Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Buch der sterbenden Götter

Buch der sterbenden Götter

Der Hauptmann aber, der dabei stand, gegen ihm über, und sah, daß er mit solchem Geschrei verschied, sprach er: Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen.
Marcus XV, 39

Erstes Kapitel

Divo Tiberio

Auf dem Vorplatze des Tempels ist der Alte als wachehabender Priester allein zurückgeblieben.

Die Bronzetüren des Peristyls sind geschlossen.

Aus dem Innern der Zelle ertönt vielstimmiger Gesang – bald tief murmelnd, bald mächtig anschwellend.

Einen zufällig Anwesenden würde dieser unsichtbare Chor aus dem Heiligtume wohl feierlich gestimmt haben, ebenso wie ihn der Anblick des walderfüllten Bergkessels mit seinem schimmernden Seespiegel zur Anbetung der Naturschönheit hingerissen hätte.

Dem Alten ist das eine so gleichgültig wie das andere.

Bei seiner gewohnheitsmäßigen langsamen Wanderung ist er vor einem offenen, halbkreisförmigen Bau stehen geblieben, der den Vorplatz zur Rechten nahe am Abhange abschließt.

Auf dem bunten Mosaikboden steht ein bronzener Dreifuß. Dahinter erhebt sich auf niedrigem Sockel ein überlebensgroßes Marmorstandbild.

Von diesem Standbild des Tiberius hatte Rhadamanthus gesprochen.

Ein leichtes Gewand verhüllt den Oberkörper und fällt über den linken, im Ellenbogen gekrümmten Arm herab. Das unbedeckte jugendliche Haupt ist etwas nach oben gerichtet. Unter der breiten Stirn, die geschaffen erscheint, um von den freien Winden umspielt zu werden, schauen die Augen in die weite Ferne, als ob sie ein unendliches Ziel locke, und man weiß nicht, ob das Lächeln schmerzlich oder sieghaft ist, das die überaus fein geschnittenen Lippen umspielt.

Lange ist der Alte in Betrachtung der wohlbekannten Züge versunken.

Und nach der Gewohnheit des innerlich und äußerlich Einsamen spricht er zu dem Bilde des vergötterten Jugendfreundes:

»Soll ich hier vor deinem Altar niederknien, Tiberius? Und warum nicht? Denn was ist mir diese Diana des Haines, was die Nymphe Egeria, was der Baumgott Virbius, daß ich vor ihren Schreinen mich niederwerfen sollte? Warum nicht vielmehr vor dem deinen? Bist du doch ein Gott wie sie, ja höher als sie, wenn man dem Senat glaubt. Zwar, du hast den Vätern, die dir Tempel und Bilder weihten, gesagt: ›Ich bekenne vor Euch und wünsche, daß auch die Nachwelt dies Bekenntnis im Gedächtnis behält: ich bin ein Mensch, erfülle Menschenpflichten und lasse mir daran genügen, meinen Platz als Princeps zu erfüllen. Die Nachwelt erweist meinem Gedächtnis Ehre genug, wenn sie von mir glaubt, daß ich unerschrocken in Gefahren und unbekümmert um üble Nachrede war, wo es das Wohl des Ganzen galt. Das sind die Tempel, die ich mir in Euren Herzen errichten möchte, das sind die herrlichsten bleibenden Standbilder.‹ Ja, so sprachest du, und gerade weil du kein Gott sein willst, knie ich vor dir. Denn was sind mir die Götter, daß ich mich vor ihnen niederwerfe? Und vor etwas muß der Mensch knien in einer Stunde wie dieser. Wo ist das Heiligtum, wo er hineintreten sollte, wenn nicht in seinem eigenen Innern? Wo ist das göttliche Wesen, zu dem er beten kann, wenn nicht in seinem eigenen Selbst? So will ich denn vor dir knien und zu dir beten, Tiberius, denn du stehst hier als meine eigene Jugend vor mir – als jene Zeit mit dem ungetrübten weitsuchenden Sternenblick, mit dem Morgenwind in den Locken und mit der Sonnenaufgangsröte auf der Stirn, mit den hoffnungatmenden Lippen, mit dem nimmermüden Schritte und mit den allumfangenden Armen. Längst, ach längst ist sie dahingestorben! Nur ihr Grabmal erhebt sich noch unverwittert in meinem sonst so öden Herzen. Ja, mir ist, als stünde sie hier leibhaftig vor mir, als lausche sie mit deinem Ohre von Stein dem Gebete, das ich ihr zuflüstern möchte – meinem Gebete um Erlösung für mein armes, verbrecherisches, fluchbeladenes, dem Unheiligtum verschriebenes, nie enden wollendes Greisenalter!«


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