Karl Gjellerup
Der goldene Zweig
Karl Gjellerup

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Fünftes Kapitel

Das wahre Land

Es ist ein scheu forschender Blick, mit dem der Jüngling den Greis betrachtet.

Worte und Wesen des Alten sind ihm wenig geheuer.

Jener aber ist zu tief in seine Gedanken versunken, um den Eindruck seines Stoßseufzers zu beachten oder auch nur zu bemerken.

Der Gesang von drüben hört auf.

Er bricht ab in einem hohen, wilden Jauchzen. Es ist wie der Schrei eines Adlerpaares, das in Wolken verschwindet.

So sonderbar wirkt die plötzlich eintretende Stille, daß der Jüngling sich unwillkürlich umsieht, als ob etwas Sichtbares aus der Landschaft verschwunden wäre.

Ob der Alte das Verstummen des Liedes bemerkt?

Unbeweglich, mit finster gerunzelten Brauen, blickt dieser vor sich nieder.

Dem jugendlichen Gemüt wird das Schweigen peinlich.

»So bist du also in jenem schrecklichen Lande gewesen.«

Eine Weile verstreicht, bis der Greis ihn groß ansieht: –

»Was sprachst du von einem schrecklichen Lande?«

»Ich meine, du bist also mit jenem Germanien vertraut, das nach allem, was man davon hört – von seinen Wäldern und Stürmen und grauem Himmel und Kälte – gar ein schreckliches Land sein muß.«

»Schrecklich? Ein Land der Männer, das wahre Land, sag' ich dir.«

In plötzlicher Erregung packt er mit der rechten Hand den verdutzten Jüngling am Arm, mit der linken auf die Wasserfläche hinunter zeigend:

»Sieh dort diesen See – –«

Aber mit einer beschwörenden Handbewegung kehrt der Andere sich schaudernd ab, daß kein Blinken des Wassers zwischen den Olivenstämmen seinen Blick fangen kann.

»O, sprich nicht vom See!«

Nur ein paar Dutzend Schritte von ihrem Standpunkt entfernt springt ein nackter Felsblock weit hervor, ganz über das Seeufer hinausragend.

›Der Opfersprung‹ wird er genannt.

Daß der erschrockene Jüngling bei dessen flüchtigem Anblick unwillkürlich seine Augen zumacht, kann das grausige Erinnerungsbild nicht ausschließen, wie die Priester dort im Mondlicht einen schwarzgekleideten Mann aus ihrer Mitte nach dem überhängenden Felsrand drängen und hinunterstoßen. Die an die Ohren gepreßten Hände bannen nicht den dämonisch-gespenstigen Nachhall des Schreies und des Aufschlagens des Körpers auf das platschende Wasser tief unten.

Aber der grimme Greis vor ihm hat nur ein kurzes, geringschätziges Lachen für sein Entsetzen übrig.

»O, daran denkst du –? An das, was der See verbirgt? An deinen Besiegten, den wir hinunterstürzten.? Aber das ist nichts! ... Nein, wenn du erst so weit bist, daß du ihn beneidest; daß du dem Augenblick fluchst, wo du diesen goldenen Zweig berührtest, den du jetzt als Sieger hältst; daß du auf deinen Knien die Göttin anflehst, der nächste, der ihn pflückt, möge dein Besieger werden und dich zum Opfer weihen, auf daß du Ruhe finden mögest in dem kristallenen Grab: – ja, dann blicke hinunter auf diesen strahlenden Spiegel der Waldgöttin; herum auf seine lachenden, blühenden Gestade, seine schimmernden Berggipfel und silberleuchtenden Ölhaine; hinauf in seine ambrosische Himmelskuppel; hinüber nach seinem goldenen Wunder, jenem schwimmenden Palast, wo der Weltherrscher in seiner Herrlichkeit thront – –

Lüge, Lüge, Lüge – Alles eine einzige fluchbeladene gleißnerische Lüge!«

So gewaltsam ist dieser Ausbruch, so seltsam erhaben die Miene und Haltung des Redners, daß sein Zuhörer ihn nur sprachlos anstaunen kann.

In etwas ruhigerem Ton, aber noch immer sichtbar tief bewegt, fährt der Greis fort:

»Frage nur ihn, den Herrn der Welt drüben auf seinem purpurnen Pfühle, während der Gesang der Beiden noch in seinem Ohre widerhallt: frage ihn, ob er nicht diesen seinen geliebten Aricia-See, diesen Aufenthalt für selige Götter, wie es scheint, gern und willig dahingäbe für die endlosen Wälder Germaniens mit ihren sturmdurchrauschten Eichen, ihren grauen Himmeln, ihren freien Männern und dazu seine dreißig Jahre, schwarzen Haare und von Blut noch unbefleckten Hände, die Hände eines Kriegers, die nur das Blut stolzer wehrhafter Feinde gerötet hat? Frage ihn, vielleicht wird dir Gelegenheit geboten. Denn Tiberius hat wenigstens früher es nicht verschmäht, diesen Tempel als Gastfreund zu besuchen. Gerade heute, in der Vollmondnacht, feiern wir das mittsommerliche Feuerfest der Vestalischen Diana, das ihn wohl herlocken könnte, wie es dies schon mehr als einmal getan hat. Doch du brauchst ihn nicht zu fragen. Du kannst mir glauben, mir, der ich dir gut rate: Flieh, Jüngling, flieh diesen Ort, während es noch Zeit ist, bevor nicht ein furchtbarer Eid dich sicherer hier fesselt als die Speere der Tempelwache.«

»Fliehen! Bist du von Sinnen, Alter? Ich fliehen, nachdem ich mit so vielen Gefahren den sicheren Zufluchtsort erreicht habe? Im Kampf auf Leben und Tod habe ich mir das Asylrecht erworben, und jetzt fliehen?«

Der finstere, fast drohende Ausdruck des Greises weicht allmählich einem bitter-wehmütigen, während er den verwirrten und entsetzten Jüngling betrachtet, der ihm schließlich noch in seiner Verzweiflung zuruft:

»Und wenn ich auch flüchten wollte, wohin – wohin in aller Welt soll ich mich wenden?«

»›Wohin in aller Welt,‹« wiederholt der Greis mit nachdenklichem Kopfschütteln. »Wahrlich, mit der Frage magst du nicht so unrecht haben. Wer in der Welt bleibt, mag schließlich hier so gut wie sonstwo aufgehoben sein. Ist doch dies unheilige Heiligtum so recht ein Abbild und ein Sinnbild der Welt. Denn in seinen Bezirk kommen wir nur durch ein begangenes Verbrechen. Und durch ein solches, oder einen bösen Fehltritt sind wir auch in diese Welt hinein geraten, um hier jene im Vordasein begangene Sünde zu büßen, wie uns alle die Weisen lehren, und wie jedermann Tag für Tag an sich selber erfahren und immer tiefer begreifen kann. Und gleichwie unsere vordaseinliche Seele, als sie, durch ihren Schicksalsdrang getrieben, in diese Welt trat, nicht wußte, wohin sie ging und in welche Gesellschaft sie sich begab: also weiß auch der Flüchtling, der nach dem goldenen Zweig greift, nicht, was das für eine Priesterschaft ist, in deren Reihe er Schutz sucht. Du, mein Sohn, wirst es nunmehr erfahren, denn, in der Tat, die Zeit der Flucht ist um.«


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