Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Zehntes Kapitel

Dianas Wahl

Die goldene oberpriesterliche Kopfbinde glitzert zwischen den dunkelgrünen Zweigen des Lorbeergebüsches, durch das ein schmaler labyrinthisch gewundener Pfad nach dem Urnentempelchen hineinführt.

Der Hainkönig tritt heraus.

Begleitet von den zehn Priestern, die einer nach dem anderen erscheinen, kommt er geradeswegs auf die Gruppe am Baume zu.

Das kann niemand wundernehmen, denn selbstverständlich muß er zuerst dem Träger des goldenen Zweiges mitteilen, mit wem er ringen soll.

Aber groß ist das Staunen, als er sich nicht an den Germanen, sondern an Rufus wendet: –

»Dich, o Herkules, hat die Göttin durch das Los auserkoren, um die Priesterschaft der Zwölfe gegen diesen Eindringling zu verteidigen. Den stärksten, ihren Herkules, den sie sonst nie in den Kampf schickt, hat sie erwählt, um zu zeigen, daß ihr Heiligtum für solche, die die Majestät des Principats in der geheiligten Person des Augustus mit der Waffe angreifen, kein Asyl werden darf.«

Mit einem würdigen Kopfnicken nimmt Rufus die Botschaft auf.

Es ist fast eine bewußtlose Bewegung. Denn noch kann er kaum fassen, was geschehen ist: so sehr ist ihm die Vorstellung, daß ihn die Auslosung nicht angeht, in Fleisch und Blut übergegangen.

Es ist wie ein Wunder! Worum er so oft kniefällig gebeten hat, bis er in herber, bitterster Ergebung aufgehört hat es zu tun, – jetzt ist es geschehen!

Dies ist die Erlösung, die Entsühnung!

Oder verhält es sich, wie er vorher zu Marcus sagte: nicht der Zorn rächender Gottheiten hat das ersehnte Los in der Urne zurückgehalten, sondern eine gütige Vorsehung hat es getan, damit er nicht stürbe, ohne zuerst die Botschaft zu hören, mit der heute sein Schwager zu ihm kam – die Kunde von der Unschuld seiner Frau?

Wie schön stimmt es hiermit überein, daß sofort der Befreier kam – den er verkehrterweise in Marcus begrüßt hatte. Dieser befreite ihn nur von dem falschen Wahn, in dessen Schatten er vierzehn lange Jahre dahingelebt hatte. Als nun aber damit der Zweck seines Bleibens in diesem Leben erfüllt ist, da kommt sofort der endliche Befreier, der ihm auch diese Atlaslast eines schuldigen Lebens von den müden Schultern heben soll.

Wie Schuppen fällt es ihm jetzt von den Augen, und diese Augen leuchten auf in unsagbarer, dankerfüllter Freude.

Und doch verbirgt sich in dem tiefen Grunde dieser Freude etwas wie eine leichte Enttäuschung – jene Enttäuschung, die unausbleiblich dem sicheren Besitz eines ersehnten Zieles auf der Ferse folgt, weil die Leidenschaft und Angst des Sehnens plötzlich dahin sind. So sehr ist Unsicherheit das Element des Sterblichen, daß vollkommene Gewißheit sogar dem Erwünschtesten etwas raubt. Was aber ist völlig gewiß außer dem Tod, den Rufus jetzt in der Hand hält?...

Aber noch etwas. Hat er nicht vorher zu Marcus gesagt, er hieße noch heute den Tod willkommen, wenn dieser kommen wollte; einige kurze Stunden jedoch möchte er noch vor sich haben, um an seine Fulvia zu denken, so wie sie jetzt in ihrer Unschuld vor ihm steht? Aber diese Stunden sind ihm nicht vergönnt gewesen. Seitdem ist zu viel Neues und Unerwartetes auf ihn eingestürmt, als daß er so recht an sie hätte denken können. Zwar hat ihn während der ganzen Zeit ihre neubelebte Unschuldgestalt umschwebt, er ist sich ihrer Gegenwart hold bewußt gewesen; doch zum stillen, vertrauten Verkehr konnte es nicht kommen. Und jetzt, da ihm die Hauptsache gesichert ist, fühlt er, daß ihm diese Frist zum Auskosten seiner neuen Erkenntnis auch noch hätte vergönnt werden können. Doch nach dem Kampfe, wenn er nach kurzer Scheingegenwehr sich von dem Germanen hat werfen lassen, hat er noch geraume Weile, um sich dieser geistigen Gegenwart Fulvias ungestört hinzugeben.

