Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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11

Herr Waze hatte mit Recka und seinen drei jüngsten Söhnen den Abendimbiß eingenommen. Als der Tisch geräumt wurde, ging Recka in ihre Kammer, ohne Wort und Gruß. Der Vater sah ihr nach. »Was hat sie?«

»Was wird sie haben?« lachte Otloh. »Sorgen, wo sie einen Mann hernimmt! Sie kommt in die Jahr.« Er spaltete einen frisch geschnitzten Pfeilschaft, um ihn mit einer Auerhahnschwinge zu fiedern.

»Sie könnt doch einen haben!« brummte Herr Waze. »Der Pfleger von Hall, den wir auf der letzten Sauhatz an der Grenz getroffen haben, hat Augen auf sie gemacht, wie der Fuchs auf die Spielhenn. Der nähm sie vom Fleck.«

»Wird sich hüten!« rief Gerold, der hinter dem Lehmofen ausgestreckt auf der Bank lag. »Hast du nit gesehen, wie sie ihm mitgespielt hat? Wie er sie küssen hat wollen beim Umtrunk, hat sie ihm die Faust auf die Brust gestoßen, daß er vor ihr einen Fall getan hat, aber nit auf die Knie!«

»Ach was! Er hat doch gelacht dazu!« meinte Herr Waze. »Der Haller ist ein Freund von vollblütiger Zucht. Das sieht man seinen Rossen und Hunden an. Wenn er ein Weibsbild kriegen kann wie meine Dirn, so nimmt er auch einen Puff mit in den Kauf. Mitgeben kann ich ihr freilich nichts, dafür haben eure sieben Mäuler gesorgt. Und wenn wir die Kuttenlupfer nit wieder hinausbringen aus dem Gaden, können wir übers Jahr das Maul an den Bindfaden hängen. Wie soll ich da dem Mädel noch was mitgeben?«

»Sie hat's in der Faust,« sagte Otloh, »wozu braucht sie noch was im Sack zu haben?«

»Hast recht!« Herr Waze lachte. »Die Rass' an ihr, die schlag ich auf zwei feste Burgen an.«

Gerold kicherte hinter dem Ofen. »Ich mein', dem Haller möcht die Leiter ausrutschen, wenn er die Burgen nehmen wollt.«

Da lachten sie alle, sogar Eilbert, der an einem Fenster stand und über den vom Mondlicht umfluteten Falkenstein hinunterspähte nach dem Fischerhaus. Jetzt rief ihn der Vater an. »Was stehst du allweil? Bring das Brett!« Er putzte die rauchenden Räuber von den Kerzen, setzte sich an den Tisch und füllte die geleerte Bitsche aus einem mächtigen Zinnkrug.

Verdrossen brachte Eilbert das Spielbrett und die Steine. »Was soll das Spiel gelten?« fragte er, sich setzend.

»Ich will dir nichts abgewinnen.« Herr Waze begann die Steine zu stellen.

»Aber ich dir! Um gute Worte spiel ich nit. Da leg ich mich lieber schlafen.« Er stand wieder auf.

»Wirst du bleiben!« schrie der Alte und schmetterte die Faust auf den Tisch.

Eilberts Augen funkelten. »Wieder zuschlagen? Da mußt du schon warten, bis ich wieder eine Fahlgeiß heimbring.«

»So redst du mit deinem Vater?« Herr Waze stürzte auf seinen Buben zu. Gerold und Otloh sprangen auf und warfen sich zwischen die beiden.

Aus dem Hof herauf klang Stimmenlärm und Pferdegetrappel. »Die Buben kommen!« rief Herr Waze, und allen Streit vergessend, eilte er in die Vorhalle.

Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig stiegen von den Rossen. Sie kamen über die Freitreppe, auf der das helle Licht des Mondes lag, und nun standen sie in der Halle beisammen, Herr Waze und seine sieben Buben. Henning erzählte. Keinen Schritt und keinen Beilhieb hatten die Klosterleute getan, von dem die vier Späher nicht zu berichten wußten.

