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Es war noch in früher Morgenstunde. Helmut, schon völlig angezogen, ging in lebhafter Erregung ungeduldig in seinem Zimmerchen auf und ab. Jeden Augenblick mußte ja der Postbote kommen und die Botschaft seines Vaters bringen, die er mit stürmischem Herzklopfen, mit peinvollem Hoffen und Bangen erwartete. Nach langem Kampfe hatte sich Helmut dazu entschlossen, den Vorschlag der guten, lieben Härtels anzunehmen, aber er wollte zuvor noch ein Letztes versuchen. So hatte er denn an seinen Vater geschrieben, ihm seine verzweifelte Lage geschildert und ihn beschworen, es doch noch einmal versuchen zu wollen und ihn zum Studium zurückkehren zu lassen. Was würde nun die Antwort auf diese Bitte sein, die er mit blutender Seele geschrieben?
Da endlich klang draußen die Klingel, und eine Minute später brachte ihm die Wirtin den erwarteten Brief wirklich ins Zimmer. In fliegender Hast öffnete er das Schreiben, das er nun mit bebenden Blicken überflog.
Der Vater schrieb ihm, daß er durch seinen Brief aufs höchste und bedauerlichste überrascht sei. Er hätte alles andere erwartet, als jetzt nach wenig mehr als halbjähriger Tätigkeit im neuen Beruf den Wunsch, diesen wieder aufgeben zu dürfen. Er müsse offen gestehen, daß ihn diese Unbeständigkeit sehr unangenehm berührt habe. Es könne ja auch nicht anders sein; denn wenn jemand, der kaum in einen Beruf hineingerochen, diesen schon wieder wechseln wolle, so sei dies unbedingt ein beklagenswerter Beweis mangelnder Energie und Ausdauer.
Helmut möchte doch überlegen, was andere davon denken sollten, zum Beispiel sein Geschäftsfreund, durch dessen Vermittlung er ihm die Stelle in seinem jetzigen Geschäft verschafft hätte, seine Chefs, die Herren Stern und Kleber selbst, die in so entgegenkommender Weise ihn gleich angestellt hätten, und vor allen Dingen auch hier die Leute in der Heimat!
Helmut hätte doch wahrhaftig alle Veranlassung, das wieder gut zu machen, was er in seiner Unbedachtsamkeit gefehlt, seinen guten Ruf wieder herzustellen, den er leichtsinnig aufs Spiel setzte. Und wenn ihm selbst schon nicht daran gelegen sei, so möchte er doch auch einmal an seine Familie, an ihn, seinen Vater, denken, dessen Namen er doch trüge, und der wahrlich schwer genug unter den Folgen seiner Handlungsweise gelitten hätte.
Kurzum, Helmut solle ausharren, mit der Zeit würde er sich schon einleben in den neuen Beruf und auch Befriedigung darin finden. Vor allem solle er nur den guten Willen dazu zeigen, und alle Gedanken, die ihn davon ablenkten, nicht erst groß werden lassen.
Er könne ja wohl verstehen, daß Helmut sich nicht ganz leicht in seinen neuen Beruf hineinfände, aber mit der Zeit würde das gewiß anders werden. Er möge sich auch nicht durch falsche und übertriebene Vorstellungen von den Lichtseiten des akademischen Berufes beirren lassen. Auch dort sei keineswegs alles so rosig bestellt.
Was Helmut jetzt locke, sei doch in der Hauptsache die frohe, ungebundene Studentenzeit; aber die nähme gar bald ein Ende, und nachher im Beruf des Akademikers sähe es genau so nüchtern und prosaisch aus, wie anderswo. Helmut möge da seines Vaters reiferen Erfahrungen vertrauen. Kurzum, er könne nach allem nur erwarten, daß Helmut seine Pflicht und Schuldigkeit tue und gewissenhaft ausharre in dem neuen Beruf, was gewiß sein Schaden nicht sein werde. Er wäre dessen sicher, daß Helmut selbst ihm im späteren Leben einmal dafür dankbar sein würde, daß er ihm hier in eine Laufbahn hineingeholfen habe, die ihm bei seinen guten Anlagen und der nötigen Energie gewiß eine sehr günstige Stellung zu bieten vermöge. Es sei dies sein letztes und ernstliches Wort, und er hoffe, nichts mehr von anderen törichten Plänen und Wünschen zu hören. –
Helmut ließ den Brief auf den Tisch sinken, in tiefster Niedergeschlagenheit. Eine wehe Bitterkeit überfiel ihn, daß der Vater ihn so gar nicht verstand. Hatte er denn keine Ahnung davon, wie zerrissen sein Herz war? Es gab doch noch etwas anderes im Leben, als bloß das gute Versorgtsein!
