Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

18

Der Morgen graute. Hoch über den Ruinen des König Eismann stand am erbleichenden Himmel noch der zur Sichel schrumpfende Mond. Sein Schimmer umwebte im Grau des erwachenden Tages die neu entstandenen Zinnen und die mit Eisblöcken und Felsklötzen besäten Trümmerstätten. Stille lag über dem steinernen Leichenfeld. Zuweilen klang das leise Kollern kleiner Steine – das vor dem Sturz entflohene Fahlwild und die verscheuchten Gemsen stiegen schon wieder zu Berg. Ruhelos klommen die Tiere im zertrümmerten Gestein umher, ihre gewohnten Äsungsplätze suchend. So fest wie in den Menschen des Hochlands wohnt auch in den Tieren der Berge das treue Hängen an der Scholle, auf der sie geboren wurden. Felsen stürzen und begraben die Stätte – kaum hat sich der Staub verzogen, so kehren die Entflohenen schon wieder zurück, um das neue Lager über den Trümmern zu wählen, die das alte bedecken. Und wie an der alten, so hängen sie an der neuen Wohnstatt mit ungebrochenem Vertrauen.

Neben dem sachten Geriesel des Schuttes, der sich unter den Tritten des ziehenden Wildes löste, unterbrach die Stille noch ein anderer Laut: ein Klirren wie vom Schritt eines eisenbeschlagenen Schuhes. Im Gewirr der Felsblöcke irrte ein Mensch umher. Schwer und langsam war sein Gang. Als er die Kuppe eines Trümmerhügels erreichte, stand er bewegungslos und starrte im Dämmerschein über das weite Schuttfeld, unter dem die Ödhütte mit dem ganzen Albental begraben lag. Keuchend klang sein Ruf und hallte in der Stille. »Rötli! Rötli!« Keine Antwort kam, nichts regte sich zwischen den Trümmern. Lange stand der Einsame an einen Fels gelehnt, als könnte er sich ohne Stütze nicht aufrecht halten. Immer wieder schrie er den Namen und strich mit den Händen über die Augen, um sie sehend zu machen für das Leben, das er suchte und nimmer fand. Schwer atmend wandte er sich endlich, stieg der Tiefe zu und kehrte wieder zurück, als wären zwei Gewalten in ihm, von denen die eine ihn festhielt, während die andere ihn niederzog in die verschüttete Schlucht.

Schon begann das Grau über den Felsen sich zu lichten. Immer tiefer stieg der Einsame. Lange stand er vor einer Fläche grau bestäubten Schnees, in dem sich eine weiße Mulde zeigte, als hätte hier, während der Staub sich senkte, durch lange Stunden ein Mensch gelegen. Aus Geröll und Schnee ragte der Wipfel einer Zirbe hervor. Langsam glitten die Augen des Mannes über das grüne Gezweig, über eine weit geöffnete Höhle, über die kahle Bruchfläche des Berges und über die wirren Massen des zerschlagenen Gesteins, das die tiefere Schlucht erfüllte. Ein Stöhnen erschütterte seine Brust, und schwankend betrat er das Gewirr der Trümmer. Sein brennender Blick haftete an jeder Scholle; an jeden Felsblock rührten seine zitternden Hände, und zögernd setzte er den Fuß, als wäre ihm jeder Schritt eine Marter. Ein steiler Abbruch sperrte seinen Weg. In der Tiefe gewahrte er den See, von Schaum bedeckt, so weiß wie Milch. Der erstarrte Schuttstrom lag vom Fuß der Felsen wie ein graues Eiland weit in die Flut hinausgebaut – als hätten die Dämonen des Gesteins dem stolzen Mädchenherzen, das sie zerdrückten im ersten Jauchzen seines Glückes, einen ewig dauernden Leichenhügel errichten wollen, gewaltiger, als noch je ein Hügel über dem Grab eines gefallenen Helden sich erhob.

Zitternd, mit vorgebeugtem Gesichte, stand der Einsame am Rand der Felsen und starrte in die Tiefe. Röchelnd ging sein Atem, doch seine rotgeränderten, vom Staub entzündeten Augen hatten keine Träne. »Ich hab's berufen. Jetzt liegen zwischen ihr und mir die Berg!« Er streckte die Arme ins Leere, und des Todes nicht achtend, der ihm drohte, begann er den Niederstieg. Wohin er trat, lösten sich das Geröll und der graue Schnee. Als er den Grund schon fast erreicht hatte, kam eine Platte mit ihm ins Gleiten. Rasselnd trug ihn das steinerne Fahrzeug und landete ihn auf der Böschung des Schuttes. Mit heiserem Lachen richtete er sich auf und faßte das Gestein wie die Brust eines Feindes. »Mein alles hast du genommen! Nur mich nit! Warum denn? Bin ich für den Tod zu schlecht?« Das Gesicht mit den blutenden Händen bedeckend, sank er zu Boden.

