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Auf der kahlen, von dichtem Urwald umschlossenen Kuppe des Totenmannes loderte in der stillen Nacht das Thingfeuer. Die Flammen beleuchteten eine alte, dürre Eiche, zwischen deren Wurzeln ein behauener, von Moos und verkümmertem Efeu umwucherter Stein sich erhob. Mit zuckender Helle fiel der Schein des Feuers über die grasige Lichtung, auf der in Gruppen die zum Thing erschienenen Männer standen oder lagerten, die einen schweigend, die anderen in halblautem Gespräch. Immer noch tauchten neue Gestalten aus dem finsteren Walde hervor und machten mit wortlosem Händedruck die Runde bei den andern.
Neben dem Feuer stand Eigel, der Thingbot, und von dem dürren Holze, das andere herbeitrugen, legte er Ast um Ast in die Flammen. Vor dem Stein, auf dem das Messer des Richtmanns und ein Wedel aus Wacholderzweigen lag, saßen die beiden Thingschöffen, Kaganhart und der Köppelecker; zwischen ihnen lag ein Bündel dünner Buchenruten, die sie in kurze Stäbchen zerschnitten; immer eines ließen sie in der dunklen Rinde und das andere schälten sie weiß. Nicht weit von ihnen lag ein an den Füßen gebundener schwarzzottiger Bock im Gras und daneben ein Hahn, an Füßen und Flügeln gefesselt.
Während sich mit dem Schein des Thingfeuers schon das Licht des steigenden Vollmonds mischte, kam einer der letzten, der Schönauer. Sein Gesicht war ernst, und schwer ging sein Atem. Eigel und die Schöffen traten ihm entgegen und reichten ihm die Hand; dann kamen auch die anderen, um den Richtmann zu grüßen. »Viel seh ich, aber einen miss' ich!« sagte er. »Wo ist Sigenot der Fischer?«
»Er war der erst, der gekommen ist.« Eigel deutete gegen den Waldsaum. Dort saß der Fischer im Schatten einer Fichte, das Schwert über dem Schoß, das Gesicht in die Hände gedrückt. Der Richtmann wollte auf ihn zutreten; Eigel hielt ihn am Arm zurück und flüsterte: »Die Ramsauer fehlen. Es hat mir gleich geschwant.« Er hatte kaum ausgesprochen, da kam aus dem Wald ein Zug stiller Männer hervor, wohl dreißig an der Zahl, geführt von einem weißhaarigen Greis; der alte Runot war's, der auf dem Lindtaler Zinsgut saß, der Gaumann der Ramsauer.
»Da sind sie!« sagte der Richtmann aufatmend und schritt den Kommenden entgegen. »Ihr säumet lang, Männer! Schon will der Vollmond einstehen zur Mitternacht. Luget hin; der Eichschatten schneidet den Blutstein!«
»Beim Hirscheneck haben wir uns gesammelt,« erwiderte der Greis, »und haben geharret auf einen, der nit hat kommen wollen. Er ist der Beste von uns.«
»Wen meinst du?«
»Unseren guten Bruder Hiltischalk.«
»Es kann nit kommen, wer nit geladen ist!« sagte der Richtmann.
Erschrocken legte Runot die Hand auf des Schönauers Arm, während aus der Schar der Ramsauer unmutige Worte sich hören ließen. »Richtmann, das war übel getan!«
»Das war getan nach Recht und Brauch. Wenn das Thing gerufen wird wider einen im Gaden, so laden wir seinen Vater nit und nit seinen Bruder. Heut hab ich das Thing gerufen wider die Klosterleut, die ins Tal gekommen sind.« Eine murmelnde Unruh ging durch den Kreis der Männer; mancher von ihnen hörte mit diesem Wort die erste Botschaft von der Ankunft der Mönche. »Ich hab den Hiltischalk nit geladen, er ist ein Gottesmann und der Gottesmänner Bruder. So hab ich getan nach Recht und Brauch.« Der Widerspruch der Ramsauer wollte nicht verstummen. Unwillig hob der Schönauer den grauen Kopf. »Wenn ihr meinet, ich hätt gefehlt an meinem Amt, so wählt einen anderen Richtmann! Heut halt ich das heilige Messer noch, und wer murren will gegen mich, wider den ruf ich das Thinggericht.« Er schritt zum Stein und faßte das Messer. »Vollmond steht ein. Das Thing ist aufgetan. Gauleut, tut euch zueinander!«
Während Eigel das Feuer schürte, sammelten sich die Männer zu getrennten Gruppen. Um den Köppelecker standen die von der Schönau und von Unterstein, um Runot die von der Ramsau, vom Hintersee, vom Schwarzeck und von der Taubenlack, um den Schmied Ilsanker die Männer aus dem Engedein und der Strub, um den Hochgarter die aus der Aschau und dem Loipl, um den Greinwalder die Hochbauern vom Göhl und Untersberg. Sigenot der Fischer stand allein.
»Thingbot!« rief der Richtmann. »Zähl die Stimmen!« Von einer Gruppe schritt Eigel zur andern. Als er zum Richtmann zurückkehrte, sagte er: »Hundert und vier hab ich geladen. Hundert und drei hab ich gezählt. Einer fehlt!«
Der Richtmann spie auf die Erde. »Wie er auch Namen hat, und wär er mein eigen Blut, keiner soll ihm Freund sein, jeder soll ihm Feind sein! Fallt er in Not, so löst ihn keiner, liegt er in Weh, so tröst ihn keiner! Unehr über ihn!«
»Unehr über ihn!« klangen hundert Stimmen im Ring.