»Und wie haben sich die Leut dazu gestellt?«

»Vier hab ich heimgeschickt.« Rimiger lachte. »Das Wiederkommen wird ihnen verleidet sein.«

»Mir,« sagte Sindel, »ist der Eigel in die Hand gelaufen.«

»Mir auch!« fiel Hartwig ein. »Aus der Strub sind die Leut heraufgestiegen und von der Aschau sind sie herübergekommen. Ich hab ihnen Füß gemacht.«

»Und du, Henning?«

»Ich hab dem Greinwalder Schmierfink eins über das Fell gestrichen. Was ich sonst noch getan hab, wird sich weisen. Der Tag bringt's auf.« Lachend trat er in die Stube. Da stand seine Schwester Recka vor ihm und warf ihm die beiden Teile eines zerknickten Pfeilschaftes vor die Füße. »Schwester? Was soll das?«

Hinter Henning erschien Herr Waze in der Tür.

»Wenn dein Aug die Pfeilbahn nit messen kann,« sagte Recka, »so schieß ein andermal mit Hennenfedern. Die fliegen nit weiter, als du sehen kannst.«

Henning hob den entzweigebrochenen Schaft von der Erde; seine Augen erweiterten sich, er erkannte seinen Pfeil.

»Soll ich bald wissen, was das bedeutet?« schrie Herr Waze.

»Unter dem Lokistein, im Wald, hat er den Pfeil geworfen, ich weiß nit, auf was. Aber gefehlt hat er, und der Pfeil ist hinuntergeflogen gegen die Ache, dem Fischer am Hals vorbei. Der hat ihn aus dem Wasser geholt, und zum Gespött hat er ihn heimgetragen auf der Kappe.« Es zuckte um Reckas Mund, sie wandte sich ab und verließ die Stube.

»Wo der Unschick hingreift mit seinen zwei linken Händen, da kommt allweil eine Dummheit heraus!« Herr Waze trat auf Henning zu und dämpfte die Stimme. »Was hast du gemacht?«

»Er hat geangelt und hätt mir nit besser stehen können. Ich hab gemeint, der Schuß wirft ihn ins Wasser. Es war eine reißende Stell, das Wasser hätt ihn fortgetragen. Und mir ist nach dem Schuß noch gewesen, als hätt ich ihn fallen sehen.«

»Und da hast du Reißaus genommen, du feiner Held? Und derweil ist der Fischer ins Wasser gesprungen und hat den Pfeil gefischt. Schäm dich, Henning! Fehlen! Aber ich weiß schon: auf den Fischer hast du gezielt und seine Schwester hast du im Aug gehabt, an die du dich nit antraust, solang der Bruder lebt.«

»Gib mir vier Leut, Vater,« sagte Henning bleich, »und ich heb ihn aus in der Nacht.«

»Damit morgen ein Geschrei wär im ganzen Gaden und die Kuttenlupfer gleich eine Ursach hätten, die Herren herauszudrehen und sich ins Mittel zu legen? Es geht nimmer auf geradem Weg, wir müssen Umweg machen. Soll's geschehen, so muß es sein in der Still. Paß ihn ab, wenn er über die Seewänd hinsteigt und die Legangeln –«

Hennings Brüder traten in die Stube, und Herr Waze verstummte. »Warum redest du nit weiter?« flüsterte Henning.

»Viele Hunde stellen das Wild, aber viele Treiber verschreien die Jagd. Die Hunde wider den da drunten mußt du da drin haben.« Herr Waze stieß mit der Faust an Hennings Stirn. »Du hast den Bären scheu gemacht, jetzt plag dich und spür ihm die neuen Wechsel ab, die er suchen wird. Und laß die Dirn auf ihrer Meinung, als wär's ein Zufall gewesen. Sie soll nit wissen, was vorgeht.« Ein hartes Lächeln. »Manchmal hat sie einen Blick, der mich an ihre Mutter mahnt. Es geht mir in die Gedärm, wenn sie mich anschaut mit solchen Augen.«

Die alte Ulla trat in die Stube und deckte für die Nachzügler den Tisch. Die Krüge wurden gefüllt und auf den Lichtreif neue Kerzen gesteckt. Lärm und Gelächter füllten die Stube, während draußen die stille Mondnacht ihren Schimmer und Zauber wob.

