Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Sechstes Kapitel

Die elfenbeinerne Pforte

Ein laut schallender, eherner Klang, der die letzten Worte des greisen herkulischen Priesters begleitet, veranlaßt den Jüngling sich umzuwenden.

Hinter dem Säulengang hat sich die bronzene Doppeltür der Tempelzelle geöffnet.

Der Oberpriester, an der goldenen Kopfbinde erkennbar, tritt heraus. Ihm folgen neun Priester.

Der Alte geht auf den heiligen Baum zu und stellt sich innerhalb der Einhegung. Der Jüngling folgt ihm und nimmt auf seine Anweisung seinen Stand gerade vor dem mächtigen, knorrigen und gespaltenen Baumstamm.

Vor ihm, mitten in der Öffnung bleibt der Oberpriester stehen.

»Die Stunde,« hebt er an, »ist jetzt gekommen, wo du in das Mysterium dieses Heiligtums eingeweiht und in unseren Kreis aufgenommen werden sollst.

Wisse denn, daß der goldene Zweig, den du in begnadeten Händen hältst, kein anderer ist als jener, den einst Äneas auf das Geheiß der Cumäischen Sibylle im dunklen Haine des Aornos von der Steineiche brach und wodurch ihm die Unterwelt geöffnet wurde, wie dir ja wohlbekannt ist aus dem hehren Liede, welches die Musen dem göttlichen Sohn Mantuas eingaben. Ja wenn nicht ein unerbittliches Fatum Vergilius vor der Zeit in jenes Elysium hinweggerafft hätte, von welchem er uns in unsterblichen Versen Kunde gegeben, so würde er die Änëis würdig beschlossen und gekrönt haben, indem er jene Begebenheit besungen hätte, die das Geheimwissen unserer Priesterschaft ausmacht. Denn er, der Sänger und Prophet, hätte sie gewißlich im Geiste erschaut.

Er hätte uns erzählt, wie Äneas, nachdem er den Krieg siegreich beendet und seine Herrschaft fest gegründet hatte, nun, von einer Gottheit im Innern bewegt, daran dachte, dem goldenen Zweig ein würdiges Heiligtum zu stiften.

Du wirst mich fragen, wie der fromme Held auf diesen Gedanken kommen konnte, da er doch gar nicht mehr den goldenen Zweig besaß, vielmehr denselben über die Schwelle der Elysiumspforte geheftet hatte.

Hierauf ist meine Antwort folgende:

Wenn der Liebling der Kamönen, Horatius Flaccus, uns verrät, daß der gute Homeros bisweilen schläft, so zeigt es sich hier, daß sein eigener guter Freund, dem er ein nicht unwürdiger Nebenbuhler war, daß, sage ich, Vergilius nicht nur geschlafen sondern auch recht töricht geträumt hat, als er jene Stelle niederschrieb. Denn hätte der fromme Sprößling des Anchises und der Venus seinen schützenden Goldzweig mitten in der Unterwelt von sich gelegt, so wäre er nimmermehr aus derselben herausgekommen; folglich wäre das Julische Geschlecht nie entstanden; folglich – und dies ist die allersonderbarste Folge – wäre die Änëis nie gedichtet worden; so daß selbstmörderischere Zeilen nie vom Rohre dem Papier anvertraut wurden.

Ja wenn wir hören, daß der göttliche Sänger mit seiner Dichtung – diesem Stolz des römischen Volkes – unzufrieden war, ja, daß er sogar beim Nahen des Todes daran dachte, sie zu vernichten: so wollen wir dies nicht mit törichten Grammatikern daraus erklären, daß sie einige unvollendete Verse enthält. Sicher ist der Grund in jener verunglückten Stelle zu suchen; sei es nun, daß er den Fehler klar erkannte und doch keine Zeit fand, um ihn wieder gut zu machen; sei es, daß nur ein dumpfes Gefühl der Unzufriedenheit in seinem Geiste zurückgeblieben war. Ja, ich gehe noch einen Schritt weiter und behaupte, daß im Gedichte selbst, ja sogar gerade am Schlusse jenes berühmten Gesanges, den er selber dem entzückten Augustus vorgetragen hat, eine Spur der richtigen Selbsterkenntnis des Dichters zu finden ist; wo sie allerdings als eine rätselhafte, von niemand verstandene Hieroglyphe steht. Denn offenbar weiß der Sänger nun nicht, wie er seinen Helden, den er des Zauberzweiges beraubt hat, wieder aus der Unterwelt ans Licht kommen lassen soll, und tut dies in verschämter Eile, ja auf eine anscheinend recht ungeschickte, in Wahrheit aber höchst sinnvolle Weise; wie wir ja wissen, daß die Dichter in ihrem höchsten Schaffen mit einer Art göttlichen Wahnsinnes zu Werke gehen und am besten dichten, wenn sie selber nicht wissen was sie schreiben. So läßt er denn seinen Helden zur elfenbeinernen Pforte hinaus.

Diese hat nun aber, wie wir wissen und wie auch Vergilius ausdrücklich selber wiederholt, lediglich die Bestimmung, sich den falschen Träumen zu öffnen – wie die hörnerne den Wahrheitsträumen –, wenn sie nach der Oberwelt gesandt werden, um die Sterblichen zu täuschen.

Durch diese Pforte also schiebt unser Sänger seinen des Zweiges beraubten Helden sachte ab – gleich einem falschen Traum!

Jahrhundertelang werden nun die Grammatiker sich über diese Stelle die Köpfe zerbrechen und sehr gelehrte und spitzfindige Erklärungen dieser Unbegreiflichkeit aufstellen. Du, o Jüngling weißt nun, warum Vergilius so schreiben mußte. Wie ich dir sagte: er hatte geschlafen – den Homerischen Schlaf – und geträumt, und sein Traum war ein falscher.

Ich aber will dir Wahres künden.«


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