»Thingbot, tu seinen Namen kund!«
Eigel zögerte. »Der alte Gobl.«
Ein Gemurmel ging durch die Gruppen der Männer. Im Gauring der Schönau sagte der Schapbacher: »Hätt ich gewußt, daß es der Gobl ist, ich hätt nit geflucht wider ihn. Über seinen Weißkopf ist so viel Leid gefallen, daß die Unehr daneben kein Platzl nimmer hat.«
Eigel hatte den Hahn von der Erde gehoben und ihm die Füße und Flügel entfesselt. Der Vogel flatterte und krähte, als ihn der Richtmann ergriff. »Was ein Gockel ist, muß gackern!« sagte der Schönauer. »Wer das Thingfeuer hat brennen sehen, muß schweigen können, wenn der Morgen kommt.« Er hob mit der Linken den flatternden und krächzenden Hahn. »Schau das Feuer an und tu keinen Laut mehr!« Mit jähem Messerhieb schlug er dem Vogel den Kopf vom Rumpf und warf ihn zu Boden. Ein Brünnlein spritzte aus dem Hals des Hahns, der kopflos, mit schlagenden Flügeln, noch einige Sprünge tat. Als er tot zur Erde fiel, hob ihn der Köppelecker auf, riß ihm eine Feder aus, reichte den Hahn weiter und steckte die Feder auf seine Kappe. So wie er, tat jeder andere. Eigel, der den Hahn zuletzt empfing, warf den gerupften Vogel ins Feuer.
»Wer da redet in der Thingnacht, soll unter der Hahnenfeder schweigen am Tag,« rief der Richtmann, »oder eh der Mond wieder voll wird, soll er heißen, wie der Boden heißt, auf dem wir stehen. Mannerleut, hebet die Hand zum Schwur!«
Alle Schwurhände erhoben sich, nur eine nicht. Eigel war, als er den Hahn ins Feuer warf, der Flamme zu nah gekommen, und sie hatte den Zipfel seines grauen Kittels gefaßt; nun mußte er die Glut des Tuches mit den Händen ersticken.
»Thingschöffen?« fragte der Richtmann. »Ist kein unberufen Ohr im Ring?«
Kaganhart und der Köppelecker traten vor und sprachen, einer mit dem andern wechselnd: »Die Nacht ist einödig, und unbegangen der Wald. Wir haben gelugt in jeden Gipfel und geschlagen auf jeden Busch. Der Ring ist gezogen auf dreimal hundert Gang in der Weit, die Wächter stehen und lassen nit ein, was nit gerufen ist, sei's Mensch oder Tier, Haar oder Feder.«
»So wollen wir unter uns Mannerleut raiten um unser Wohl, mit Mannswort und Mannsverstand. Zwei Weg gehen aus, der eine ist recht und der ander ist schlecht, wir wollen meiden den schlechten und suchen den rechten, daß wir hüten vor Schad und Nöten unser Haus, Weib und Kind, Stall, Vieh und Gesind. Mannerleut, her zur Heilstatt!« Während ein enger Ring um Feuer und Eiche sich bildete, hoben die Schöffen den Bock auf den Blutstein. Da gewahrte der Richtmann, daß die Ramsauer zur Seite stehen blieben in getrennter Gruppe. »Ramsauerleut, her zur Heilstätt!«
Der alte Runot streckte das Grießbeil vor seine Gauleute und schüttelte den Kopf. »Tu mit den Deinen, wie du meinst, daß es Brauch ist seit alter Zeit. Das soll euch keiner wehren. Es soll aber auch uns nit verwehrt sein, daß wir tun nach unserem Brauch, wenn's gilt, zu hüten vor Schad und Nöten unser Haus, Weib und Kind, Stall, Vieh und Gesind!« Der Alte stieß das Grießbeil in die Erde, beugte sich nieder und faltete die Hände. Rings um ihn her knieten die Männer der Ramsau, und der Feuerschein glänzte in ihren Augen, die emporgerichtet waren zum mondlichten Himmel.
Bewegung und Murren ging durch die Reihen der anderen, und die Erregung steigerte sich noch, als Sigenot der Fischer auf die Ramsauer zuging und neben dem alten Runot das Knie beugte. »Fischer!« stammelte der Richtmann, und es zitterte seine Hand, die das Messer schon an den Hals des Bockes gelegt hatte.
Der Greinwalder schien dem Fischer folgen zu wollen; auf halbem Wege blieb er stehen, kraute sich hinter dem Ohr und drehte die Augen wieder dem Blutstein zu. Eigel, dessen Hände den Bock gefesselt hielten, stieß den Köppelecker mit dem Ellbogen an und sagte: »Greif zu, Schöff, daß ich die Händ ledig krieg. Ich hab einen Weg da hinüber.«
»Thingbot,« rief ihn der Richtmann an, »halt fest!« Er führte durch den Hals des Tieres rasch den tötenden Schnitt, während die Ramsauer mit halblauten Stimmen ihr Lied begannen:
»Mein guter Herre, du mein Gott, Dein Schild ist wider alle Not, Du hürdest fest und hagest gut, Herr, nimm uns auf in deine Hut!« |
Gleich einem sprudelnden Quell rann das Bocksblut über den Stein. Der Richtmann tauchte den Wacholderwedel in das dampfende Bächlein und sprengte die Tropfen gegen den Eichbaum. »Das Blut soll rinnen, daß uns die Holden Gutes sinnen!« Wieder netzte er den Wedel. »Das Blut soll rinnen, daß uns die Unholden kein Übel spinnen!« Mit wachsenden Stimmen klang das Lied der Ramsauer:
»Mein guter Herre, du mein Gott, Tu speisen uns mit Himmelsbrot Und heb uns aus dem Leidental Hinauf in deinen Freudensaal!« |
Das Lied verklang, und die Stimme des Richtmanns hallte: »Das Feuer scheinet, das Feuer reinet!« Er warf den bluttriefenden Wedel in die Glut; eine schwarze Rauchwolke trübte den Schein der Flammen, doch schnell verzehrte das Feuer die qualmenden Zweige und loderte wieder in reiner Helle.