Schon fiel das Frühlicht mit rosigem Schein über alle Höhen, als er sich mühsam erhob und hinausblickte über den weißen See. »Mutter! Wie kehr ich heim! Was sag ich, wenn dein Aug mich fragt –?«

Am Saum des grauen Schuttfeldes wandte er noch einmal den Blick. Seine Gestalt erzitterte, und stumm umklammerte er einen Steinblock und drückte das Gesicht an den kalten Fels, als hielte er umschlungen, was unter dem Schutt begraben lag.

Wie ein Träumender taumelte er davon. Ohne zu wissen, was er tat, suchte er die Stelle, wo er den Einbaum verlassen hatte – sie war verändert, verschwunden mit dem Kahn. Doch über den See war eine Brücke gebaut: eine Felswand hatte ihren Trümmerhaufen bis zum andern Ufer geworfen und einen kleineren See vom Weitsee losgetrennt, wie eine Stunde der Not das Kind von der Brust der Mutter reißt. Über diese Brücke, die noch keines Menschen Fuß betreten hatte, ging der Weg des Einsamen, dann am Ufer entlang und heimwärts über das Waldgehänge, das bis zur Höhe eines Pfeilwurfs kahlgeschwemmt war von den aufgebäumten Fluten. Die gebrochenen Stämme schwammen im See und streckten ihr wirres Gezweig aus dem weißen Schaum.

Schon fiel das helle Licht des Morgens in den Kessel, doch die bunten Farben der herbstlichen Bäume wollten nicht erwachen. Wie versteinert war der Bergwald anzusehen unter dem grauen Kleid, mit dem der Staub ihn überzogen hatte. Stumpf glitten die Blicke des Einsamen über die trüben Bilder seines Weges. Er sah in der Höhe das veränderte Gesicht des Berges und erkannte auf allem Felsgehäng die Straßen, welche die Schuttströme genommen hatten. Er sah den Falkenstein, doch über ihm kein Dach mehr, keinen Giebel und keine gefensterte Mauer, nur dünne Rauchsäulen, die langsam in die Höhe wirbelten und in der Luft zerflossen. Er sah in der Ferne die Halden der Schönau, ohne Wald, ohne Hütten, einer grauen Wüste gleich. Er sah, wie auf dem See das schwimmende Bild der Trümmer sich verwandelte: zwischen die gebrochenen Fichten und Buchen mischten sich entwurzelte Fruchtbäume, Gebälk und Bohlen, die Reste eines Daches, eine Hundehütte und Immenkörbe, Gewandstücke und hölzernes Geschirr. Und manchmal tauchte aus dem schwankenden Schaum ein brauner Fleck hervor: die schwimmende Leiche eines Rindes.

Das alles sah er. Auch über seinen Weg, der zu Ende ging, lagen die Zeugen der Vernichtung ausgestreut: Gerätstücke und lange Fetzen eines Fischernetzes. Doch keine Frage erwachte in ihm. Seine betäubten Sinne schienen unempfänglich für neuen Schreck, sein gebrochenes Herz nicht fähig mehr eines neuen größeren Schmerzes. Als er die letzte Waldhöhe erreichte und die Lände mit dem verwüsteten Hügel zu seinen Füßen lag, griff er mit den Händen an die Schläfe und drehte langsam das entstellte Gesicht nach allen Seiten. Kein Hag und Lugaus mehr, kein Haus und Stall. Verschwunden der Immenstand, das Gärtlein und der Brunnenstock. Nur einzelne Balken und Fetzen des Haggeflechtes lagen zerstreut umher. Zerschmettertes Hausgerät und Rinderleichen füllten alle Pfützen der Lände. Die Eichen waren gebrochen und ihre Kronen davongeschwemmt. Nur ein einziges dünnes Bäumlein hatte dem Schwall der Fluten widerstanden. Und auf dem kahl gewaschenen Hügel war nur der Baumstrunk noch geblieben, der die steinerne Tischplatte getragen, und ein Rest des gemauerten Herdes. Doch auf der Stelle, an der das Hagtor gestanden, erhob sich noch das Kreuz, nur gelockert in seinem Halt, zerfetzt an allen Rändern und bis über das Querholz hinauf mit grauem Schlamm behangen.

