Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Achtes Kapitel

Der Hauptmann

Ich diente in den letzten Jahren unter Pontius Pilatus in Palästina. Dies kleine Judenvolk ist nun nicht nur die am meisten verachtete, sondern auch die unruhigste Nation. Alle Augenblicke treten dort religiös-politische Fanatiker auf, die der Menge den Haß gegen das menschliche Geschlecht, sofern es nicht beschnitten ist, predigen, und durch ihr Aufwiegeln die öffentliche Ordnung in Gefahr bringen. Kurz bevor ich ankam, hatte gerade der Fürst Herodes einen solchen Halbverrückten, der die Menschen taufte und ausrief, daß das Reich ihres Gottes bald kommen und die Herrschaft der Römer umwerfen würde, ergreifen und enthaupten lassen.

Nun war einer seiner Jünger erstanden, der auch die Leute taufte und Jünger ausschickte, um zu taufen und das Herankommen des Gottesreiches zu verkünden und Wunder zu verrichten, wie er selber. Denn man sagte, und ich habe es von Augenzeugen gehört, daß er durch bloßes Händeauflegen langjährige Krankheiten heilte; sogar so starke göttliche Kräfte sollten ihm innewohnen, daß auch solche, die sich herangedrängt und nur sein Kleid berührt hatten, von ihrem Siechtum verlassen wurden.

Dieser Jesus, wie er hieß, hatte bisher seine Wirksamkeit auf sein Heimatland beschränkt, eine entfernte nördliche Provinz, welche die Juden kaum noch als jüdisch gelten ließen. Nur mehr oder weniger verworrene und wohl auch recht übertriebene Gerüchte waren bis zu uns gedrungen.

In diesem Frühjahr jedoch kam er mit einem Gefolge von vielen Jüngern nach Jerusalem, und zwar an einem jener großen Feste, deren die Juden so viele haben. Durch die Steigerung des religiösen Fanatismus, der bei diesem Volke nur durch eine schmale Grenze von dem politischen getrennt ist, verursachen sie immer mehr oder weniger Unruhe und bedeuten so eine stets erneute Gefahr. Weshalb denn auch Pilatus beim Herannahen eines solchen Festes jederzeit besorgt und übler Laune war, ja dem Tag fluchte, an dem ihn Tiberius in dies Wespennest geschickt hatte.

Es sollte auch diesmal und zwar recht ernstlich so kommen.

Der Prophet, dem ein so großer Ruf vorausging, wurde vom Volk, besonders von den niederen Klassen, mit großem Jubel empfangen. Auf einem Esel reitend durchzog er die Straßen, die Leute warfen ihre Kleider auf den Weg, schwenkten Palmzweige und nannten ihn ihren König, der von Gott geschickt sei, um sein Reich zu gründen. Dies bedeutete freilich nichts ganz Ungewöhnliches, denn solche Straßenumzüge machen überhaupt einen Bestandteil dieses Festes aus, das unseren Saturnalien sehr ähnelt, besonders wie sie im Heere in den Standorten unserer Legionen gefeiert werden; so daß ich es zuerst für eine Nachahmung derselben hielt, bis ich mich überzeugte, daß die Juden lange vor ihrer Bekanntschaft mit uns diese Gebräuche von den Persern und den Babyloniern übernommen haben. Diesmal bekam jedoch das Ganze ein ernsteres Aussehen. Der neue jüdische Saturnalienkönig verschaffte Pilatus einige sorgenvolle Stunden.

Nicht ungern hörte er deshalb, daß die Priester und die geistliche Behörde der Juden über den Propheten und die an sein Auftreten sich knüpfenden Vorkommnisse ebenso ungehalten waren wie Pilatus selber. So sehr ihm sonst diese törichten religiösen Streitigkeiten der Juden verhaßt sein mußten, weil sich immer die Gefahr politischer Unruhen darin verbarg, so bequem schien ihm jetzt diese Spaltung zu kommen, die der Volkserregung einen Damm entgegensetzte, ohne daß er sich zu rühren brauchte.

Sie nahm jedoch bald eine Schärfe an, die gerade das heraufzubeschwören drohte, was er am meisten fürchtete.

Eines Tages nämlich schleppten die Priester und ihr Anhang Jesus vor sein Tribunal und verlangten stürmisch, er solle den Gotteslästerer und Aufrührer kreuzigen lassen. Dieser habe dem Volke verboten, dem Cäsar Steuern zu bezahlen; er habe gedroht, den Tempel abzubrechen, und er habe sogar – denn das schien das Schlimmste zu sein – sich selbst für den Sohn des höchsten Gottes erklärt. Denn für diesen hält dies Winkelvölkchen seinen eigenen Nationalgott, der es doch weder vor den Assyrern und Persern noch vor uns hat retten können.