»Jetzt, Mannerleut, lasset uns raiten um unser Wohl!« Vor dem Blutstein ließ sich der Richtmann auf eine Wurzel der Eiche nieder, und um ihn her im Halbkreis lagerten sich die hundert Männer, während die Schöffen dem verbluteten Bock das Fell abzogen, und Eigel neben dem Feuer über einem Haufen glühender Kohlen den Bratspieß rüstete. Die Metkannen gingen um, ihre hölzernen Deckel klapperten, und murmelnder Zuspruch und Dank ließ sich vernehmen.
Mit lauter Stimme begann der Richtmann zu sprechen, langsam, als wöge er jedes Wort. Er redete von der Stiftung, die Frau Adelheid auf ihrem Sterbebett getan, von der Ankunft der Klosterleute, von ihrem Klausenbau beim Lokistein. »Sie sind nach Brief und Siegel wohl die Herren im Gaden, Herr Waze aber sitzt auf seinem festen Haus und hat die Macht. Für ihn und seine Buben ist Zins und Steuer, was für die Kuh das Futter ist. Und so müssen sie stehen wider die Klosterleut, wie der Senn wider die Wölf. Es wird ein schieches Raufen anheben zwischen denen beim Lokstein und denen in Wazemanns Haus. Und wir Gadener liegen dazwischen, wie das Korn zwischen Mahlstein und Reiber. Zu wem sollen wir halten? Jetzt raitet, Mannerleut, wie wir uns hüten mögen vor Not und Schaden! Runot, du bist der Älteste, tu die erste Red!«
Der Greis erhob sich. »Ich weiß keine! Unser Bruder Hiltischalk hätt das richtige Wörtl gefunden und den guten Weg gewiesen. Du hast ihn nit geladen, Richtmann. So haben wir ausgeredet, wir Ramsauer, denn mit ihm ist unsere Stimm daheim geblieben.«
Wirr schrien im Kreis alle Stimmen durcheinander. Der Schönauer hob das Messer, doch eh er noch sprechen konnte, war Eigel mit geballten Fäusten in den Ring gesprungen. »Leut, Leut! Ich hätt gemeint, die Frag, zu wem wir halten sollen, wär ausgeraitet beim ersten Wort. Wenn ich die Wahl tun muß zwischen Trunk und Durst, zwischen Tag und Nacht, zwischen Lieb und Haß? Muß ich mich da noch besinnen und raiten? Ist denn einer unter euch, der den Waze nit kennt und seine Buben? Einer, dem er nit gerissen von seinem Gut und Vieh? Einer, der seine Buß nit geschmeckt hat und nit weiß, wie seine Ruten brennen? Einer, der vor ihm und seinen Buben nit gebanget hat um Weib und Tochter? Und da raitet ihr noch?« Die Glut seiner Worte faßte die Männer und weckte zornigen Beifall. »Not und Unrecht hat er ausgeworfen über uns, Lieb hat er gerissen von Lieb und hat uns geschlagen mit Weh und Jammer. Jetzt kommt für ihn die zahlende Stund und für euch die gute Zeit!«
Der Schönauer war aufgesprungen. »Kohlmann? Du hast sie wohl schon in der Hand, die gute Zeit? Schau sie doch an beim Lichtschein! Ob's auch die gute ist? Es könnt auch die schlechtere sein! Du raitest nit für die anderen, nur für dich. Dein Gesicht ist rot. Aus dir redet der Zorn wider Waze, der dir die Salmued genommen.«
»Und dein Gesicht ist weiß. In dir zittert die Angst um deinen Buben. Besinn dich, Richtmann! Die Zeit, die uns die Klosterleut bringen, ist die beste, die uns blühen kann. Deinem Buben und dir! Ich hab von den Klosterleuten einen geführt. Das ist der Öberste von ihnen, dem der Gaden gelegt ist in die Herrenhand. Ich hab ihm ins Aug geschaut. Lichtscheinig hat's mich angeleuchtet wie der Vollmond in der Finsternis. Mit dem ist ein gutes Hausen, Leut! Und eh ich mein Hölzl in die Bockshaut leg, mag jeder wissen, wie ich lose: weiß für die Gottesmänner!«
»Ich auch!« fiel Kaganhart ein. Während im Ring die Stimmen durcheinander schwirrten, faßte Eigel den Kaganhart am Arm: »Mehr ist dir nimmer eingefallen? Um die zwei Bettelwort wär's nit der Müh wert gewesen, daß ich dich geladen hab. Dein Weib hätt das Maul wohl anders aufgetan!«
»Laß mir doch Zeit,« brummte der Bauer, »ich red schon noch und stell meinen Mann.«
Den wachsenden Lärm überklang die Stimme des Gernroders: »Ich bin den Klosterleuten gut. Einer von ihnen ist zu meinem Haus gekommen und hat meinen Kindern Liebs erwiesen.«