Zwischen den Stümpfen der gebrochenen Eichen kauerte Heilwig, die Magd des Fischers. Als sie den Kommenden gewahrte, sprang sie auf und eilte ihm entgegen. Sie wollte ihren schreienden Jammer beginnen, doch der Anblick des Mannes lähmte ihre Zunge. Das Gewand verwüstet und mit Staub bedeckt, an Händen, Armen und Knien zerschunden und blutig, das Gesicht entstellt, die Augen brennend und von dunklen Ringen umzogen, eisgrau an Bart und Haaren – so stand er vor dem entsetzten Blick der Magd. War es ihr Herr? War es Sigenot, der Fischer? Oder ein gespenstiges Schreckbild, das sie zu ängstigen kam nach allem Greuel, den sie überstanden hatte? »Heilwig?« Auch seine Stimme war verwandelt und klang ihr wie fremder Laut. »Wo ist die Mutter?«

Sie konnte nicht sprechen, nur deuten. Zögernd schritt sie ihm voran, und immer nach einigen Schritten wartete sie, ob er käme. Bei den Stümpfen der Eichen blieb sie stehen; die hundertjährigen Stämme waren über den Wurzeln abgedreht und Sigenots Baum an der letzten Kerbe gebrochen; dem einzigen, noch aufrechten Bäumlein zu Füßen lagen die beiden Leichen: Mutter Mahtilt, umklammert von den Armen des entseelten Knechtes.

Sigenot wankte. Sein irrender Blick suchte das Kreuz. Dann streckte er die Hände nach dem Knecht: » Der ist treu gewesen! Und ich kann's ihm nimmer lohnen.«

Heilwig mußte ihm helfen, die starren Arme Wichos zu lösen, der die Mutter seines Herrn nicht lassen wollte. Während die Magd zu reden begann, hielt Sigenot die Leiche der Mutter in den Armen und hing an den bleichen Zügen, die dem Antlitz einer Schlummernden glichen. Er hörte, wie die Magd von der baumhohen Welle sprach, vom Sturz des König Eismann, von allem Unheil im Gaden, von Wazemanns Tod, vom Untergang seiner Söhne und vom Brand seines Hauses. Doch ihre Worte schienen ihn nicht anders zu berühren, als einen Sterbenden der leere Klatsch des Nachbarhauses. Nur einmal hob er die Augen, weil aus dem zerschlagenen Schilf des Ufers eine jammernde Stimme klang.

»Der Kaganhart!« stammelte die Magd. »Er muß die Hilmtrud suchen. Das Wasser hat sie davongetragen mit dem Haus.«

»Not über allem, was lebt!« Sigenot drückte das Haupt der Mutter an die Brust und streichelte ihr feuchtes Haar. »Mutter! Dir ist wohl. Komm! Ich will dich zum Vater bringen!«

Er ging zur Lände, schleppte die zerstreuten Balken ans Ufer und flocht sie mit Ruten zu einem Floß; alle Reste seiner Netze sammelte er und füllte sie mit schweren Steinen.

Nun holte er die Mutter. Wankend stieg er mit seiner Last über den Hügel hinunter, kehrte zurück und trug den getreuen Knecht zum Floß. Dem grauen Fährmann des Todes gleich, stand er auf dem schwankenden Fahrzeug und trieb es mit langer Stange durch den Trümmerwust, der den See bedeckte. Hinter der Insel sah ihn die Magd verschwinden. Sie stand am Ufer, erfüllt von Grauen und Sorge. Lange Zeit verging. Einmal hörte sie aus dem See heraus den verschwommenen Hall einer Stimme. War es ein Wehschrei? War es der letzte Gruß, den der Sohn seiner Mutter bot? Dann wieder Schweigen. Nur hinter dem Hügel das Rauschen der Ache.

Lange harrte die Magd. Endlich sah sie das entlastete Fahrzeug mit seinem Fährmann aus dem zerwühlten Schilf der Insel hervortauchen. Müde trieb Sigenot die Balken dem Ufer zu. Als sie an die Lände stießen, löste sich das Band der Ruten, und von dem zerfallenden Fahrzeug schwang Sigenot mit der Stange sich ans Ufer. Das kalkweiße Gesicht war wie versteinert; die Fäuste ballend, blickte er über die öde Stätte der Verwüstung. »Jetzt hab ich ausgesorgt um Mutter und Schwester. Jetzt banget mich nimmer um Glück und Lieb. Jetzt steh ich allein für mich. Jetzt will ich raiten mit allen, die mir gelogen haben und die Treu gebrochen!«

Erschrocken wich die Magd vor ihm zurück, weil sie des Augenblicks dachte, in dem sie vor dem rollenden Wasser geflohen war und in Todesfurcht das Haus und die Herrin verlassen hatte.