So brütete Helmut eine Weile dumpf vor sich hin, dann nahm er noch einmal den Brief des Vaters zur Hand. Gewissenhaft, wie er war, las er Wort für Wort und prüfte sich daraufhin, ob er im stande wäre, des Vaters Willen zu erfüllen. Hatte dieser nicht doch vielleicht recht damit, wenn er schrieb, daß ihn nur die frohe, ungebundene Studentenzeit locke? Sei ehrlich gegen dich selbst in dieser Stunde der Entscheidung! rief er sich warnend zu, und unerbittlich prüfte er sein ganzes Wollen und Begehren. Aber wie sehr er auch sein Empfinden zerfaserte, er konnte und mußte offen bekennen: nein, es war wirklich nicht das!
Gewiß, wohl würde ihm auch das studentische Leben wie eine Wonne erscheinen im Gegensatz zu seinem jetzigen Dasein. Aber nicht das war es, was den Ausschlag gab, sondern der Wunsch, eine ernste Gedankenarbeit, einen wissenschaftlichen Beruf ausfüllen zu können, der ihn im tiefsten Innern befriedigte. Mochte auch späterhin das Berufsleben manche mechanische Arbeit mit sich bringen, dessen war er sich sicher: es würden immer Stunden stillen, geistigen Weiterstrebens für ihn abfallen, die ihm die höchste innere Befriedigung bringen würden.
Je mehr sich Helmut klar darüber wurde, desto kraftvoller kämpfte sich sein Entschluß zum Licht empor, das zu tun, wozu ihn sein Herz trieb, worin er seine Lebensaufgabe erkannte. Aber dann kamen doch wieder quälende Bedenken: Würde er die Kraft besitzen, den schweren Kampf um seine Existenz durchzuführen? Denn das stand selbstverständlich für ihn fest, von der Güte der braven Familie Härtel wollte er nur den allermindesten Gebrauch machen. Vielleicht daß sie ihn in den ersten paar Tagen als Gast bei sich aufnahmen und verpflegten; aber dann wollte er selbstverständlich durch Stundengeben sich die Mittel verschaffen, aus eigener Kraft zu leben. Er hatte ja von so manchem anderen gehört, dem es auch geglückt war; warum sollte es also ihm fehlen, der gewiß einen eisernen Willen und ungebrochene Tatkraft dazu mitbrachte?
Allmählich schwanden denn auch diese zaghaften Bedenken und es rang sich eine freudige Gewißheit in Helmut durch, daß er dem Kampfe mit all seinen Schwierigkeiten gewachsen sei. Er vertraute auf sich und seine gute Sache, und so kam denn sein Entschluß zu stande.
Sofort setzte er sich hin und schrieb an Herrn und Frau Härtel, wie die Antwort seines Vaters ausgefallen sei, und was er nun zu tun gedächte. Um den Brief schnellstens an seinen Bestimmungsort gelangen zu lassen, nahm Helmut ihn noch mit zum Bahnpostamt, ein Umweg, der zusammen mit der Verzögerung durch das Briefschreiben ihn erst mit starker Verspätung in seinem Kontor eintreffen ließ.
Wie Helmut erwartet hatte, war denn auch der Empfang hier ein entsprechender. Unpünktlichkeit galt im Hause Stern & Co. nahezu für ein Verbrechen an der Zeit und dem darin steckenden Arbeitskapital der Herren Firmainhaber. So wunderte sich denn Helmut keineswegs, als er beim Betreten des vorderen Kontorraumes auf seinen Gutenmorgengruß vom Prokuristen der Firma mit lauter Stimme sehr ungnädig angelassen wurde.
»Wo haben Sie denn so lange gesteckt? Es ist bereits dreiviertel neun! Na, Sie können sich auf einen liebenswürdigen Empfang im Privatkontor gefaßt machen! Herr Stern ließ sagen, Sie möchten sofort, wenn Sie da wären, zu ihm kommen. Viel Vergnügen!« setzte der Kontorherrscher mit grimmiger Ironie hinzu, indem er heftig die Feder ausspritzte.
Helmut ging gelassen durch den Raum und trat sofort, ohne abzulegen, ins Privatkontor ein. Er fand dort Herrn Stern allein vor; Herr Kleber, der sich gern ein gewisses Wohlleben gönnte, pflegte noch nicht zu so früher Stunde zu erscheinen.
»Sie wünschten mich zu sprechen, Herrn Stern?« Ruhig trat Helmut dem Chef gegenüber.