»Ohne die Klosterleut hätt mein armes Mädel verbluten müssen,« rief der Greinwalder, »ich steh zu ihnen.« Er ballte die Faust. »Der Fichtenwipfel in meiner Kammer wartet auf seinen guten Tag.« Und der Marderecker schrie: »Ob für oder wider die Klosterleut, das ist mir alles eins, wenn's gegen den Waze geht.«
Immer mächtiger wuchs das Gewirr der Stimmen. Der Schönauer hob das blitzende Messer, aber niemand achtete des Zeichens, mit dem er Schweigen forderte. Da sprang der Schmied von Ilsank auf einen Stein, und mit hallender Stimme, die sich Gehör erzwang, schrie er über die Köpfe hinweg: »Mannerleut! Was wir leiden müssen vom Waze und seinen Buben, das wissen wir all. Wer aber sagt uns, was wir hoffen sollen von denen beim Lokstein?« Tiefe Stille trat ein. »Das muß uns einer sagen, wenn wir raiten sollen!« rief der Ilsanker. »Wer weiß denn das?«
»Ich, Leut!« Sigenot war in den Ring getreten. Laute Rufe begrüßten den Fischer. Der Spannung, die aus allen Gesichtern sprach, war es anzumerken, wie schwer das Wort dieses einen wog. Enger zog sich der Ring um Sigenot, der, die Hände über den Knauf des Schwertes gelegt, hochaufgerichtet stand, das ernste Gesicht überstrahlt vom Schein des lodernden Feuers. »Mannerleut,« rief er mit klingender Stimme, »ich weiß vom Thingfeuer weg für mich und euch nur eine Straß. Die geht zum Lokstein und zu dem, der jetzt der Herr ist über den Gaden.« Eine stumme Bewegung rann über die hundert Köpfe hin. Nur der Schönauer stand regungslos und hing mit bangen Augen am Fischer. »Der Öberste der Klosterleut heißt Eberwein. Nach Brief und Recht, durch eidfeste Schenkung hat er im Gaden Herrenmacht über Land und Leut. Dawider kann nimmer Streit sich heben, und auf der Seit, auf der das Recht ist, müssen wir stehen, Schulter bei Schulter und Faust bei Faust.«
Unruhiges Gemurmel erhob sich im Ring, und der Ilsanker schrie: »Hut ab vor dem Recht! Aber wissen möcht ich halt doch, was ich hab davon?«
»Du wirst haben, Ilsanker, was das Recht einem jeden gibt: die Ruh in der Brust. Aber höret mich an! Ich bin beim Lokstein gewesen und hab geredet mit dem Herrn, hab geraitet mit ihm um Leutwohl und Landrecht. Da hab ich gespürt, daß er eine Hand hat, lind und gut, und daß in seinem Herzen die Lieb ist, wie das Feuer auf dem Winterherd. Wie er es halten will als Herr im Gaden, das laßt er euch sagen durch mich: Recht soll hausen bei jedem Hag, und Schirm soll haben jeder Blutstropfen an Mensch und Vieh, jeder Span an Tür und Tor, jeder Halm auf Acker und Wiesgrund. Wer unrecht tut, soll stehen nach altem Brauch unter dem Spruch der Gauleut. Nimmer in heimlicher Nacht soll das Thing gerufen sein, sondern frei am Tag, in heller Sonn. Ein jeder soll die Felder hagen dürfen wider Hirsch und Sauen, und die Jagd soll frei sein auf alles Raubzeug, das von Schaden ist für Mensch und Tier. Keiner soll rühren an den Bergwald, der gegen die Lahnen steht und gegen die Wildbäch. Im Tal soll jedes Haus seinen Heimwald haben, in dem der Bauer schlagen mag, was er braucht für Herd und Bau. Was überbleibt im Tal an Waldgrund, soll gerodet werden, und die Gauleut sollen das neue Feld aufteilen unter die Häuser nach gleichem Maß. Über dem Bergwald droben soll keiner das Feuer in die Latschen werfen und die steilen Häng kahl brennen zum Weidgrund für Geißen und Schaf. Denn wo in der Höh der Bergwald schwindet um einen Baum, wachst im Tal der Winter um eine Not. Aber es sollen auch dem Wild zulieb keine Alben mehr in der Öd liegen. Wo ein Kaser gestanden in alter Zeit, soll wieder einer stehen, und jeder Bauer soll an freier Albweid haben, was er braucht für doppelt Vieh. Wie die Felder sich mehren sollen, soll der Viehstand wachsen, daß bessere Zeiten einkehren für jeden Bauer im Gaden. Und weil der gute Herr gemeint hat, es läg an Zins und Steuer zu viel auf jedem Kopf, so laßt er euch sagen: was Zins und Steuer heißt, soll gemindert sein um das halbe Maß.«
Sigenot konnte nicht weiter sprechen. Ein jubelndes Geschrei erhob sich, alle drängten auf ihn zu, und die ihm zunächst standen, faßten sein Gewand, seine Hände, als wäre er nicht der Bote eines anderen, sondern selbst der gute Herr, der die neue, bessere Zeit zu verkünden gekommen.