Diese Wendung der Sache war Pilatus höchst zuwider. Denn bei dem großen Anhang, den der Prophet in der Stadt zu besitzen schien, befürchtete er, die den Priestern gewährte Hinrichtung des Propheten könnte die Ursache eines Aufruhrs werden. Diese Befürchtung war, wie sich zeigte, unbegründet, und Pilatus hätte sich selbst davon überzeugen können. Mir wenigstens schien es, daß die große Menge, die vor dem Gerichtssaal lärmend den Kreuzestod dieses Jesus verlangte, wesentlich dieselbe war, die ihn noch vor wenigen Tagen umrubelt hatte.«

»Und so wird es auch gewesen sein, Marcus; denn das war von je die Art des Pöbels.«

»Durch ein kurzes Verhör überzeugte sich Pilatus, daß er nur einen recht harmlosen Schwärmer vor sich hatte. Freilich war er nicht wenig beleidigt, daß dieser Jesus ihn, der doch über Leben und Tod gebot, kaum einer Antwort würdigte, indem er auf seine Frage: ›Bist du der König der Juden?‹ nur entgegnete: ›Du sagst es.‹ Wenn dies nun auch einem Eingeständnis zur Hauptbeschuldigung der Juden gleichkam, so lag doch darin nichts Aufrührerisches, und Pilatus gedachte schon, sich durch ein recht sinnreiches quid pro quo aus der Sache zu ziehen. Den Propheten wollte er nach einer Geißelung mit der Mahnung laufen lassen, Jerusalem zu meiden. Die wütende Judenmenge aber, die offenbar Blut sehen wollte, meinte er dadurch zu befriedigen, daß er ihr einen schon zum Tode verurteilten Aufrührer überlieferte, damit sie mit diesem ihre blutigen Saturnalienspäße treiben könnten. Denn diese endeten damit, daß sie einen gewissen bösen Haman in der Gestalt eines Verbrechers, oder wenn ein solcher nicht zu haben war, einer Puppe, henkten. Zufällig hieß nun gerade jener Aufrührer auch Jesus, das ist Retter, Therapeut mit dem Zunamen »Sohn des Vaters«; wie ja auch der Prophet als der Sohn eines Gottvaters aufgetreten war. So schien das Fatum selber sie dazu bestimmt zu haben, gegeneinander ausgetauscht zu werden. Aber der Pöbelhaufe, den die Priesterschaft fest in der Hand hatte, schrie und tobte, wie nur ein orientalischer Pöbelhaufe schreien und toben kann: er wolle den falschen Propheten aus Galiläa und keinen anderen am Kreuze hängen sehen.«

»Und Pilatus gab nach? Er war immer ein Mann ohne Rückgrat, wenn auch zuweilen gewalttätig.«

»Ja, leider gab er nach, und ich erhielt den Befehl, mit einer Wache von ausgesuchten Soldaten Jesus mitsamt zwei Räubern vor der Stadt kreuzigen zu lassen ... Nun hatte ich diesen Menschen kaum noch gesehen, oder doch nur aus der Ferne und undeutlich, wie man jemand durch ein Gewirr von Armen und Tüchern und Palmenwedeln gewahr wird. Auch muß ich gestehen, daß ich trotz des vielen Geredes, das von ihm umlief, kein großes Begehr verspürt hatte, ihn zu sehen. Was war mir ein ungewaschener Wüstenprediger, mochte ihm auch ein Schwarm leichtgläubigen Gesindels noch so lärmend nachlaufen? Auch angenommen, er besäße einige Heilkräfte, so hatte ich keine Gebrechen, von denen ich mich durch Anfassen seines Gewandes zu befreien brauchte. So focht mich denn dieser Auftrag nicht sonderlich an.

Als ich nun aber in die Gerichtshalle trat, da erschrak ich.

