Lebens; nein, bescheiden und still, wenn auch mit festem Entschluß, trat er die neue Reise an, nicht ohne eine Beimischung von Trauer und Sorge. Denn diesmal begleiteten ihn nicht die Segenswünsche von Vater und Mutter, sondern ohne sie, ja gegen den Willen seines Vaters, ging er diesmal auf die Reise! Auf eigenen Füßen wollte er stehen, allein fortab seinen Weg machen.
Des öftern hielt daher Helmut jetzt beim Packen an und verlor sich in ernstes Sinnen. Da klopfte es plötzlich an die Türe, und seine Wirtin erschien. Die Meisterin meldete den Besuch eines Herrn Bankier Kleber, wenn sie recht verstanden hätte.
Kleber – Herr Adolf Kleber, sein Chef? Helmut blickte erstaunt, fast erschrocken seine Wirtin an; ja, was konnte der von ihm wollen? Herr Kleber war zwar am Morgen bei seinem Austritt aus dem Geschäft nicht zugegen gewesen; sollte er nun etwa anderer Meinung als sein Sozius, Herr Stern, sein und sich nicht mit seinem so plötzlichen Austritt aus dem Geschäft einverstanden erklären? Sollte sich ihm im letzten Augenblick, da er schon die Schwingen ausbreiten wollte zum Flug in die Freiheit, ein unübersteigbares Hindernis in den Weg stellen?
»Bitte, führen Sie den Herrn herein.«
Helmut sprach es mit leise bebender Stimme; aber seine Züge verrieten die feste Entschlossenheit, sich nicht aufhalten zu lassen auf dem Wege, den er gewillt war zu gehen. Durch wollte er, mochte kommen, wer und was da wollte!
Mit sehr ernster, fast finsterer Miene stand Helmut da, als Herr Kleber nun zu ihm ins Zimmer trat. Sein bisheriger Chef zeigte sein gewohntes, gutmütig-freundliches Gesicht, als er jetzt eintrat; ja es machte sich sogar unverkennbar eine gewisse Verlegenheit auf seinen Zügen bemerklich.
»Sie werden sich wundern, Herr Berendt, mich hier zu sehen,« begann er, nachdem sich die Tür hinter Helmuts Wirtin wieder geschlossen hatte. Die ganze Art Herrn Klebers zeigte Helmut sofort, daß dieser unmöglich in feindseliger Absicht zu ihm kam, und mit dieser Wahrnehmung wurde auch seine eigene Miene alsbald heller und freundlicher.
»O bitte,« sagte er zuvorkommend und nötigte seinen Besuch zum Platznehmen. »Sie müssen nur entschuldigen – es sieht sehr unordentlich bei mir aus. Aber wie Sie sehen, bin ich gerade beim Packen.«
»Ich sehe, allerdings.« Herr Kleber zog, während er sich auf dem Stuhl niederließ, seine Stirn über der goldenen Brille in bedauernde Falten. »Sie sind also wirklich entschlossen, uns zu verlassen?«
»Allerdings, Herr Kleber.« Fest entgegnete es Helmut, dem bisherigen Chef offen ins Auge sehend. »Ich darf wohl annehmen, daß Herr Stern Sie von meinem Entschluß und seiner Begründung in Kenntnis gesetzt hat.«
»Gewiß – natürlich,« beeilte sich Herr Kleber zu versichern. »Aber trotzdem wollte ich doch noch einmal bei Ihnen vorsprechen. Es sind besondere Gründe, die mich dazu bewegen. Ich muß Ihnen ganz offen sagen, lieber Herr Berendt, es tut mir leid, außerordentlich leid, daß ich heute morgen nicht auf dem Kontor war; ich bilde mir ein, es wäre vielleicht anders gekommen.«
Helmut zuckte nur stillschweigend die Achseln.