Droben über dem Tempelgiebel, gerade unter dem dunklen Pinienschirm schwebt die volle Mondscheibe so blaß und so duftig wie ein halbdurchsichtiges Wölkchen. Erst wenn sie der dunklen Nachtwölbung als ein fester Kristalldiskus eingefügt ist, der sein Licht über den ganzen Bergkessel ausgießt und seine Strahlen vom Spiegel der Göttin zurückwerfen läßt – erst dann kommt die feierliche Stunde, wo sich sein Grab öffnet. Ist es der Eingang zu einem neuen Leben, in welchem ihm seine Fulvia begegnet? Er hat sich nie mit diesem Gedanken abgegeben! war es ihm doch bis heute unmöglich, eine solche Begegnung herbeizusehnen. Jetzt freilich ist es anders. So alt sein Herz ist, so pocht es einen Augenblick fast jugendlich bei dieser Frage. Aber er will nicht bei etwas verweilen, was eine täuschende Vorspiegelung sein mag. Schon das Entrinnen aus dem Gefängnis dünkt ihn Gewinn genug.

Marcus ist kaum weniger betroffen als er selber, so sehr hat die Überzeugung des Schwagers, daß ihn die Ziehung des Loses nichts angehe, sich seiner bemächtigt. Er muß mit Macht einen Ausruf des Entsetzens zurückdrängen. Hat Titus ihm nicht erzählt, daß er oft auf seinen Knien gebetet habe, das Los möge ihn treffen, und daß in diesem Falle der Neuling einen leichten Sieg gewinnen werde? So kann er denn über die Absicht des Alten nicht im Zweifel sein. Er blickt ihn forschend an und liest in den immer ruhiger und heiterer werdenden Zügen die Bestätigung; er wagt es aber nicht, ihn anzureden.

Und noch einer ist schwer betroffen: der Germane. Auch sein Blick ruht traurig auf Rufus.

So muß er nun diesem freundlichen Alten den Tod geben! Es sind doch Priester genug da, der eine schlimmer anzusehen als der andere, mit denen er hätte ringen können! Nur diesen und den jungen, der für ihn eingetreten ist, hätte er ausgeschlossen gewünscht. Und nun muß das Los gerade den Herkules treffen, wie ihn die Priester nennen, der in seinem hohen Alter schlechterdings ihm gegenüber keine Aussicht hat, mag auch der dumme Oberpriester auf die Körpergröße seines Herkules vertrauen!

Aber alsbald wird er von dieser trüben Betrachtung durch den Hainkönig zurückgerufen, der jetzt in die Einhegung tritt.

»Schützling der Göttin, du hast gehört, welchen Gegner Diana dir gegeben hat. Mache dich also zum Kampf bereit und überreiche mir den goldenen Zweig, der dich beschützt hat. Solltest du als Sieger aus dem Kampfe hervorgehen, so wirst du ihn wieder von mir empfahn, um ihn bis morgen zu hüten. Wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, ist die Zeit gekommen, wo er durch meine Hand zum Baum zurückkehren muß.«

Der Germane übergibt ihm den Zweig, dessen goldener Glanz weithin leuchtet, als der Hainkönig nun, in die Öffnung der Einhegung tretend, ihn feierlich erhebt und durch die Luft schwingt:

»Wachehabender Priester! walte deines Amtes.«

Der Alte des Euripides, wenige Schritte von ihm bereitstehend, erhebt seine scharfe, gellende Stimme: –

»Gebet Acht!
Die Stunde ist da –
die heilige Stunde des Haines!
Gericht der Göttin.
Habet Acht!

Diana richtet im Ringkampf.
Diana kürt ihren Priester!
Diana wählt ihr Opfer!
Entfernt euch!
Diana ist nah.
Blickt nicht hin!
Diana schaut.
Harret in heiligem Schweigen!
Erwartet Dianas Ruf durch Priestermund!
Habet Acht!«


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