Durch die trüben Pfützen, über alle Trümmer weg, schritt Sigenot dem Kreuz entgegen, während die Magd entfloh. Mit geballten Fäusten stand er vor dem grauen Balken und sprach ihn an, als hätte er einen Feind vor sich, der ihn hören, mit dem er rechten könnte in Worten. »Ich hab gehangen an dir in Treu und Glauben. Derweil dir alle feind gewesen, hab ich meine Freiheit hingelegt vor deine Füß und hab gerufen: Mein guter Herre, du mein Gott! – Und du? – Ich will nit raiten um die Mutter, sie hat nit gefragt nach dir. Wer Treu nit gibt, kann Treu nit heischen. Ich darf nit raiten um mein Glück, ich hab's verrufen und hab das Wasser und die Berg geworfen zwischen meine Seligkeit und mich. Ich rait nit um dieselbig, die den Tod gefunden aus Lieb zu mir –« Seine Stimme riß. »Stark und mutig ist sie gewesen, rechtlich an Sinn und Herz, schön wie die Sonn und treu – so, wie du untreu bist! Doch ihres Vaters Haus hat wider dich gestanden. Haß wider Haß. Das muß ich gelten lassen. Aber es heißt auch: Treu um Treu!« Mit beiden Fäusten faßte er den Stamm des Kreuzes und rüttelte an dem Holz. »So sag mir, wo die Schwester ist? Auf ihr hat keine Schuld gelegen. Ihr Herz und Leben ist wie die Blum gewesen, die den ersten Morgen sieht. Wie das Lamm vor dem Schäfer ist sie gestanden vor dir und hat vertraut auf deine Hut. Und du? Stark bist du, stärker als tausend Männer in Wehr und Eisen. Du kannst die Berg umwerfen und die tiefsten Wasser heben. Und meiner Schwester schuldloses Leben hast du nit lösen mögen aus der Not? Wo ist denn deine Treu, von der mir einer im Lokiwald gelogen hat? Jetzt red! Wir raiten miteinander! Und wenn du meinst, daß fallen muß, was treu und schuldlos ist, so soll auch nimmer stehen, was ich untreu find!« Mit der ganzen Wucht seines Körpers warf er sich gegen den Balken. In der Erde knirschten die Pflöcke, der Grund begann sich zu heben, und langsam neigte sich das Kreuz. Fast lautlos fiel es auf den mit Schlamm bedeckten Hang des Hügels.

Sigenot drückte die Fäuste auf seine Brust, als wäre ihm wohler geworden. »Du liegst. Und jetzt zu deinem Knecht im Lokiwald!« Er wandte sich gegen die Ache und stand wie gelähmt, an Leib und Seele befallen von einem Schreck, so furchtbar, wie er ihn auch in der Stunde nicht empfunden hatte, in der die Berge stürzten und den Tod durch die Lüfte warfen. Entgeistert sah er, was ihm erscheinen mußte wie ein Wunder, das der starke Gott in diesem Augenblicke wirkte, um vor dem Zweifler seine Treue zu erweisen. Von der Ache her, zwischen dem verwüsteten Hügel und dem Wirrsal der gestürzten Bäume, kam langsam ein junges Paar gegangen, zwei stille, blasse Menschenkinder, die zu wandeln schienen wie im Traum. Wange an Wange, hielten sie sich umschlungen, als müßte eines das andere stützen.

Sigenot griff ins Leere. Er sah die Schwester und wandte die Augen von ihr – er sah das liegende Kreuz und streckte die Arme. Was er fühlte, erschütterte ihn an Herz und Gliedern wie ein Sturm den Baum. Stöhnend schlug er die Fäuste an seine Brust: »Ich – ich – ich selber bin der Untreu!« Mit schluchzendem Schrei, taumelnd an allen Sinnen, warf er sich über die Balken des Kreuzes. –

Hinter den Bergen stieg die Sonne hervor.