Ein zitterndes Leuchten lag über dem See, den der laue Windhauch der Sommernacht mit winzigen Wellen überkräuselte. Manchmal ließ sich das Quaken einer Wildente hören, und im Schilf um den Bidlieger raschelte es zuweilen und plätscherte das Wasser; eine fischende Otter stieg ein und aus. »Der Bid geht um!« hätte Rötli gesagt.

Stille Stunden vergingen, und Mitternacht war nahe. Da knirschten Tritte im Sand der Lände, und ein Wanderer überschritt den freien Platz. Eigel war es, der als Thingbot zu den Almen stieg. Auf rauhen Pfaden wanderte er, dem Falkenstein und Wazemanns Haus gegenüber, den steilen Hang der Seeberge empor; mit spärlichen Lichtern fiel der Mondschein durch die Bäume auf seinen Weg.

Es wollte die Nacht sich schon zum Morgen neigen, als Eigel auf der abgeplatteten Höhe des Berges die erste der Almen erreichte. An drei Hütten schritt der Kohlmann vorüber. Aus dem schwarzen Schatten eines vorspringenden Daches sprang eine dunkle Gestalt hervor und verschwand im nahen Gebüsch – ein Bub, der am kleinen Hüttenfenster gestanden. Eigel lächelte: »Auf den Alben sind sie dem Tod feind, da sorgen sie fleißig fürs Leben.«

Über eine weite Halde führte der Weg zur nächsten Hütte, darin die beiden Sennen hausten, die dem Fischer hörig waren; Kühe lagen im Gras umher und drehten die Köpfe nach dem einsamen Wanderer. Mitten im Almfeld brannte ein loderndes Feuer, das vom Almwächter die ganze Nacht hindurch geschürt wurde, um die Raubtiere zu verscheuchen.

Die Sterne begannen zu erlöschen, und eine fahle Helle schlich über die östlichen Bergzinnen empor, als Eigel sich der letzten von allen Hütten näherte. Ein rötlicher Feuerschein leuchtete aus der kleinen Fensterluke.

»Schau, das sind fleißige Leut!« murmelte der Kohlmann. »Die warten nicht, bis der Tag wecken kommt!« Er beschleunigte seinen Schritt, und bald hörte er aus der Hütte den lauten Klang zweier Stimmen. Aber das war nicht die ruhige Zwiesprach, wie man sie halten mag vor Beginn des Tagwerks. Es klang wie Zank und Streit. Je näher Eigel kam, desto deutlicher unterschied er eine kreischende Weiberstimme und die rauhe Kehle eines Mannes; er hörte Schimpfworte, hörte das Rasseln fallender Holzgeschirre und ein Klatschen, als gäb' es Hiebe. Eigel begann zu laufen; als er über den letzten Hang emporeilte zur Hütte, tat die Tür sich auf. »Schlagen willst du? Schlagen? Wart, das vertreib ich dir!« klang die kreischende Weiberstimme, und über die vom Herdfeuer rot erleuchtete Schwelle kam ein schwarzer Klumpen herausgeflogen in die graue Dämmerung des Morgens. Die Tür wurde zugeschlagen, und der Riegel knarrte, während Eigel den an die Luft Gesetzten mit beiden Armen auffing.

»Zeit lassen, Kaganhart!« rief der Kohlmann lachend. »Das ist lieb von dir, daß du mir entgegenkommst!«

Keuchend hob der Bauer die Fäuste und schrie gegen die Hütte: »Solch ein Schandweib! So eine Trud und Nachthex!«

Eigel drückte ihm die Hand auf den Mund und zog ihn mit sich fort, um aus dem Hörbereich der Hütte zu kommen. Es währte lange, bis Kaganhart sich so weit beruhigte, daß er auf Fragen hörte und Antwort gab. Während sie auf dem Rand eines ausgehöhlten Baumstammes saßen, in dem eine sickernde Quelle zum Trank für die Kühe gesammelt wurde, erzählte der Bauer: »Seit gestern mittag hat der Streit kein End mehr. Ich bin vom Schönauer heimgelaufen und hab gemeint, sie sollt was hergeben für die Gottesleut. Aber da bin ich schön angekommen. Geschrien hat sie und ist umgefahren im Haus, wie eine Schwarzalfin im Feuerloch. Und wie wir heraufgestiegen sind auf die Alben, den ganzen Weg über hat ein Wörtl das ander gejagt.«