Du kennst ja, o Titus, von Abbildungen her, den Zeuskopf des Phidias zu Olympia. Nun wohl, eben diesem sah er ähnlich. Schon die Umrahmung des Gesichts: das vom Scheitel glatt niederwallende Haar und der geteilte Bart, nur daß das Haar nicht goldig sondern schwarz war, wodurch die Gesichtsfarbe noch heller wurde und die edlen Züge wie in Elfenbein geschnitten schienen. Vor allem aber der Ausdruck, von dem man ja gesagt hat, daß wer Phidias' Zeus gesehen, nie mehr ganz unglücklich werden könnte. Da verstand ich denn, daß dieser Jesus auf viele einen so unwiderstehlichen Eindruck gemacht hatte, daß er ihnen als ein göttliches Wesen, ja gar als der Heiland der Welt vorgekommen war. Denn auch wir, o Titus, haben ja den Augustus als solchen verehrt. Diesen habe ich nur alt und von langer Krankheit mitgenommen gesehen, und selbst so war er anbetungswürdig; im Glanze seiner Jugend aber, wie er aus dem Weltbrand der Bürgerkriege siegreich und friedenbringend hervorging, muß er wohl dem Volke als ein göttliches Wesen vorgekommen sein: jedoch, nach seinen besten Bildnissen zu urteilen, mit jenem nicht vergleichbar.

Und diesen Mann sollte ich wie einen gemeinen Verbrecher hinrichten lassen!

Die Soldaten hatten ihm aber eine von Dornenzweigen geflochtene Krone aufgesetzt, einen verblichenen roten Mantel über die Schultern gelegt und ihm ein Rohr als Herrscherstab in die Hand gegeben; sie warfen sich vor ihm nieder und huldigten ihm spottweise als König. Dabei ahmten sie einen Festgebrauch der Juden nach und zwar unter großem Beifall der Menge, die sich vor dem Saal zusammendrängte. Denn die Juden pflegten irgendeine Person als König auszuschmücken, in Erinnerung an einen gewissen Mardochäus, der einmal das Judenvolk in Persien rettete und den der Großkönig durch solche Auszeichnung geehrt hatte. Noch mehr aber folgten die Soldaten dabei alten Saturnaliengebräuchen. Denn in Durustolum in Moesien wurde an diesem Feste ein Soldat ausgelost, der nun als Gott Saturnus in Königstracht nach Belieben schaltete und waltete und sich allen Genüssen frei hingeben durfte, bis er am dreißigsten Tage sich vor dem Altar die Gurgel durchschneiden mußte. Das Mummenkönigtum dieses Unglücklichen sollte von noch kürzerer Dauer sein. Aber wie verschieden dieser von jenem!

Weit entfernt, daß solcher Aufputz und solche Narrenpossen ihn erniedrigten, dienten sie vielmehr als Folie für seine Geisteshoheit, so daß er als Saturnalienkönig wahrlich mehr als königlich aussah. Auch thronte nicht die gefühllose Ruhe des stoischen Weisen auf seiner Stirn, sondern die Hartherzigkeit und Bosheit der Menschen schmerzte ihn so tief, daß er, wie ich später erfuhr, bereit war, sein Blut als Sühnopfer für jene zu vergießen.

Mein Dazwischentreten verkürzte ihm wenigstens diesen vielleicht bittersten Teil seines Leidens. Ich ließ die Menge davonjagen und verwies den Soldaten ihr Unwesen. Dann setzte sich bald der traurige Zug in Bewegung.

Vor der Stadt, auf einer steinigen Anhöhe, welche die Schädelstätte genannt wurde, kreuzigten wir ihn zwischen den beiden Räubern.

Da hörte ich denn, wie er laut für uns und für die schreiende Judenmenge – für seine Feinde – betete.

›Vater!‹ rief er – ›vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹«

»O, so hat er auch für mich gebetet« – ruft Rufus aus –, »auch ich wußte ja nicht, was ich tat! Auch ich war ja sein Feind, wenn er der Gute, der Gerechte war; denn ich habe der Ungerechtigkeit und dem Jähzorn gefröhnt und unschuldiges Blut vergossen. O ja, auch mir galt sein erhabenes Gebet! Doch weiter, Marcus, erzähle weiter von diesem Manne, den Platon vorausgeschaut hat, als er den Gerechten schilderte, der ins Gefängnis geworfen, gefoltert und zuletzt ans Marterholz gehängt würde, wenn er in dieser Welt erschiene. Laß mich alles von ihm hören!«

