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Ach nein, das ist doch zu abscheulich!«
Lischen warf unmutig das französische Lesebuch vor sich auf den Tisch und stützte die sorgenschwere Stirn in die Hand. Zehn Minuten zerbrach sie sich schon den Kopf über eine Satzbildung des französischen Autors, ohne deren Sinn entziffern zu können.
Der große Eifer, mit dem sie ihre Lektüre begonnen hatte, war daher auf dem Punkt, zu erlahmen. Es konnte auch eigentlich kein Mensch verlangen, daß man sich bei der Hitze, wie sie heute in den Mittagstunden im Garten brütete, so abquälen sollte, und nötig war es doch eigentlich auch nicht. Als Schülerin der obersten Klasse, wohin sie nun im Laufe der Zeit glücklich avanciert war, mußte sie zu Michaelis ihr Abgangszeugnis bekommen, ob sie nun ihre französische Übersetzung tadellos machte oder nicht. Na, noch einmal wollte sie's mit der dummen Stelle versuchen, wenn es aber dann nicht ging –! Und Lischen steckte abermals das Gesicht ins Buch, den Kopf auf beide Hände gestützt.
Plötzlich hörte sie schnelle Schritte den Kiesweg heraufkommen, und nun stand ein großer Schatten in der Tür des Gartenpavillons, ihres Lieblingsplätzchens, vor dem draußen das brennende Sonnenlicht über dem Rasenbeet flimmerte. Ordentlich erschrocken fuhr Lieschen in die Höhe. Ach, dem Himmel sei Dank, es war ja Helmut Berendt! Und ein freudiger Gedanke durchzuckte plötzlich ihr Köpfchen.
»Sie kommen wie gerufen, Herr Berendt!« rief sie dem Ankommenden entgegen. »Ich zerbreche mir schon eine Viertelstunde den Kopf, kann aber aus dieser dummen Stelle nicht klug werden. Bitte, helfen Sie mir doch ein bissel.«
Herr Berendt hatte ihr schon manchmal bei derartigen kleinen Sorgen hilfreichen Beistand geleistet; aber heute setzte er sich nicht flugs zu ihr, wie er sonst getan hatte, sondern blieb unbeweglich auf seinem Platz am Eingang der Laube stehen und fragte nur mit einer Stimme, die sehr aufgeregt klang: »Entschuldigen Sie, Fräulein Lischen – aber ich bin heute wirklich nicht in der Verfassung. Ich glaubte, Ihre Frau Mutter hier zu treffen – ist Ihre Mutter nicht zu Hause?«
»Nein, Mama ist fortgegangen. Aber sagen Sie doch, was ist denn nur? Sie sehen ja zum Erbarmen aus!«
Helmut hatte in seiner inneren Erregung den Hut abgenommen und wischte sich nun mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn, den nicht allein die Hitze des Sommertags dort hervorgebracht hatte.
Einen Augenblick schwieg er, im Zweifel, ob er das, was ihn im Innersten bewegte, dem jungen Mädchen sagen sollte. Aber sie hatte ihm ja stets wie eine Schwester so viel Interesse gezeigt, und es war ihm Bedürfnis, zu einer befreundeten Seele ein Wort von dem zu sprechen, was sein Inneres so sehr in Aufruhr brachte. So entfuhren ihm denn die wenigen, aber bedeutungsvollen Worte: »Ich habe eben eine Mensur gehabt.«
»Was? Nicht möglich!« In höchster Überraschung schlug Lischen freudig in die Hände. Das fand sie zu famos! Nun war Herr Berendt, den sie sonst ja recht gut leiden mochte, in ihren Augen erst ein wirklicher Student. Denn von ihrem Bruder wußte sie's nicht anders, als daß das Pauken nun einmal zum Bruder Studio gehörte. Mit eifrigstem Interesse überflog ihr Blick suchend sein Antlitz. Aber vergebens, keine Spur eines Schmisses war dort zu entdecken.
»Sie haben Ihren Gegner abgeführt?« entfuhr ihr die Frage. Und man sah's an dem Aufleuchten ihrer Augen, wie stolz sie darauf war, daß der Freund ihres Hauses gleich das erste Mal sich einen solchen Erfolg errungen hatte.
Trotz der tiefen Erregung, des bitteren Ernstes, die von Helmut Besitz ergriffen hatten, mußte dieser doch lächeln über ihre naive Freude. Wenn sie ahnte, wie es in ihm ausschaute! Langsam schüttelte er den Kopf und ließ sich nun auf der Bank in der Laube neben ihr nieder.
»Nein, Fräulein Lischen, es kam nicht dazu; die Mensur ist nicht zu Ende geführt worden – der Gendarm erschien plötzlich.«
»Was, Sie sind geklappt worden?« Im ersten Augenblick spürte Fräulein Lischen selbst ein kleines Entsetzen. Dann aber rutschte sie mit einem schleunigen Ruck dicht an ihn heran. Das war ja zu interessant, ein wahrer Roman – o, davon mußte er erzählen!
»Aber nein, sagen Sie bloß, wie ist das alles gekommen?« Er mußte nun alles haarklein berichten.