»Richtmann,« überschrie der Ilsanker allen Jubel der andern, »laß die Stäb austeilen! Wir wollen losen. Weiß für die Klosterleut!«
Der Schönauer hob das Messer in der vom Opfer noch blutigen Hand. Die Schöffen warfen sich in den schreienden Haufen und drängten die Männer auseinander. »Haltet Ruh, Leut, haltet Ruh! Das Messer weiset auf Still!« Allmählich erweiterte sich der Ring, und Schweigen trat ein. Da sagte der Richtmann: »Thingbot, trag die Los um, ein schwarzes und ein weißes für jeden Mann! Schöffen, tut Met in die Kannen und reichet vom Bockfleisch jedem Mann sein Teil! Ihr aber, Leut, haltet Ruh eine Weil und höret, was ich zu reden hab mit dem Fischer!« Langsam trat er vor Sigenot hin. »Du hast mit denen beim Lokstein geraitet um unser Wohl und Landrecht, wie ein rechtschaffener Mann und guter Nachbar, und deine Botschaft ist lichtscheinig wie der Sonnglanz, der die Bergwänd anfallt vor gutem Tag. Ich will nit sagen: ›Viel versprechen und lützel halten, ist neuer Herren Art und Walten‹. Ich will alles glauben. Aber eine Frag noch hätt ich.«
»So frag!« erwiderte Sigenot, während im Ring die Männer auflauschten.
»Viel Gutes hast du verkündet. Verschwiegen hast du, was ich gehört hätt am liebsten. Werden die Klosterleut dem Gaden einen neuen Spisar setzen? Oder soll Herr Waze bleiben, was er ist?«
»Das weiß ich nit.«
»Warum hast du nit gefragt?«
Sigenots Brauen furchten sich. »Das hat seinen Grund, Richtmann, und der gehört nit vor das Thing.«
»So?« Der Schönauer nickte vor sich hin. »Meintwegen verschweig den Grund! Ich weiß: du hast beim Lokstein keine Frag tun wollen wider die Wazemannsleut. Und da weiß ich genug.« Die Augen des Richtmanns glitten im Kreis über die erschrockenen Gesichter hin. Dann fragte er wieder: »Fischer? Wenn die Klosterleut halten wollen, was sie versprochen haben, und Herr Waze stemmt sich dagegen und wütet gegen sie und uns mit seinen Buben und Knechten, mit Feuer und Eisen, wer hilft ihnen wider ihn? Wer, Fischer?«
»Einer, Richtmann,« sagte Sigenot und hob das Schwertkreuz gegen den Himmel, »Einer, der stärker ist als tausend Männer in Wehr und Eisen.«
Ein dumpfes Gemurmel ging durch die Reihen der Leute, und mancher von ihnen kraute sich hinter dem Ohr und blickte scheu zum mondlichten Himmel auf. Nur die Ramsauer winkten dem Fischer Beifall zu; und der alte Runot, als er das Lächeln sah, das dem Schönauer um die bleichen Lippen zuckte, hob das Grießbeil und rief: »Gib acht, Richtmann, daß dir das Lachen nit vergeht!«
Eigel war in den Ring gesprungen; er hatte das blutige Bocksfell um die Lenden gebunden und zum Sack geschürzt, in dem die noch unverteilten Lose lagen. »Wer ihnen helfen soll wider die Wazemannsleut? Wer sonst als wir? Wir alle miteinand, Schulter an Schulter und Faust bei Faust.«
»Recht hat der Kohlmann!« schrie Kaganhart und schwang den gespitzten Stecken, an dem er ein dampfendes Stück Bockfleisch umgetragen. »Wir sind hundert gegen die zwanzig in Wazemanns Haus. Auf, Mannerleut! Gleich vom Thingfeuer ziehen wir hinaus zum Falkenstein und werfen die Brand über Haus und Stall und brennen das Blutnest nieder mit dem alten Gauch und seiner Brut, mit seinen Schandbuben und seiner rothaarigen Wetterhex!« Lautes Geschrei erhob sich, während Kaganhart zum Kohlmann sagte: »Das wird wohl eine Red gewesen sein, eine richtige Mannsred!«
Da packte eine Faust ihn an der Brust. »Mordbrenner!« Der Bauer starrte den Fischer an, der vor ihm stand mit blitzenden Augen.