»Nur wenig ist noch zu berichten, Titus. Über seinem Haupte war ein Täfelchen angebracht mit den Worten: ›Der König der Juden!‹. An dieser Inschrift nahmen nun die Priester großes Ärgernis, was ja auch zweifellos die Absicht des Pilatus war; sie redeten auf mich ein, die Worte zu ändern; höchstens könne doch dastehen: ›der sich König der Juden nannte‹. Ich sagte, daß Pilatus es eben so angeordnet habe; sie aber behaupteten, es müsse da ein Irrtum vorliegen, und es dürfe nicht so bleiben. Da das Geschrei nun gar kein Ende nehmen wollte, entschloß ich mich, selber dem Pilatus die Sache vorzutragen, umsomehr als mich dies eine Zeitlang von dieser traurigen Stelle entfernte. Daß irgendeine Unruhe entstehen könne, schien ausgeschlossen zu sein. Die Jünger des Jesus hatten sich offenbar geflüchtet, nur in der Ferne standen einige klagende Weiber, sonst waren nur die Priester und ihr Anhang zu sehen. Ich übergab also einem alten bewährten Soldaten den Befehl und ritt nach Jerusalem.

Pilatus war etwas ungehalten, weil ich meinen Posten verlassen hatte, er beruhigte sich jedoch, als ich ihm meldete, daß nirgends das geringste Zeichen einer Volksbewegung zu spüren sei. Eine Botschaft, die ihm um so willkommener war, da eine seltsame und beängstigende Witterungs- und Himmelserscheinung die leicht bewegliche Menge in nicht unbedenkliche Erregung zu versetzen schien. Kurz nachdem die Kreuze errichtet worden waren, hatte sich nämlich der Himmel in die schwärzeste Wolkendecke gehüllt; jedoch damit nicht genug, die Sonne selbst schien ihren Glanz verloren zu haben, so trübe und unheimlich war das Licht, das den Horizont erfüllte. Ob dieses Frevels schien sich in der Tat der Zorn des Himmels über die sündige Erde zu senken.

Diese Finsternis nahm noch zu, als ich mich zurückbegab, so daß es mir manchmal schwierig wurde, meinen Weg zu finden. Die Vögel flatterten unruhig und niedrig hin und her, und mein Pferd, das mich in manchem Gefecht furchtlos durch den Pfeilregen getragen hatte, zitterte und war über und über mit Schweiß bedeckt, als ich die Hinrichtungsstelle wieder erreichte. Hier übergab ich den Priestern die schroffe Antwort des Prokurators ›Was ich schrieb, schrieb ich‹ – womit sie sich denn zufrieden geben mußten.

Der Kopf Jesu war auf die Brust gesunken, die Augen waren geschlossen; sein schrecklicher Schmerz schien in einen Zustand der Bewußtlosigkeit übergegangen zu sein. Es war nahe der neunten Stunde. Am Rande des Himmels war kaum noch ein trüber Schein wie ein rötlicher Ring unter den eisenschwarzen Wolken sichtbar, dieser schien sich nun bis auf die Spitzen der Kreuze herabzulassen.

Plötzlich ertönte ein langgezogener von weitem daherrollender Donner, und die Erde erbebte unter uns, als ob sich ihre steinerne Rinde auftun wollte.

Da hob Jesus den Kopf und schlug die Augen auf und blickte in die Höhe, so daß ich in der Dunkelheit deutlich die Augensterne leuchten sah, und seine Lippen öffneten sich. Er schrie laut auf. – Seine Stimme vereinte sich mit dem hinsterbenden Donnerklang. Dann sank der Kopf auf die eine Schulter nieder, und ein Zucken durchlief die Muskeln des Körpers. Ich wußte, daß er, obwohl er nur so kurze Zeit am Kreuze hing, seinen Geist aufgegeben hatte.

Und ich rief laut:

›Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!‹«

»O Marcus, Marcus! Da du das fühltest, wie konntest du denn jene Stätte verlassen? Mir ist, als hätte ich mit ausgebreiteten Armen dort liegen bleiben müssen, auf den Steinen dahingestreckt, die das Kreuz trugen, bis mein Leben diese alten Glieder verließ!«

Rufus ist in seiner Erregung aufgesprungen und steht mächtig aufgerichtet vor dem Schwager, mit der rechten Hand dessen Schulter ergreifend.