»Allerdings! Ich bin im höchsten Grade verwundert, daß Sie sich eine derartige Verspätung gestatten. Sie wissen doch, welchen Wert ich auf das pünktliche Erscheinen meiner Herren lege und gerade von Ihnen, als dem Jüngsten des Hauses, durfte ich wohl die allerminutiöseste Pünktlichkeit verlangen!«
»Gewiß, Herr Stern,« erwiderte Helmut mit leichter Verneigung, »und ich bitte auch vielmals um Entschuldigung für dieses Zuspätkommen. Es hatte aber einen sehr wichtigen Grund – ich hatte eine unaufschiebliche Privatsache zu erledigen.«
»Wie, eine Privatsache? Und darum vernachlässigen Sie Ihre geschäftlichen Pflichten?« In höchster Erregung drehte sich Herr Stern auf seinem Drehstuhl nach Helmut um und sah diesen verständnislos an. Etwas Derartiges war ihm in seiner ganzen kaufmännischen Praxis noch nicht vorgekommen. »Na, verwundern kann mich das ja schließlich nicht! Nach allem, was ich in letzter Zeit von Ihnen gehört habe, ist Ihr Interesse an meinem Geschäft ein derartiges gewesen, daß man sich nichts anderes von Ihnen versehen kann. Von einem Menschen, der in den Kontorstunden Verse macht, muß man schließlich auf alles gefaßt sein.«
Ah, da lag der Hase im Pfeffer! Der Kassenbote hatte Helmut also beim Chef verklatscht. Einen Augenblick wallte es zornig in Helmut auf, aber dann wurde er vollkommen ruhig. Er fühlte sich plötzlich so erhaben über diese Situation, daß er mit völliger Gelassenheit erwidern konnte: »Sie sind, äußerlich besehen, vollkommen im Recht, Herr Stern. Es ist in der Tat ohne Zweifel etwas Unerhörtes, daß ein junger Kontorangestellter Gedichte macht, und Sie würden es auch wahrscheinlich nicht zu verstehen im stande sein, welche Motive ihn dazu getrieben haben. Ich bekenne also rückhaltlos: Ich bin für das kaufmännische Geschäft, so sehr ich diesen Beruf auch sonst schätze, nicht geeignet, und das ist auch der Grund, weshalb ich Sie bitten möchte, mich aus meiner Stellung zu entlassen, und zwar so bald wie möglich – am liebsten auf der Stelle.«
Mit offenem Munde starrte Herr Stern den Sprecher an. Ja, war denn der Mensch noch bei Sinnen? Erst lief sich der Vater, oder vielmehr sein Freund hier, fast die Beine ab, um dem jungen Mann, dem es offenbar in seiner akademischen Karriere schief gegangen war, einen Unterschlupf zu verschaffen, und nun warf dieser selbe Mensch ihm den ganzen Kram vor die Füße?
»Gestatten Sie mir zunächst nur eine Frage, Herr Berendt. Weiß Ihr Herr Vater denn von Ihrer Absicht?«
»Allerdings, aber er billigt sie nicht.«
»So sind Sie also gar nicht berechtigt, mir Ihre Stellung zu kündigen!«
»Mit dieser Auffassung sind Sie im Irrtum, Herr Stern« – ruhig entgegnete es Helmut – »ich bin mündig, also gesetzlich berechtigt, für mich selbst zu kündigen. Im übrigen werde ich von dieser Stunde ab – wie ich allerdings nur zu meinem schmerzlichen Bedauern sage – meinen Lebensweg allein gehen müssen, ohne die Hilfe und Zustimmung meines Vaters.«
»Ah, das ist freilich etwas anderes!« Herr Stern erhob sich und seine Stimme nahm einen frostigen Klang an. »Unter diesen Umständen akzeptiere ich allerdings Ihre Kündigung sofort und halte es selbst für das Wünschenswerteste, wenn unsere Wege sich ohne Verzug trennen.«
Helmut erwiderte seinerseits mit einer ruhigen Verbeugung.
»Ich danke Ihnen, Herr Stern. Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen.«
Abermals eine kurze Verbeugung, die Herr Stern mit einem kaum merklichen Kopfnicken erwiderte. Dann verließ Berendt das Privatkontor.
Im Geschäftslokal draußen gab es nahezu einen Aufstand, als der Volontär, oder, wie ihn der Kassenbote nannte, der Lehrling Helmut Berendt plötzlich an sein Pult trat, seine dort befindlichen Privatutensilien ruhig herausnahm und dann zum Hut griff, um sich dem gesamten Personal des Hauses Stern & Co. mit kurzen Worten zu empfehlen. Schweigend wurde sein Abschiedsgruß aufgenommen.
Aber kaum war er aus der Tür, so brach ein wahrer Sturm der Entrüstung über Helmut los. Doch was verschlug ihm das? Hinter ihm lag ja jetzt alles, was da drin ihn eingezwängt und gekränkt hatte; vor ihm aber leuchtete das sonnige, wonnevolle Land der Freiheit, und er wollte nun noch einmal darin einziehen mit neuem Hoffen und ernstem Wollen, als ein in schmerzlichem Leid Gereifter, der festen Schrittes den neuen Weg ging.