»Thingfrieden!« rief der Schönauer und streckte den Arm mit dem Messer zwischen die beiden. »Was einer auch reden mag, jedes Wort ist frei.« Und als der Fischer schweigend zurücktrat, sich mühsam zur Ruhe zwingend, rief der Richtmann mit hallender Stimme: »Ich mein', der Kaganhart hat heißer gekocht, als er essen möcht. Aber sag, Fischer! Wenn wir täten, was er geraten hat, und wir kämen morgen zum Lokstein mit der Botschaft: Herr Waze liegt erschlagen, sein Haus ist Feuer und Rauch geworden. Was meinst du, daß er sagen möcht, dein Herr?«
»Was er sagen muß nach heiligem Recht: wer Feuer wirft, soll die Händ verlieren, wer Blut vergießt, soll stehen unter Strick und Messer.«
Der Schönauer nickte, während der Schmied von Ilsank mit seiner Bärenstimme den wilden Lärm überschrie: »So höret doch, Männer! Wenn wir den Wazemannsleuten ein Härlein sengen, müssen wir noch Gericht beim Lokstein fürchten!«
Unter dem Geschrei, das diesen Worten folgte, sprang der Richtmann zum Blutstein und hob das Messer. »Höret, was ich noch sagen muß! Und du, Nachbar Kaganhart, sei froh, daß deine Stimm nit hinaushallt über den eidfesten Ring! Sonst möcht Herr Waze von dir noch träumen in der heutigen Nacht!« Das seltsame Wort, das der Schönauer gesprochen, machte die Schreier verstummen und lauschen. »Höret, Mannerleut! Der Fischer hat euch Botschaft getragen vom Lokstein. So muß ich euch Botschaft bringen von der andern Seit. Der Fischer hat es gut gemeint und ist zum Lokstein gegangen. Herr Waze aber ist zu mir gekommen und hat mir das Messer an den Hals gelegt und hat das Eisen gehoben über meines Buben Kopf. Mannerleut! Ich scheu mich nit, vor euch allen sag ich's grad heraus: in mir zittert die Angst um meinen Buben, der mein alles ist, meine einzige Freud!« Lautlose Stille herrschte im Ring, während der Schönauer von Wazes Besuch in seinem Hof erzählte. Und er brauchte den lauschenden Männern Wazemanns »Träume« nicht zu deuten, jeder verstand, wie sie gemeint waren. Wie der trübe Schlamm, den die Wildbäche nach einem Unwetter hinauswälzen in den klaren See, von einer Welle in die andere quillt, so floß die dunkle Angst, die aus den Worten des Richtmanns redete, in die Herzen der Lauschenden über. Jeder dachte der eigenen Kinder und sah sie fallen unter dem ersten Schlag, den Herr Waze zu führen drohte. Die Hoffnung der besseren Zukunft, die Sigenots Botschaft geweckt hatte, ging unter in der Furcht der Gegenwart, in der Angst vor der Not des kommenden Tages.
»So hat Herr Waze geredet,« rief der Schönauer, »und was er mir und meinem Buben vermeint hat, das gilt euch allen. Ein jeder von euch hat Kinder, an denen er hängt mit Leib und Seel. Jedem ist sein Kind, was dem Baum sein Mark, das er haget mit Holz und Rinden, mit Äst und Blättern. Mannerleut? Wer von euch will morgen heimkehren in seinen Hag und will seinen Buben im Blut und im letzten Schnaufer finden? Und wenn sein Kindl, sein liebes, ihn anschaut und seufzet: ›Vater, was hast du gerufen über mich!‹ – wer will dann sagen von euch: ›Meintwegen sei hin, aber ich muß von Neujahr an nur halbe Steuer legen!‹«
Da kam es aus allen Kehlen wie ein einziger Schrei; sie streckten die Hände, als möchten sie den Mund verschließen, der solche Worte sprach; und der Marderecker sprang auf den Schönauer zu und rüttelte seinen Arm. »Drei Kinder hab ich, Richtmann! Drei! Eins lieber wie 's ander! Sag doch, sag, was tu ich, daß ich meine Kinder hüt?«
Der alte Eigel stand mit dem blutigen Bocksfell um die Lenden und schüttelte den Kopf, während Sigenot über die erregten, vom zuckenden Feuerschein erhellten Gesichter hinblickte, als könnte er nicht fassen, was hier geschah. Da hob sich die Stimme des Schönauers über den Lärm. »Mannerleut! Weil ihr mich fraget, was ich rat, so höret! Wir müssen den Weg gehen, den die Not uns weiset. Wir müssen stehen zu Wazemann, so lang er Spisar ist im Land. Ihm tragen wir Zins und Steuer hin, ihm bieten wir die Fron, und außer ihm geht uns kein anderer was an. Keiner von uns soll sich einlassen mit den Klosterleuten, keiner von uns soll Albengab tragen zu ihrem Haus –«
»Richtmann,« rief Sigenot erschrocken und faßte die Hand des Schönauers, »du hast üblen Rat!«
Im Ring schrien die Männer: »Red weiter, Richtmann! Weiter!«
»Mein Rat ist, wie die harte Stund ihn fordert. Noch allweil ist Wazemann unser Herr. Blüht einmal eine bessere Zeit, und kommen die Klosterleut obenauf – du selber, Fischer, hast gesagt, wie gut ihr Herz ist und wie stark ihre Lieb – da müssen sie auch einsehen, daß wir heut nit anders können. Und da dürfen sie uns in einer kommenden Zeit deswegen nit harb sein, weil heut der einzige Weg, auf dem wir unsere Kinder hüten, um den Lokstein herumgeht und dem Wazemann zu!«
»Richtmann!« mahnte Sigenot. »Dein Rat hat krummen Weg, du gehst dem Unrecht zu. Richtmann, tu die Augen auf, du hast die Wahl zwischen Tag und Nacht. Denk an deinen Buben und reiß ihn nit hinaus auf den Nachtweg! Laß ihn stehen bei Licht und Recht!«
Sigenots Worte erstickten unter dem Geschrei, mit dem der Rat des Richtmanns aufgenommen wurde. Und alle andern überschrie der Schmied von Ilsank. »Wir wissen genug. Das Raiten hat ein End. Richtmann, laß die Los werfen! Schwarz wider die Klosterleut!«
Der Thingbot brauchte nicht im Ring zu gehen, um die Stäbe zu sammeln; haufenweise drängten sich die Männer um ihn her und warfen die dunklen Lose in das Bocksfell. Da schrie der Marderecker mit kreischender Stimme: »Richtmann, die Ramsauer losen nit!« Tumult erhob sich, und laute Rufe schwirrten durcheinander. »Das ist wider Brauch und Recht. Sie müssen losen!«
»Wer will uns zwingen?« fragte der alte Runot und streckte das Grießbeil vor sich und die Seinen hin. »Wir losen nit. Wir haben nur eine Stimm, und die ist daheim geblieben.«
»Das ist eine Ausred,« klang es aus dem Haufen, »sie wollen sich lösen aus dem Schwurbann und wollen ihrem Kuttenbruder zutragen, was wir geraitet haben in der Thingnacht.«
Die Ramsauer hoben die Fäuste gegen den Schmäher, während ihr greiser Gaumann sie ermahnte: »Gebet Ruh, Leut! Was die Lügenzung geredet hat, das fallt auf unser Ehr und Treu, wie ein Stäubl ins Wasser. Nach einer solchen Red haben wir Ramsauer auf der Thingstätt nichts mehr zu schaffen. Kommet, Leut, wir gehen heim!« Ohne Gruß ging der Alte dem Walde zu, und die Ramsauer folgten ihm.