Weithin über das verwüstete Tal, in dem die sinkenden Bäche schon leiser rauschten, flutete der warme Glanz. Er wandelte das Grau des Staubes nicht in lachende Farben, scheuchte kein Bild der Vernichtung und verjagte nicht den atembeklemmenden Steingeruch, der die Lüfte füllte. Dennoch senkte sich der schimmernde Glanz aus den Höhen nieder wie ein goldgeflügelter Bote, um den Menschen in ihrem verzagenden Jammer zuzurufen: »Die Berge stürzten, doch blicket auf, es steht noch der feste Himmel, und seine Sonne leuchtet!«

In den mit Schlamm übergossenen Tälern weckte die Wärme den Nebel wie nach schwerem Regen. Überall kräuselten sich die weißen Wolken über den Wust der Trümmer empor, von der Sonne durchleuchtet – ein Bild der menschlichen Hoffnung, die nach aller Nacht und Kälte des Lebens immer wieder die Heimstatt des Lichtes und der Wärme sucht.

Aus dem Bett der Ramsauer Ache, in deren breitem Strom die Gewässer schon zu versiegen begannen, dampfte der zarte Nebel langsam über den Lokiwald.

Hier, zwischen gebrochenen Bäumen, suchte Eberwein einen Weg nach den Halden der Strub, das schlummernde Kind auf seinen Armen.

Jeden Schritt mußte er mühsam erkämpfen. Die Sorge, mit der er das Gesicht des Kindes vor dem schlagenden Gezweig zu behüten suchte, erfüllte ihn so ganz, daß er die Zerstörung nicht sah, die um seine Füße gebreitet lag. Tote Vögel hingen im Gezweige, und an Wildleichen führte sein Weg vorüber. Unter einem mächtigen Baumstamm lag ein erschlagener Bär mit zerzaustem Fell, mit gebrochenen Zähnen im klaffenden Gebiß – der braune Honigfreund, der mitgeholfen hatte an Bruder Wampos »Wunder«.

Der Wald und seine Trümmer gingen zu Ende, und eine menschliche Stimme schlug an Eberweins Ohr. Er schrie, begann zu laufen und erreichte das Tal der Ramsauer Ache.

Am Rande des Wassers näherten sich zwei Menschen, die im Schlamm nach verlorenem Gut zu suchen schienen, ein Greis und ein Weib mit gelösten Haaren. Eberwein rief die beiden an. Und das Weib, mit gellendem Freudenschrei und gestreckten Händen, kam auf ihn zugerannt, riß ihm das Kind aus den Armen und eilte davon, in wahnsinniger Angst, als wäre Eberwein nicht der Retter, sondern der Räuber ihres Kindes.

Der Alte blieb stehen und sah dem fliehenden Weibe nach. Eberwein erkannte ihn; es war ein Ramsauer Bauer, der mit Runot zur Windach gekommen war, um nach Hiltischalk und Hiltidiu zu suchen. »Herr?« fragte der Greis. »Hast du das Kind aus der Flut gehoben? So mußt du der Mutter verzeihen, daß sie den Dank vergessen hat. Zwei Kinder hat ihr das Wasser genommen. Die liegen im Schapbacher Wald.«

»Wo Runot liegt?« stammelte Eberwein.

»Wohl! Der ist hin, der gute Mann! Und das Moidi und der Seppeli liegen daneben.«

Eberwein vermochte nicht zu sprechen. In Bangen hatte er gehofft, das gerettete Kind in die Arme der Mutter legen zu können. Und daß es nun diese Mutter war! Das empfand er wie einen Trost, der ihn belebte.

Während er schweigend stand, sprach der Alte von der Verwüstung im Tal der Ramsau. »Zwanzig Häuser liegen. Das Pfarrhaus auch, und die Kirch dazu. Und viel Leut gehen ab. Mein ältester Bub ist auch dabei, sein Weib und alle fünf Kinder. Sieben Leut auf einmal!« Die Stimme des Alten zitterte. »Da käm ich nimmer drüber weg, wenn ich nit sagen müßt wie Bruder Hiltischalk: gibt der liebe Gott, so wird er auch nehmen dürfen. Wohl! Ich hab getrauert um den frommen Bruder. Aber schau, Herr, dem hat's der liebe Himmel gut vermeint, daß er ihn die heutige Not nit hat erleben lassen! – Guck nur, wie die unsinnige Mutter noch allweil rennt! Die fallt noch mit dem Kind in eine Grub!« Mit lauter Stimme rief er: »He, du!« Und eilte, so schnell ihn seine alten Knochen trugen, dem Weibe nach.