»Ich bin durch die Mitteilung meines Sozius recht peinlich berührt worden,« fuhr Herr Kleber fort. »Unter uns gesagt, Herr Stern ist ein ausgezeichneter Geschäftsmann, aber er hat nicht immer die rechte Art, sich zu geben. Und das mag wohl mit schuld daran sein, daß es überhaupt zu Ihrem heutigen Entschluß gekommen ist. Ich mache kein Hehl daraus: ich überlasse die Leitung der geschäftlichen Angelegenheiten gern meinem Sozius, der, wie erwähnt, wirklich ein ausgezeichneter Kaufmann ist, und in dessen Händen die Leitung unseres Geschäfts schon zuzeiten meines Vaters lag. Aber gerade in einem Falle wie dem Ihren – ohne Herrn Stern zu nahe zu treten – muß ich doch offen gestehen,« und Herr Kleber blickte Helmut treuherzig durch die Brillengläser an, »fühle ich mich, für Herrn Stern und mich, etwas schuldig, Ihnen gegenüber und nicht minder Ihrem Herrn Vater, der Sie uns voll Vertrauen zugeführt hat. Ich muß mir jetzt sagen, daß man sich offenbar nicht genügend um Sie kümmerte. Wenn es zwar auch sonst nicht üblich und notwendig ist, so hätte doch in Ihrem besonderen Falle entschieden eine gewisse besondere Sorgfalt um Ihre Einführung in das kaufmännische Leben, in den völlig neuen Beruf, dem Sie sich widmen wollten, angewandt werden müssen, und es ist da ohne Zweifel allerlei verabsäumt worden. Auch unser Prokurist ist nicht die geeignete Persönlichkeit, einem Neuling gerade von Ihrer Art besondere Lust zum Kaufmannsstande einzuflößen – auch sonst ist manches im Geschäft nicht erfreulich – ich weiß es wohl, lieber Herr Berendt! Sehen Sie, und darum bin ich hier, um, wenn es irgend möglich ist, wieder gut zu machen, was etwa gefehlt wurde.«
Helmut war wirklich ehrlich gerührt von der treuherzigen, wohlmeinenden Art, wie Herr Kleber da zu ihm sprach. Er hatte den Chef bisher immer für einen zwar gutmütigen Menschen, aber auch für einen starken Phlegmatiker gehalten, der es sich gut sein ließ auf der Welt, ohne sich sonderlich mit anderer Leute Angelegenheiten den Kopf zu beschweren. Aber daß er nun sich eigens herbemühte und so offen zu ihm sprach, das ließ jenen plötzlich erheblich in seiner Wertschätzung steigen und ihn mit anderen Augen ansehen.
»Es ist wirklich außerordentlich gütig von Ihnen, Herr Kleber,« erwiderte daher Helmut, »daß Sie so zu mir sprechen, und ich danke Ihnen von ganzem Herzen dafür! Ja, ich muß offen sagen, daß, wenn dies früher geschehen wäre, ich vielleicht das Vertrauen gewonnen hätte, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen und mich so mit dem neuen Berufe wirklich zu befreunden. Aber nun, nach allem, was geschehen ist, und wie sich nun einmal alles in meinem Innern gestaltet hat, muß ich ganz offen erklären: Es ist nun zu spät, ich kann nicht mehr zurück.«
»Das sehe ich selbstverständlich ein, daß Sie nicht wieder in unser Geschäft eintreten können,« beeilte sich Herr Kleber zu versichern. »Ich kann Ihnen das vollständig nachempfinden. Überdies muß ich Ihnen ohne weiteres zugeben, daß gerade unser Geschäft nicht der richtige Ort für Sie war, um sich mit dem kaufmännischen Berufe zu befreunden. Sehen Sie, lieber Herr Berendt, es ist mir ähnlich wie Ihnen gegangen. Auch ich hatte einst andere Pläne für die Zukunft, ich hatte mein Abitur gemacht und wollte studieren wie Sie. Es war mein innerster Wunsch, schon seit der Tertianerzeit. Na, aber es kam dann anders. Mein Vater, der, wie schon gesagt, Mitinhaber unserer Firma war, bestand aus Familienrücksichten unbedingt darauf, daß ich sein Nachfolger werden sollte, und so blieb mir denn weiter nichts übrig, als mich seinem Willen zu fügen. Sie dürfen mir glauben, es ist mir das wahrhaftig nicht leicht geworden. Die erste Zeit stand ich meinem neuen Berufe fast völlig teilnahmlos gegenüber und grollte meinem Geschick, das mich zu der unbefriedigenden Arbeit zwang. Aber allmählich wurde die Sache anders; ich fand mich in das Unabänderliche und söhnte mich schließlich mit meinem Berufe aus. Na, und Sie sehen ja,« Herr Kleber blickte lächelnd an seiner wohlgenährten Erscheinung herunter, »daß es mir nicht gerade schlecht bekommen ist. – Und darum, mein lieber Herr Berendt, meine ich nun, auch Sie werden sich vielleicht doch noch mit der Sache befreunden. Nur müßten Sie eben das Geschäft unter einem völlig anderen Gesichtswinkel kennen lernen, als gerade bei uns. Sie müßten hinaus an einen großen Handelsplatz, so nach Hamburg zum Beispiel, denke ich mir, wo die Maschen des Weltverkehrsnetzes zusammenlaufen, wo Sie merken, daß es etwas Großes um Verkehr und Handel ist, um den deutschen Handel besonders, der heutzutage den ganzen Erdball umspannt, der sich vor allen Nationen sehen lassen kann, auf den wir Deutsche ohne Übertreibung