»Du hast halt gebockt und dawidergeschrien, gelt?«

»Da soll einer stillhalten können! Schrei einen Berg an, er schreit halt auch zurück. Auf die Nacht hab ich die Schüssel nit angerührt vor lauter Zorn. Völlig aufgeschnauft hab ich, wie ich endlich dringelegen bin im Heu. Sie hat noch eine Weil umgekrustet im Kaser, aber kaum ist sie neben meiner gelegen, da ist die Hatz von vorn wieder angegangen.«

»Und da wär die beste Zeit gewesen, daß du dich versöhnt hättest mit ihr!«

»Das hab ich doch wollen!« platzte Kaganhart heraus.

Der Kohlmann lachte: »Aber sie hat nit mögen?«

»So eine ungute Keifin! Die ganze Nacht war kein Fried nimmer, und kein Aug hab ich zugemacht. Wie ich's gar nimmer ausgehalten hab, bin ich aufgesprungen und hab Feuer geschürt. Und da fangt sie ein Schelten an, weil ich das Holz verbrenn, das man so weit hertragen muß über die Alben. Weil sie gar nimmer aufhört, fahrt mir der Zorn in die Faust, und ich pack einen Besen.«

»Den Stiel hat sie erwischt und hat ihn umgedreht? Gut, Bauer, daß ich bei der Hand gewesen bin. Steinplatten liegen vor deiner Hüttentür. Da hättest du mit deiner Nas an einer harten Blum riechen müssen.«

»Vergelts, daß du mich bewahrt hast davor!« dankte der Bauer gutmütig. »Aber was führt dich auf die Alben, mitten in der Nacht?«

Eigel wurde ernst. »Schier mein' ich, ich sollt bei dir vorbeigehen. Wer nit aufkommt wider sein Weib, wird auch nimmer seinen Mann stellen bei Thing und Rat.«

Der Bauer erhob sich. »Als Thingbot kommst? Lad mich, Eigel! Tu mir keine Unehr an!«

Der Kohlmann zog das Messer aus dem Kittel, berührte mit dem Heft die Brust des Bauern und sagte seinen Spruch. Kaganhart legte die Schwurfinger an das Messer. »Heut über zwei Nächt, wenn Vollmond einsteht! Ich hab's gehört und schweig. Fahr weiter, Thingbot!«

Eigel wollte gehen; der Bauer hielt ihn zurück. »Kohlmann! Geh mit hinein in den Kaser! Wenn ein Dritter dabei ist, halt sich mein Weib ein lützel im Zaum.«

»Meinthalben!«

Sie gingen zur Hütte. Kaganhart pochte an die Tür. »Tu auf, Weib!« Nur das Geprassel des Herdfeuers ließ sich aus der Hütte vernehmen. Ungeduldig rüttelte der Bauer an den Bohlen. »Weib! Wirst auftun oder nit?«

In der Hütte blieb es still. Nach einem zornigen Fluch schmetterte Kaganhart die Fäuste gegen die Tür, während Eigel flüsterte: »Wenn sie dich so fluchen hört, tut sie nit auf. Geh weg, ich will ihr ein gutes Wörtl geben!« Mit dem Ellbogen schob er den andern beiseite; im gleichen Augenblick tat die Tür sich auf, und ein nasser Tuchfetzen flog dem Kohlmann um die Ohren, daß es klatschte. Eigel duckte sich, um einem zweiten Streich zu entgehen, und humpelte flink davon. Da konnte ihm nun der Bauer das Lachen und die Schadenfreude heimzahlen. Als die Bäuerin das schallende Gelächter ihres Mannes hörte, erschien sie mit verdutztem Gesicht auf der Schwelle; ein festes Weib, noch jung, von stämmigem Wuchs, die niedere Stirn umzogen von dicken Blondzöpfen. Weil sie merkte, daß ihre Rache niedergefahren war über ein unschuldig Haupt, begann auch sie zu lachen und zeigte zwischen den dicken Lippen zwei Reihen blinkender Zähne. »Hilmtrud,« lachte Kaganhart, »den hast du schön ausgezahlt!« Ruhig puffte er mit der Faust an den nackten Arm des Weibes.