Eberwein bedeckte die Augen mit der Hand. »Bruder Hiltischalk! Wo dein verlorenes Grab auch liegen mag, unter Fluten oder Felsen, es verlangt nach keinem Kreuz und Ehrenzeichen! Im Herzen dieses Christen sah ich dein Denkmal stehen.«

Weit über das Tal her tönte ein Gewirr von Stimmen. Freudig erschrocken lauschte Eberwein. »Dort leben noch Menschen!« Er eilte nieder über das schlammige Gehäng und sah die Trümmer nicht, die das Wasser ausgeworfen, nicht das spitze Dächlein mit dem hölzernen Kreuz, nicht die gebleichten Knochen und Totenschädel, die der Strom aus dem Ramsauer Beinhaus bis zum Gaden herausgetragen. Über Felsblöcke und angestaute Bäume springend, gewann er das andere Ufer. Zwischen verwüsteten Büschen lagen die steinernen Schollen, die wie Hagel aus den Lüften gefallen waren. Den Schritt beflügelnd, erreichte Eberwein einen zerstörten Hag, in dessen Mitte ein Felsblock lag von der Größe eines Hauses; doch er hörte keinen Jammer, nur den Hall eines Beiles und eine freudige Knabenstimme: »Schau nur, Gobl-Ähni, da kommt der gute Herr!«

Die Beilschläge verstummten nicht. Durch eine Lücke des Hages sah Eberwein den Greis bei der Arbeit stehen: nackten Leibes, die Hüfte von einem Lumpen umwunden, schwang er das Beil mit der Kraft eines Jünglings. Nicht weit von dem Alten saß Huze in der warmen Sonne, die wunden Füße von grauen Fetzen klumpig umwickelt. Und an der Seite des Knaben kauerte das kleine Mädel aus dem Schapbacher Wald. Beim Anblick des Mönches richtete Huze sich auf und versuchte ein paar hinkende Schritte; Eberwein eilte dem Knaben entgegen und umschlang ihn, keines Wortes mächtig. »Gelt?« lächelte der Bub zu ihm auf. »Was der liebe Vater im Himmel alles an mir getan hat! Schau nur den Ähni an! Wie er schaffet an unserem neuen Haus! Und wie er mich mögen tut! Und alles hat der Vater da droben gemacht. So gut, wie der ist, so gut ist keiner mehr.«

Eberwein beugte sich nieder. »Mein Kind! Ich danke dir für dieses Wort.«

Mit großen Augen sah der Bub ihn an. »Danken? Warum denn, Herr? Das ist doch dein eigen Wort. In Wazemanns Bußloch hast du mir gesagt: so gut wie der Vater im Himmel, so gut ist keiner mehr!«

Es zuckte um den Mund des Mönches, während sein Blick hinausirrte über die verwüsteten Halden. Tief atmend strich er mit der Hand über das struppige Haar des Knaben und flüsterte: »Werdet wie die Kinder!«

Das Beil in der Faust, kam der alte Gobl. »Ich grüß dich, Herr! Und schau, du hast recht gehabt! Mein Apfelbaum ist hin, nacket steh ich da, aber allweil freut mich das Leben wieder!« Er zog den Knaben zärtlich an sich. »So viel gleicht er meinem lieben Mädel! Die Augen hat er von ihr, und das gute Herzl auch!« Lachend hob er das Kinn des Knaben. »Schau, Bub, wenn du nit hinken tätst, du müßtest von deiner Mutter auch den Schritt haben, so keck und fest!«

In stummer Bewegung blickte Eberwein auf die beiden Menschen: das Alter in nackter Not, die Jugend in Schmerz und Wunden, und dennoch in ihren Augen die lachende Freude des Lebens.

Dumpfe Stimmen, von einem Windhauch über die Halden hergetragen, unterbrachen die Stille.

»Lus, Herr!« sagte der Greis. »Es haben nit alle den schiechen Tag so gut überstanden wie mein Bub und ich. Die Leut sind gefallen wie die Fliegen im Frost. Da drüben schleppen sie die Toten auf ein Häufl.«

Eberwein hatte sich abgewandt und eilte dem verschwommenen Hall der Stimmen entgegen. Zerbrochene Zäune sah er, Hütten mit durchlöcherten Dächern, ein halb zertrümmertes Haus, in dessen Stube vom verwichenen Abend noch der Tisch bestellt war mit unberührten Schüsseln. Überall Schutt auf seinem Weg, blaue Eisblöcke, von denen in der warmen Sonne das Wasser niederschmolz, und graue Felsklötze, die keine Menschenkraft mehr von der Stelle rücken würde, auf der sie aufgerichtet standen als ewiges Gedenkzeichen des schreckenvollen Tages. Kühe, Ziegen und Schafe zogen unruhig umher, Hunde trabten an Eberwein vorüber, doch bei keiner Hütte gewahrte er Menschen. Ein einziges Kind erblickte er. Das saß auf einem Schutthügel und spielte mit dem Geröll.