Mit zornigem Geschrei drängte der Haufe ihnen nach. Aber da stand der Fischer vor den Schreiern und hob die Fäuste. »Die Ramsauer haben freien Weg. Wollt ihr raufen im Thing wie die Buben in der Hofreut? Nur her auf mich! Ich mein', ich steh noch wider euch alle!« Vor seinen eisernen Armen und seinen blitzenden Augen wandelte sich die Streitlust in den erhitzten Köpfen zu raschem Frieden.
Eigel war auf den Schönauer zugetreten und hatte das Bocksfell mit den Stäben auf die Erde geworfen; zwei weiße Lose hielt er in der Hand. »Da brauchst du nimmer zählen, Richtmann!« sagte er mit zornigem Lachen. »Alle sind schwarz, bis auf die zwei in meiner Hand! Das erste hat der Fischer geworfen und das ander ich!« Da gewahrte er den Kaganhart. »Du? Wo ist denn das deinige?«
»Such nur, es muß schon dabei sein!« brummte der Bauer und drängte sich zwischen die andern.
Der Schönauer blickte auf die dunklen Lose nieder und atmete auf, als wäre ein drückender Stein von seiner Brust gefallen. Er faßte die Hand des Mardereckers, der an seiner Seite stand und flüsterte: »Nachbar, wenn du zur Alben kommst, so sag meinem Liebli: ich wart auf ihn, er kann wieder heim.« Dann hob er das Messer und sprach: »Mannerleut! Das Thing hat den Spruch getan: für Wazemann und wider die Klosterleut. Wir stehen unter Schwur, das ist ein Weiser für alle!«
»Nit für alle! Einen nimm aus!« Mit bleichem Gesicht trat Sigenot vor den Blutstein.
»Fischer?« stammelte der Schönauer, während die anderen lärmend herbeidrängten.
»Was ich sag, das muß in keinem die Angst erwecken. Den Schweigschwur halt ich und geh von der Thingstätt unter der Hahnenfeder. Aber ich kann nit stehen, wo ich Unrecht seh und krumme Furcht. Und weil ich gehen müßt mit euch, solang ich zur Gemein gehör,« er riß ein brennendes Scheit aus dem Feuerstoß, löschte mit einem Schlag auf den Blutstein die rauchende Flamme und schleuderte das glimmende Holz hinaus über den Ring der Männer, »so reiß ich mich los von euch und eurer Gemein und will von Stund an nimmer teilen mit euch weder Rat noch Tat, weder Gut noch Blut, weder Leid noch Freud, und will als Einschichtiger den Weg gehen, den ich für den rechten halt!«
Ehe der Schönauer ein Wort erwidern konnte, war Sigenot den Bäumen zugeschritten. Totenstille blieb hinter ihm, nur das versinkende Thingfeuer rauschte und knisterte. Doch als der Fischer den Wald betrat, erhob sich beim Blutstein ein wüster Lärm. Ohne das Gesicht zu wenden, folgte Sigenot dem schmalen Waldpfad, auf den die sinkende Mondhelle nur mit spärlichen Lichtern herunterblickte. Er war nicht weit gekommen, da hörte er klappernde Schritte hinter sich. »Fischer! Fischer!« Eigel war es, der Kohlmann.
»Was willst du? Keiner wird wenden, was ich getan hab. Auch du nit!«
»Wenden?« lachte der Alte. »Ich hab dir's nachgetan und bin Thingbot gewesen zum letztenmal. Die Narrensupp, die man da droben gekocht hat, schmeckt mir nit. Jetzt merk ich's: der einzig Gescheite von uns allen ist der gewesen, der nit gekommen ist, der alte Gobl. Aber Verstand muß Unehr heißen. Hätt ich mir nur den Apfel mitgenommen!« Wieder lachte der Kohlmann. »Wie alles geworden ist, da steh ich lieber zu dir als zu den andern. Nimm mich mit in die Einschicht und laß mich hausen in deinem Hag!«
Sigenot zögerte mit der Antwort. »Ich könnt dich brauchen, Kohlmann, aber ich muß dir sagen: meine Hofreut hat einen heißen Boden.«
»Warum?«
»Mein Weg geht unter Eisen, ich steh in Fehd wider Wazemanns Haus.«
»Wider Wazemann? Ich könnt ein besseres Wort nit hören! Da hast du meine Hand!«
»So komm!«
Sie stiegen talwärts durch die Nacht. Als sie auf vorspringender Bergrippe eine kleine Blöße erreichten, blieben sie lauschend stehen.