»Wer war's denn?«

»Der Kohlmann.«

»Wie kommt denn der auf die Alben? Was hat er wollen?«

Der Bauer wurde verlegen. »Ich weiß nit!« Er drückte sich in die Hütte.

Hilmtrud stemmte die Fäuste auf die breiten Hüften. »Ich möcht wissen, was er wollen hat von dir?«

»Frag nit weiter, ich sag's nit.«

»Da muß ich dir halt die Zung lösen.« Sie warf die Tür zu, als wollte sie ihrem Opfer den Weg zur Flucht versperren.

Inzwischen wanderte der Kohlmann im grauen Dämmerlicht des Morgens über das ebene Almfeld; wo er ging, hoben sich die Kühe aus dem Gras. Ein wüster Urwald nahm den Wanderer auf. Es dunkelte noch zwischen den Stämmen, und die Feuchte der Nacht, die Modergerüche des faulenden Fallholzes erfüllten die schwül zwischen den Bäumen liegende Luft. Jenseits des Waldes, in einem hügeligen, von starrenden Felswänden umzingelten Hochtal lag das fruchtbarste Weideland: die Regenalm.

Von den sieben Hütten war eine dem Marderecker eigen, eine gehörte zur Hufe der Hanetzerbuben, und in der größten von allen hausten die zwei hörigen Almerinnen des Richtmanns in der Schönau. Die beiden Dirnen waren schon munter und kochten die Morgensuppe. Vom Geprassel des Feuers wurde Ruedlieb geweckt, der im Dachraum der Hütte auf dem Heu geschlafen hatte. Er ließ sich von den Sparren niedergleiten, schüttelte die Heufäden von seinem Gewand und trat ins Freie. Da hörte er schreiende Stimmen und blickte der Richtung zu, aus der sie klangen. Ihm zu Füßen senkten sich im Halbkreis die Almgründe in ein schmales, dem See entgegenlaufendes Tal, das auf der einen Seite von einem steilen Waldhang, auf der anderen von der schroffen, nur mit Gestrüpp bewachsenen und kaum wegsamen Regenwand geschlossen wurde.

Aus diesem Tal herauf klang das wilde Geschrei. Ruedlieb eilte über den Hang hinunter und mußte zur Seite weichen; eine Schar flüchtender Kühe sprengte ihm entgegen, brüllend, jedes Tier mit schäumendem Maul und aufgequollenen Augen, im Sprung mit den Hinterfüßen ausschlagend. Nach allen Seiten sah Ruedlieb die Ziegen und Schafe flüchten, und von allen Hütten sprangen die Senner und Almerinnen dem Tal entgegen, Steinbrocken von der Erde raffend, Prügel schwingend, unter gellendem Geschrei: »Der Bär! Der Bär! Er hat eine Geiß gerissen! Dort! Der Bär! Dort! Dort! Er nimmt die Wand an! Lauft! Lauft! Erschlagt ihn! Drauf! Erschlagt ihn!«

Ruedlieb riß das Messer aus dem Gürtel, und in langen Sätzen, daß unter seinen Füßen die Steine flogen, sprang er über die steile Halde hinunter. Da sah er schon die Leute am Fuß der Regenwand, Steine werfend und die Prügel schleudernd; unter ihnen stand der Marderecker, mit fahlem Gesicht, auf den bleichen Lippen immer das eine Wort: »Meine Geiß! Meine Geiß!« Ruedlieb sah den Bären, der, die Ziege schleifend, in die Felswand einstieg, unbekümmert um das zeternde Geschrei, der Steine und Prügel nicht achtend, die um ihn herprasselten. »Leut, laßt das Werfen sein!« schrie Ruedlieb und sprang mit gezücktem Messer über den Schutt empor, der besudelt war mit dem Blut der Ziege. Das Raubtier gewahrte den Verfolger. Einen Augenblick zögerte der Bär, dann ließ er sein Opfer fallen, und während die verendete Ziege mit schlagenden Läufen niederrollte über den steilen Schutt, tat der Bär einen gewaltigen Sprung und gewann ein Felsenband, auf dem er hineintrabte in das schroffe Gewänd.