Mit gespanntem Interesse hörte sie bis zu Ende zu, dann aber meinte sie tröstend: »Na, so schlimm wird das ja nicht werden. Vielleicht bleibt's nur bei dem Abfassen. Ich kann mir doch nicht denken, daß Sie wirklich angeklagt werden sollen – wegen einer einfachen Schlägermensur! Das ist doch gar kein richtiges Duell. O, wenn mein Bruder jedesmal deswegen angezeigt worden wäre, der wäre ja gar nicht aus dem Loch herausgekommen!« Und Lischen brach in ein helles, fröhliches Lachen aus, so vergnüglich kam ihr die Geschichte vor.
Aber Helmut war es nicht möglich, in ihren frohen Ton einzustimmen. Ernst blickte er vor sich hin und langsam kam es von seinen Lippen: »So harmlos wird die Geschichte bei mir nicht ablaufen; ich bin ein Pechvogel. Die Sache von heute ist mehr als ein Schreckschuß. Ich habe mich eben erkundigt, bin auch auf der Polizei gewesen und habe gehört, daß gerade in den letzten Tagen strenge Anweisung aus Weimar gekommen ist, dem Mensurwesen wieder einmal etwas stärker auf die Finger zu sehen, weil gerade in letzter Zeit viele Studenten mit frischen Schmissen nach Weimar ins Theater und in die Restaurants gekommen sind und dort Ärgernis erregt haben. So werde ich wohl gerade daran glauben müssen, gleich beim ersten Male. Ja, wenn man Unglück haben soll!« und Helmut ließ trübe den Kopf in die aufgestützte Rechte sinken.
Einen Augenblick betrachtete ihn Lischen voll Mitleid, dann aber kamen ihr schon wieder tröstlichere Gedanken.
»Nun, wenn es wirklich dazu kommt – den Kopf abreißen können sie Ihnen doch nicht! Und die paar Monate Festung, das ist doch bald vorbei; das hat ja schon mancher in Jena durchmachen müssen.«
»Bei mir wird das leider nicht so glatt abgehen,« beharrte Helmut in seiner ernsten Auffassung. »Meine Eltern, besonders mein Vater, denken eben sehr streng in diesen Dingen; sie hatten mich beim Fortgang auf die Universität noch ausdrücklich ermahnt, mich ja nicht in eine Mensur einzulassen. Und nun, nicht nur das, sondern obenein auch noch Festungshaft! Passen Sie auf, Fräulein Lischen, es nimmt ein böses Ende – ich fürchte, ich bin die längste Zeit in Jena gewesen.«
»Nicht doch!« Nun selber geängstigt, legte Lischen Helmut die Hand auf den Arm. Das konnte sie sich gar nicht vorstellen, daß der gute Helmut Berendt, der wie ein Freund, wie ein Bruder bald zwei Jahre mit ihnen im Hause gelebt hatte, aus ihrer Mitte gerissen werden sollte! Und mit warmherziger Teilnahme drang sie nun auf ihn ein und versuchte, ihm solche trübe Gedanken auszureden. Aber als ihr Helmut von seinem Vater und seiner strengen Auffassung noch mehr berichtet hatte, mußte sie schließlich zugeben, daß die Sache ein recht ernstes Aussehen hätte.
»Ach, Sie Armer,« seufzte sie in herzlichem Mitleid und drückte mitfühlend seine Hand. »Aber sollte es denn wirklich keine Möglichkeit geben, Sie vor dem Schlimmsten zu bewahren?«
Sie dachte hin und her und machte ihm allerlei Vorschläge. Aber es fand sich nichts. Das einzige, was sie ihm schließlich raten konnte, war das, wenigstens vorläufig den Eltern nichts von der ganzen Geschichte zu berichten.
Helmut sträubte sich zwar gegen Lischens Rat, denn seiner geraden Natur wäre es ein Bedürfnis gewesen, von dem Schlag, der ihn betroffen hatte, sofort nach Hause Nachricht zu geben. Aber Lischen wußte ihn schließlich mit ihren Gründen zu überzeugen. Es sollte ja nicht aus Feigheit geschehen, sondern aus Rücksicht auf die Eltern. Es wäre ja schließlich doch möglich, daß die Sache niedergeschlagen würde; wozu sollte er dann seine Eltern unnütz ängstigen? – Nachher war immer noch Zeit, ihnen die Sache zu gestehen, wenn sie gut abgelaufen war.
Wohl wehrte sich Helmut noch gegen diesen Vorschlag, den ihm die kleine Freundin in eifrigem Zureden annehmbar zu machen suchte. Aber schließlich siegte der Gedanke an seine Mutter. Er wußte, wie sie in den langen Wochen und Monaten bis zur gerichtlichen Entscheidung der Sache leiden würde, und um ihretwillen beschloß er, ihr diese Qual zu ersparen und vorderhand über die Sache zu schweigen.
Mit diesem Entschluß erhob er sich denn nun.
»Herzlichen Dank, Fräulein Lischen, für Ihre Teilnahme und für den gut gemeinten Rat!« Mit festem Druck preßte er die Hand der guten kleinen Kameradin, die er heute wie eine Schwester liebgewonnen hatte. »Es tat mir so wohl; ich werde Ihnen diese Stunde nicht vergessen. Nun ist mir schon wieder etwas leichter ums Herz.« Und mit nochmaligem herzhaften Händedruck schied er von ihr, um auf sein Zimmer zu gehen.