Immer näher klang das Gesumm der Stimmen, und endlich gewahrte er auf freiem Feld einen schwärzlichen Menschenhaufen. Langsam glitten die Gestalten durcheinander, die einen gingen, andere kamen paarweis und trugen auf Stangen eine regungslose Last herbei.

Die Leute erblickten den Mönch, und das Gesumm der Stimmen erlosch. In der dunklen Schar sah Eberwein plötzlich alle die weißen Gesichter. Einige Männer und Weiber wollten ihm entgegenlaufen; auf halbem Wege hielten sie inne. Bleich, mit kämpfendem Atem, eilte er den Harrenden entgegen. Kein lautes Wort vernahm er, kaum einen schluchzenden Laut. Doch hundert Arme streckten sich, als wäre bei ihm die Hilfe, bei ihm der Trost. Hundert Augen, gerötet von Staub und Weinen, hingen an seinen Lippen, als könnte ein einziges Wort des Gottgeweihten alle Schmerzen lösen. Die Männer faßten nach seinen Händen, die Weiber griffen nach seinem Kleid oder hoben ihm ihre Kinder entgegen, damit der Blick seiner Augen sie feie wider alle Not und Gefahr.

Wortlos, erschüttert in jedem Nerv seines Lebens, stand Eberwein inmitten dieses namenlosen Jammers – zum erstenmal im Kreise seiner Gemeinde! Wie anders hatte er diese Stunde sich gedacht! Schön, an Hoffnungen reich, als verheißungsvolle Blüte einer guten Zeit! Nun war die ersehnte Stunde gekommen. Und er stand inmitten dieser tiefgebeugten, nach Trost und Hilfe bangenden Menschen wie ein Hausvater, der von weiter Reise heimkehrt und unter seinem Dache den Tod und alles Elend findet. Wie sollte er trösten, da er selbst des Trostes bedürftig war wie ein Dürstender des Trankes? Sprechen konnte er nicht. Er drückte nur hier eine zitternde Hand, blickte mit heißem Erbarmen in ein brennendes Auge, streichelte dort ein gebeugtes Haupt, schloß einen Wankenden in seine Arme, drückte ein Kind an seine Brust und gab es der Mutter zurück.

So gab er Trost, ohne daß er es wußte. Der Schmerz hat seine Sinne, und diese Menschen empfanden es wie einen warmen Lichtstrahl in ihrem dunklen Jammer, daß einer unter ihnen weilte, der es gut mit ihnen meinte. Sie fühlten, daß sein Erbarmen und alle Liebe seines Herzens ihr Eigen war. Ihre Stimmen lösten sich aus dem stummen Bann, ihr Schluchzen wurde laut, eine Greisin faßte den Arm des Mönches, und auf die Toten deutend, weinte sie: »Schau, guter Herr, da liegen sie auf der Erd, um deinen heiligen Bruder her!«

Im ersten Entsetzen deckte Eberwein den Arm über die Augen. Auf einer Bahre aus Buchenästen ruhte Waldram, die gebrochenen Augen noch offen, das weiße Priesterkleid übergossen von geronnenem Blut. Und um ihn her eine stille Gesellschaft, Männer, Weiber und Kinder, Leiche neben Leiche, alle geschmückt mit der roten Blume ihres erloschenen Lebens. Da waren bleiche Gesichter mit friedlichen Zügen, als hätte der Tod diese Menschen überfallen, bevor sie die Nähe des finsteren Gesellen ahnen konnten. Andere Leichen zeigten in ihren Gesichtern nur den Ausdruck höchsten Schreckens, als wären sie schmerzlos hingesunken in einem Augenblick besinnungsloser Verwirrung. Daneben Gesichter, grauenhaft entstellt, in jedem Zug die erstarrte Sprache der Todesangst und Verzweiflung; Körper, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und zermalmt; ein zerschmettertes Weib, dessen Arm noch die Überreste zweier Kinder umschlungen hielt; ein Rumpf ohne Beine und Hände; einer mit halbem Kopf und entzweigeschnittener Brust; ein Haupt ohne Leib; und ein Haufe zerhackter Gliedmaßen und formloser Fleischklumpen, von Sand umhüllt.

Zitternd stand Eberwein vor dieser wüsten Orgie des Todes. Seine verstörten Augen suchten den Himmel. »Wir müssen glauben! Oder verzweifeln!« Wankend schritt er zwischen den Leichen auf die Bahre Waldrams zu und schloß dem Toten die Lider. »Vergib mir, wenn ich dir unrecht tat im Leben!« Sein Blick irrte über die Gesichter der Lebenden, er suchte nach Worten und fühlte, hier gab es nur einen Trost: die helfende Tat! Sich aufrichtend, stand er inmitten der Leichen, als wäre er selbst noch eben auf der blutgetränkten Erde gelegen und hätte sich wie durch ein Wunder erhoben.