wirklich stolz sein dürfen! Sehen Sie, wenn Sie da in einem großen Exporthause säßen und Fühlung bekämen mit dem Pulsschlage des Weltverkehrs, wenn Sie dann später selbst nach beendeter Ausbildung hinausgeschickt würden von Ihrem Hause in ferne Erdteile, dort jahrelang sich umtäten, manch Neues und Reizvolles schauten, und sich zu einem weitblickenden, wirklich gebildeten Kaufmann herauswüchsen, wie er in unserer Zeit gerade besonders gebraucht wird – das meine ich, wäre doch etwas anderes! Da könnte auch ein Mann wie Sie Lust und Liebe zur Sache gewinnen! Da wäre Ihre gute Vorbildung nicht verloren, sondern würde Ihnen nur in jeder Beziehung zu statten kommen und Sie rascher aufsteigen lassen. Glauben Sie doch nicht, daß Sie sich Ihr Leben lang als Kommis oder Buchhalter herumdrücken sollen! Einem Manne wie Sie, der so in die Welt hinauskäme, wäre doch ein großer Erfolg auch im kaufmännischen Berufe sicher. Wenn Sie sich draußen tüchtig gezeigt haben, können Sie nachher Prokurist werden und vielleicht gar Teilhaber. Nun, und ich meine, als Mitinhaber einer großen Exportfirma in Hamburg oder Bremen, oder wo es sonst sei, stellt man doch auch etwas im Leben vor; nicht wahr, mein lieber Herr Berendt? Na also, um es kurz zu machen, – ich möchte Ihnen vorschlagen: Werfen Sie doch die Flinte nicht so eins, zwei, drei ins Korn! Versuchen Sie die Sache einmal auf die Art, wie ich es Ihnen eben zeigte! Ich habe gute Beziehungen in Hamburg; ich will nicht zu viel versprechen, aber ich glaube sicher, daß ich Sie dort plazieren könnte. Also wie wär's, wollen Sie es nicht einmal noch so versuchen? – Wie mir Herr Stern erzählte, beabsichtigen Sie jetzt, gegen den Willen Ihres Herrn Vaters sich von neuem dem Studium zuzuwenden. Sie werden sich ja selbstverständlich klar darüber sein, was das bedeutet, so etwas aus eigener Kraft durchzuführen. Würde es Ihnen nicht auch eine innere Beruhigung gewähren, wenn Sie diesen Konflikt mit Ihrer Familie vermeiden könnten? Ich möchte Ihnen das wirklich noch einmal recht warm ans Herz legen: Hüten Sie sich vor einem übereilten Schritt, mein lieber Herr Berendt, der Sie vielleicht doch einmal später reut!«
Helmut schwieg. Die gut gemeinten Worte, aus denen so manches Einleuchtende klang, rüttelten noch einmal stark an seinem Entschluß. Die Aussicht, dem Zwiste mit seinem Vater aus dem Wege zu gehen, ohne Sorgen um seine Existenz leben zu können, hinauszukommen aus engen Verhältnissen in die Weite, ferne Länder und Völker kennen zu lernen – das alles war wohl geeignet, ihn noch einmal zum Nachdenken wachzurufen.
Mit ernster Miene blickte Helmut so minutenlang vor sich hin, auf seinen Zügen die Anzeichen heftigen inneren Kampfes. Ja, wenn ihm solche Aussichten gleich zu Anfang eröffnet worden wären! Wohl möglich, daß sie ihn gereizt hätten, daß er mit vollster Befriedigung sich auf diesen Weg geschlagen hätte. Aber nun – er durfte sich nicht darüber täuschen – war es doch zu spät, und noch gewaltiger als all das, was ihm Herr Kleber in so wohlmeinender Absicht da zeigte, lockte ihn die Wissenschaft, die hehre, stille Freude am Forschen und immer tieferen Eindringen in reife, innerlich befreiende Erkenntnis, die Sehnsucht nach dem reinen, strahlenden Licht, das das Innere erwärmend und belebend durchleuchtet. Und so richtete sich Helmut entschlossen auf.
»Ich danke Ihnen wirklich aus tiefstem Herzen, Herr Kleber, für Ihre gütige Teilnahme!« beteuerte er ehrlich und streckte dem wohlwollenden Manne die Rechte hin. »Ich werde Ihnen niemals diesen Beweis Ihrer Teilnahme vergessen. Aber so leid es mir tut, muß ich Ihnen doch in dieser Stunde sagen: Ich kann leider Ihrem wohlgemeinten Rat nicht folgen! Ich habe mich mehr als einmal aufs ernsteste geprüft und auch jetzt kann ich nur wieder dasselbe sagen: ich fühle mich hingezogen zum Studium, wie zu keinem anderen Berufe. Und wenn ich es mir unter den bittersten Entbehrungen und Opfern erkaufen sollte, beim trockenen Stück Brot würde ich wahrlich froher und glücklicher sein, als bei jedem Wohlleben sonst!«
Herr Kleber erhob sich. »Ja, wenn es so steht, mein lieber Herr Berendt, so tun Sie freilich recht daran, wenn Sie es so machen, wie Sie es sich vorgenommen haben. Da bleibt mir nichts übrig, als Ihnen zu sagen: Folgen Sie dem Zuge Ihres Herzens und werden Sie glücklich dabei!«
Herzhaft schüttelte er dem jungen Manne die Hände und schied dann von ihm. Helmut blieb allein zurück, aber in gehobener Stimmung. Daß auch sein bisheriger Chef ihm schließlich zugestimmt hatte bei seinem Entschlusse, das gab ihm die erhöhte Zuversicht, daß er recht getan. Und nun wollte er den neuen schweren Weg mit freudigem Vertrauen gehen; komme auch, was da wolle!