Ruedlieb stieß einen klingenden Jauchzer aus. Die Leute wußten diesen Ruf nicht zu deuten; sie wußten auch nicht, was sie denken sollten, als sie den Bären mitten im Gewänd auf einer schmalen Grashalde jählings verschwinden sahen, wie von der Felswand eingeschluckt. Ruedlieb schwang sich auf das Felsenband, und da fielen ihm plötzlich die Worte des Vaters ein: »Laß dir nit in den Sinn kommen, daß du mit einer Hand an das Gewild rührst!« Lachend trat er den Rückweg an; es wurde ihm nicht schwer, die Worte des Vaters zu befolgen; das Raubtier war gut aufgehoben; es bedurfte keiner Hand mehr, um ihm den Garaus zu machen. Als Ruedlieb die schreienden Leute erreichte, blieb er vor ihnen stehen, mit brennendem Gesicht, und sagte: »Geht heim, Leut! Der Braungesell hat heut die letzte Geiß gerissen.« Das Messer in die Scheide stoßend, schritt er davon.

Der Marderecker kniete vor seiner zerfleischten Ziege und jammerte; die anderen schrien, noch immer begriffen sie nicht. »Ich steig hinauf,« kreischte der ältere Hanetzer, »ich muß wissen, was da geschehen ist.« Es wurde ihm nicht leicht, das Felsenband zu gewinnen; als er die Stelle erreichte, wo der Bär verschwunden war, schrie er den Leuten mit gellender Stimme zu: »Da liegt er in der Grub! Seil her! Seil! Den müssen wir fangen!«

Die es hörten, begannen zu johlen wie in trunkenem Jubel; die einen rannten den Hütten zu, um Seile zu holen, drei Sennen kletterten in die Felswand ein, die anderen, Almerinnen und Geißbuben, umgingen die Wand und erstiegen den Grat von der Almseite. Als sie aus der Höhe niederblickten in die Grube, sahen sie das gefangene Raubtier aufrecht sitzen, mit den kleinen schwarzfunkelnden Augen zornig nach einem Ausweg spähend.

Schimpfworte und Spottreden kreischten von allen Seiten. »Erschlagt ihn! Erschlagt ihn!« schrie eine der Almerinnen, und eine andere: »Laßt die Felsen über ihn hinunter!«

»Nein! Nein!« rief der Hanetzer. »Lebendig müssen wir ihn haben! Lebendig!«

Seile wurden über die Felswand herabgelassen, an jedes knüpfte der Hanetzer eine Schlinge, und ihm und den drei Sennen gelang es, die Tatzen des Bären in die würgenden Schlingen einzufangen. Unter wildem Geschrei ein Ruck an den Seilen, und der Bär hob sich, rollte aus der Grube und pendelte, ein wehrloser Klumpen, an der Felswand, während der Hanetzer und die Sennen springend das Tal gewannen. Langsam schwebte der Bär über die Wand herab, gaukelnd in seiner ungestümen und dennoch nutzlosen Gegenwehr, im Kreis sich drehend und anprallend gegen die Steinschrofen. Mit den Haken der Grießbeile schleiften der Hanetzer und die Sennen das gefesselte Tier, als es den Boden berührte, in die Mitte des Tales, packten die Seile und rannten nach vier Seiten auseinander, so daß der Bär auf dem Rücken lag, mit seitwärts gezerrten Tatzen, wehrlos und entkräftet.