Scheu näherte sich der Köppelecker. »Herr, laß dir sagen, wie der heilige Mann gestorben ist!«

Eberwein wehrte mit der Hand. »Er ist ein Toter unter Toten. Wir wollen der Lebenden gedenken.« Aus dem Ring der Leichen hervorschreitend, sagte er zu der Greisin, die ihn geführt hatte: »Mutter, sammle die Kinder und führe sie zu einem sicheren Hag! Tod und Wunden sind kein Anblick für Kinderaugen.« Dem Köppelecker befahl er: »Wähle die Knaben aus, die bei Kräften sind und die Wege kennen. Sie sollen Botschaft tragen zu entlegenen Gehöften und die Bauern zur Hilfe rufen! Ihr Frauen und Mädchen! Brechet Äste und flechtet sie mit Stangen zu festen Bahren!« Er sandte sie zu einem nahen Gehölz, damit ihnen das gräßliche Bild der Leichen entzogen wäre. Zwölf bejahrte Männer wählte er; sie sollten die Toten zur Klause tragen und vor dem Kirchlein niederlegen. Dann hob er einen Spaten von der Erde. »Ihr anderen Männer alle! Zu mir!«

Jedem wies er einen Teil der Arbeit zu, keiner sollte müßig stehen, keinem die Zeit verbleiben, um stumpf zu versinken in Schmerz und Jammer. Es gab keinen Widerspruch, alle gehorchten. Keiner fragte: Gilt die Hilfe mir, gilt sie dem Nachbar? Die gemeinsame Not hatte sie mit eisernem Band aneinandergeschmiedet wie zu einem einzigen Wesen.

Eberwein fragte nach den Verwundeten. Verwundete gab es nicht. Die stürzenden Felsen hatten den Tod gefordert oder das Leben gewährt. Er fragte, was schon geschehen wäre zur Rettung der Verschütteten, die noch leben könnten? Nur die Leichen hatten sie aufgelesen, die unter freiem Himmel lagen; an andere Hilfe hatten sie in ihrer Betäubung nicht gedacht. Eberwein teilte die Leute in Gruppen und sandte sie nach verschiedener Richtung aus, während er selbst mit wenigen Männern zu den Stätten eilte, auf denen die Zerstörung am übelsten gewütet hatte. Er kam zu einem Haus, das bis zum Giebel unter dünn gemahlenem Schutt begraben lag. Als Eberwein über die Böschung emporklomm, um durch die Lücken des Daches einen Weg ins Innere des Hauses zu suchen, sah er etwas im Schutt sich bewegen gleich einem Wurm. Er begann mit den Händen zu graben und zog ein Knäblein hervor; es lebte und war unversehrt; nur das Mäulchen und die Augen waren mit Schlamm verklebt. Als ihm das Gesichtchen mit Wasser überspült wurde, begann es zu niesen, schob mit dem roten Zünglein die Erde über die Lippen hinaus und lächelte.

Diese erste Rettung belebte die Männer und spornte sie zu heißem Eifer. Einer von ihnen eilte mit dem Kind dem Gehölze zu, in dem die Frauen bei der Arbeit waren. Die Mutter des Kindes fand sich nicht unter ihnen, eine Schwester nur. Weinend und lachend umklammerte sie das Bürschlein und gab es dem Mann zurück. »Trag's nur hin, wo die anderen sind! Ich muß schaffen, oder der gute Herr könnt zürnen.«

Als der Mann den Hag erreichte, in dem die Kinder versammelt waren, sah er die Kleinen dicht gedrängt um die Greisin sitzen, die mit leiser Stimme erzählte: »So hauset er zutiefst im Untersberg, und derweil er schlaft, wachst ihm der lange Bart um den steinernen Tisch herum. All hundert Jahr nur wacht er einmal auf, und wenn er im Wachen den ersten Schnaufer tut, so geht ein Rumpler durch alle Berg, und überall fallen die Steiner.«

»Gelt, wie gestern?« fragte ein blasses Mädel.

»Wohl! Wie gestern! Und da tun sich die Felsen vor ihm auf, und lichtscheinig steigt er aus dem Berg heraus. Überall geht er um im Tal, und wo er einkehrt, bringt er die gute Zeit!«


 << zurück weiter >>