Der Centurio blickt mit einem halb beifälligen, halb entschuldigenden Lächeln zu ihm empor:

»Sagte ich dir nicht, du hättest dort stehen sollen, wo ich stand? Aber du selbst sagtest, es sei bestimmt, daß du nicht sterben solltest, bevor du nicht das gehört hättest, was nur ich dir sagen konnte. Nun siehst du wohl ein, daß ich dort auf dem Schädelhügel bei Jerusalem nicht bleiben durfte. Und gerade jener Ausruf von mir wurde das Mittel, mich hierher zu dir zu schicken.«

»Wie kam denn das, Marcus?«

»Ich hatte jene Worte so unwillkürlich geäußert, daß ich von ihnen nichts wüßte, wenn nicht Pilatus mich ihretwegen zur Rede gestellt hätte. Denn nicht nur meine Soldaten hatten sie gehört, sondern auch die Priester und viele andere Juden, und diese führten heftige Klage gegen mich beim Prokurator, weil ich durch ein solches öffentliches Bekenntnis meine Pflicht verletzt, die Priesterschaft, ja die ganze jüdische Religion verhöhnt und dem Aberglauben der Volksmassen Vorschub geleistet hätte.

Angesichts dieser neuen Erregung entschloß sich Pilatus, mich als einen Gegenstand des Anstoßes und der dauernden Veranlassung zu ewigen Reibungen aus dem Wege zu schaffen, und so schickte er mich schon am folgenden Tage fort, um Tiberius Bericht zu erstatten; denn er fürchtete auch, daß ihm jemand in nachteiligem Sinne zuvorkommen könne. In Rom angelangt, um nach Capreä zu reisen, erfuhr ich, daß Tiberius seine Felseninsel verlassen habe, um nach Rom zu kommen, und daß Sejanus im Begriffe stünde, ihm entgegenzuziehen. Ich schloß mich ihm also an, um den Princeps möglichst bald zu erreichen, und so wurde ich geradenwegs zu dir geführt.«

Rufus nickt nachdenklich.

»Ich sehe das! Es sollte so sein! Nur eins betrübt mich dabei. Auf diese Weise hast du über jenen Jesus nichts Näheres erfahren können, als was dir schon gerüchtweise zu Ohren gekommen war. Wärest du aber auch nur eine kurze Zeit drüben geblieben, so hättest du gewiß Nachforschungen über ihn und über seine Taten angestellt, besonders auch über seine Worte Zuverlässiges erfahren.«

»Das hatte ich mir allerdings schon vorgenommen. Jedoch auch dafür wurde ohne mein Zutun gesorgt. Bei meiner Abreise gab mir nämlich Pilatus ein hochwichtiges Schriftstück mit. Es war eine Sammlung von Reden und Aussprüchen Jesu, die einer seiner Jünger zusammengestellt hatte. Ich habe sie während meiner Reise gründlich studiert, und so sah ich denn, daß Jesus seinen Jüngern gesagt hatte, er zöge nach Jerusalem, um seinen Leib als Opfer für die Welt darzubieten und sein Blut zur Tilgung der Sünden zu vergießen. Als du nun sagtest, daß du durch das, was ich dir mitgeteilt, nur um so schuldiger scheinest, und es dir doch sei, als ob Fulvias Unschuld für deine Schuld aufkäme; als du dich fragtest, ob wir so tief verbunden sind, daß das Blut des Unschuldigen den Sünder entsühnen könne: mußte mir da nicht der Gedanke kommen, du hättest dort stehen sollen, wo ich gestanden habe?«

Rufus nickt: –

»Und die Handschrift, Marcus? Du hast sie doch bei dir?«

»Sie liegt drüben auf der goldenen Galeere. Denn Pilatus gab sie mir mit, um dem Tiberius die Worte des Herrn vorzulesen. Daraus ersähe er dann, daß solche Lehren und Ansichten, wenn sie allgemein würden und die Welt beherrschten, mit dem römischen Imperium unverträglich seien.«

»Und hast du ihm schon daraus vorgelesen?«

»Heute früh zum zweitenmal.«

»Was hat denn Tiberius gesagt?«

»Er lächelte mit seinem klügsten Lächeln, das halb boshaft halb mitleidig ist, und von dem niemand weiß, ob es der Sache oder der Welt im allgemeinen oder gar dem Lächelnden selbst gilt. Dann sagte er: ›Ja freilich, dieser Pilatus war nie ein Mann der Bücher, aber er ist doch ein kluger Kopf. Denn allerdings, wenn diese Ansichten allgemein würden und gar anfingen die Welt zu beherrschen, dann könnte dieser Galiläer wohl dem Cäsar gefährlich werden.‹

Dann aber nahm sein Gesicht einen anderen Ausdruck an, einen, den ich nie bei ihm gesehen habe, und er fügte ein gar seltsames Wort hinzu, das ich nicht verstand.«

»Wie lautete denn das?«

»Auch Einer,« sprach er, »zu dem der Gesang der Sirenen gedrungen ist.«


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