Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wenn der Herr vorüberkäme,
Freundlich bei der Hand mich nähme:
»Sprich, wozu begehrst du mein?«
Wenn er wie bei Jericho fragte –
Ach, ich wüßte was ich sagte:
»Herr, ich möchte sehend sein!«
Süß ists, deine Hand ergreifen,
Lieblich dein Gewand zu streifen,
Wonnig weht der Morgenwind,
Wenn er durch die Bäume säuselt,
Schmeichelnd mir die Locken kräuselt,
Mir die Wangen küßt gelind.
Köstlich ists, des Waldes Rauschen
Und des Brunnquells Plätschern lauschen
Und der Vögel Lustgesang;
Lieblich ist der Flöte Tönen,
Feierlich des Donners Dröhnen,
Hold der Menschenstimme Klang.
Lilien- und Rosendüfte
Würzen süß die Sommerlüfte,
Duftend blüht der Lindenbaum,
Wie auf Aarons Haupt ergossen,
Balsam kommt herabgeflossen
Bis zu seines Kleides Saum.
Reichlich wird mit Speis und Tranke
Mir zur Labe, Gott zum Danke
Täglich mir der Tisch gedeckt,
Daß mein fröhliches Gemüte
Seines Schöpfers Huld und Güte
Süß wie Milch und Honig schmeckt.
Tausend holde Gottesgaben,
Alle, alle darf ich haben,
Nur die allerbeste nicht,
Nicht der Menschen Augenweide,
Aller Kreaturen Freude,
Nicht das liebe Sonnenlicht.
Ach! nur einmal möcht ich sehen,
Wie im Feld die Blumen stehen,
Wie ein menschlich Antlitz lacht;
Im Gewühl der Menschenkinder
Einsam sitz ich armer Blinder,
Eingesperrt in ew'ge Nacht.
Oft in nächtigen Traumgesichten
Wollen sich die Schatten lichten,
Durch das Dunkel zuckt ein Schein,
Aber mit den Morgenstunden
Ist der holde Trug verschwunden,
Einsam sitz' ich und allein.
Einsam und doch nicht alleine;
Wenn ich klage, wenn ich weine,
Ruft der Herr mir freundlich zu:
Unter meinem Schirm und Schatten
Blüht dir wie auf grünen Matten
Holder Friede, süße Ruh!
Bleib bei mir und laß den Andern,
Die im Schein des Tages wandern,
Augenlust und Erdenpracht,
Frommer Seelen tiefste Wonnen
Blühn abseits vom Licht der Sonnen
Heimlich nur im Schooß der Nacht.
Durch der Erde Dunkelheiten
Will ich an der Hand dich leiten,
Folg nur ohne Furcht und Grau'n;
Himmelan dein blind Gesichte! –
Denn durch Nächte gehts zum Lichte
Und auf Glauben kommt das Schau'n!