Alle kamen herbeigesprungen, schrien und kreischten, johlten und jauchzten, wie befallen von Raserei, von einem Rausch der Grausamkeit. Was hatten sie um dieses Tieres willen leiden müssen, ohne Schutz und Hilfe! Blutende Wunden hatte es ihrem Dasein gerissen, ihrem kärglichen Besitz; gedarbt und gehungert hatten sie, gezittert und geweint, Not und Jammer getragen um dieses Tier! Jetzt war es in ihre Hand gegeben und sollte büßen! In schreiender Wut bewarfen sie es mit Steinen und stießen ihm die eisenbeschlagenen Schuhe in die Weichen. Der Bär gab keinen Laut, als wäre er zu stolz, den Peinigern seine Qual zu verraten; nur manchmal suchte er den blutigen Kopf zu erheben und drehte die funkelnden Augen nach allen Seiten. Mit Prügeln schlugen sie nach ihm und rissen ihm Fäuste voll Haare aus dem Pelz. Wie ein Besessener packte der Marderecker die zerfleischte Ziege, stieß dem Bären die bluttriefenden Fleischfetzen in den Rachen und keuchte: »Friß! Friß! Friß!« Eine Dirn, die einer von Wazemanns Söhnen ehrlos gemacht, spie dem Bären in die Augen und schrie mit schäumenden Lippen: »So wie der, so sollt ein anderer daliegen vor uns! Ein anderer!« Wie Feuer schlug diesem Wort in die rasenden Gemüter. »Waze! Herr Waze!« schrien sie den Bären an, und ein Hagel von Steinen ging nieder auf das wehrlose Tier.

Ruedlieb, den das Geschrei gerufen hatte, kam herbeigelaufen. »Aber Leut! Seid ihr noch Menschen? Habt doch Erbarmen und laßt mich hin, ich will ihm den Gnadenstoß geben!« Sie drängten den Buben zurück. Und der Hanetzer schrie: »Was tun wir dem Bären an, daß er leiden muß, recht leiden, recht, recht!« Da sah er den Kohlmann des Weges kommen. »Eigel! Her da!« Mit der Stimme des Hanetzers vermischte sich das Geschrei der anderen: »Komm her! Sag, was wir ihm antun sollen! Sag, was das Grausigste ist!«

Der Kohlmann stand vor dem Bären und sagte: »Das Grausigste? Laßt ihn heiraten wie der Kaganhart!«

Einen Augenblick herrschte das Schweigen der Verblüffung, dann brach ein schallendes Gelächter los. Der Bär schien zu fühlen, daß die straff gespannten Seile sich lockerten, jählings machte er eine gewaltsame Anstrengung, überschlug sich und stand auf den Füßen; drei Seile flogen, nur der Hanetzer hielt das seine noch fest umklammert. Ein gellendes Geschrei erscholl, und die Dirnen flüchteten. Die Männer, allen voran der Hanetzer, sprangen auf den Bären ein. Dumpf brüllend erhob sich das Tier und schlug mit der Tatze. Erbleichend wich der Hanetzer zurück, und während das Blut von seinem Schenkel sprudelte, rannte der Bär in jagender Flucht talabwärts, die Seile schleifend, deren Enden ihn umringelten wie graue Schlangen. Zwischen den Bäumen verschwand er. Wohl stürzten ihm Ruedlieb und die Sennen nach, aber sie bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht; nur die Seile fanden sie, deren gelockerte Schlingen von den Tatzen des flüchtenden Bären abgefallen waren. Als die Leute die Verfolgung aufgaben, sagte Ruedlieb: »Das gönn ich euch!« Er stieg in die Regenwand hinauf, um die Grube zu verschütten, die er ausgeworfen.

Die Sennen begannen miteinander zu hadern. »Du bist der erste gewesen, der das Seil hat fahren lassen!« schrie der eine. Und der andere: »Das ist in dein Maul gelogen, du selber bist's gewesen!« Ein Wort gab das andere, sie gerieten sich in die Haare und redeten weiter mit den Fäusten.

Den verwundeten Hanetzer verband der Kohlmann; dann suchte er noch den Marderecker und brachte ihm als Thingbot die Ladung. Unter der steigenden Sonne zog er weiter. Als er auf dem Rückweg an der Almhütte des Kaganhart vorüberkam, sah er den Fensterladen und die Tür geschlossen. Kaganhart und Hilmtrud holten den in der Nacht versäumten Schlummer nach. Einträchtig lagen sie nebeneinander im Heu, und der Bauer hielt im Schlaf den Arm um den Hals seines Weibes geschlungen. Sie hatten Versöhnung gefeiert, nicht früher freilich, bevor nicht Hilmtrud wußte, was Kaganhart lieber verschwiegen hätte: »Heut über zwei Nächt, wenn Vollmond einsteht!«


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