Ein dumpfes Rollen, wie Donner in der Tiefe, ging unter ihren Füßen hin, und noch eh es verstummte, lief ein Stoßen und Zittern über den festen Grund. Die Bäume ächzten im Wald, für einen Augenblick erlosch im Tal das Rauschen der Ache, und überall auf dem Berghang kollerte das lose Gestein. »Fischer!« schrie der Kohlmann und faßte den Arm des Gefährten. »Es rührt sich im Berg! Ob die Narren beim Feuer wollen oder nit, die gute Zeit steht ein!« Er streckte die beiden Fäuste gegen den Untersberg, der fern in der Nacht sich schwarz emporhob aus dem Tal, die Zinnen umflimmert vom letzten Duft des erlöschenden Mondlichts. »Rühr dich, Herr Wute, rühr dich! Die hundert Jahr sind um, und der Birnbaum harret.«
Es rollte in der Erde, und wieder bebte der Grund. »Mein guter Herre, du mein Gott!« stammelte Sigenot. »Meine Mutter! Mein Haus!« In jagenden Sprüngen stürmte er über den steilen Berghang hinunter, daß ihm der Kohlmann nicht mehr zu folgen vermochte.
Droben auf der Thingstätte waren die Männer, die sich mit den Metkannen um das Feuer gelagert hatten, erschrocken aufgesprungen, als im Beben der Erde der glühende Holzstoß zusammenfiel. Bleich und lallend standen sie und starrten einander an, und als zum zweitenmal der Grund erzitterte, faßten sie schreiend, was jeder zu greifen fand in seiner Nähe, der eine ein Grießbeil, der andere eine rollende Metkanne, der dritte ein halbverkohltes Scheit, der vierte die Kappe, die seinem Nachbar entfallen, der fünfte einen hüpfenden Stein; keiner sah, wonach seine Hände griffen, jeder wollte in sinnloser Angst nur bergen und retten, jeder faßte, was ihm vor die Füße kollerte, und so stürzten sie vom Feuer weg und rannten schreiend davon nach allen Seiten.
Öd und schweigend lag die Thingstätte. Da raschelte es im Stamm eines vor Alter morschen Baumes, als wäre rührsames Leben in seinem hohlen Holz; dann knackten die Zweige, und eine Gestalt glitt an der Rinde nieder; sie huschte über die Thingstätte, rannte talwärts und verschwand im Wald. Nach einer Weile klangen auf dem tieferen Hang die Hufschläge eines Pferdes.
Überall im Tal ertönte Geschrei der Menschen. Wer geschlummert hatte unter Dach, war aufgesprungen und aus der Hütte gerannt. Die einen standen geschüttelt von Angst und starrten in die Nacht hinaus, die anderen liefen um die hölzernen Mauern, ob sie noch festhielten in ihren Fugen. Von den Almen tönte das Gebrüll der scheu gewordenen Kühe, und hoch in den Felsen knatterten die Steinlawinen, welche niedergingen über die steilen Wände. Im Gaden zündeten sie auf dem bedrohten Herd die Feuer an und warfen die dürren Heilbuschen in die Flammen – in der Ramsau rannten sie zum Kirchlein, dessen Glocke sich gerührt hatte, ohne daß eine Hand den Strang gezogen. Und mancher, der die Hände in christlichem Gebet gefaltet hielt, schielte nach den Alraunen im rußigen Herdwinkel; und manchem, der die Heilbuschen in die Flammen legen wollte, zögerte die Hand, und seine Augen suchten mit zweifelndem Blick die Höhe.
In der Schönau war der alte Gobl unter dem Apfelbaum erwacht, im zerlegenen Gras, zwischen Schutt und faulenden Äpfeln, umgeben vom Aasgeruch der verwesenden Ziege. Halb hob er sich auf und lachte müd: »Schau, jetzt rührt sich richtig der Berg! Gute Zeit? Komm oder nit, mir ist alles eins.« Er schloß die Augen wieder. Als der zweite Erdstoß den Grund durchzitterte, klatschten ein paar Äpfel durch die Zweige herunter ins Gras. Am brüchigen Hause ächzten die Balken, dann rührte sich das Dach, die morschen Mauern wichen auseinander, und langsam fiel die Hütte in sich zusammen. Das machte keinen großen Lärm; ein kurzes Gepolter, und alles war wieder still. Der Alte hob den Kopf. »Hätt ich drin geschlafen, nit einmal erschlagen hätt's mich!« Seufzend drehte er sich auf die Seite.
Von den Nachbarhöfen klangen die kreischenden Stimmen der Weiber; vor den Hagtoren standen sie in Furcht und schrien die Namen ihrer Männer, die noch immer nicht heimkehren wollten, in die Nacht hinaus. Von diesen Stimmen am lautesten klang die Stimme der Hilmtrud. Und immer spähten ihre Augen in Angst über den schwarzen Wald hinauf gegen den Falkenstein.
Dort oben zitterte ein trüber Lichtschein: er kam aus Reckas Kammer, in der die Leuchte neben dem Spiegel brannte; schlummerlos lag die Wazemannstochter auf ihrem Lager, die nackten Arme schimmerten, und in wirren Strähnen hing das gelöste Rothaar über das Bärenfell auf die Diele nieder. Als der Stoß durch das feste Haus gegangen, hatte sie die Arme zur Decke gehoben und gestöhnt: »Fall doch! Fall! Dann hab ich Ruh!« Und schluchzend war sie hingesunken über das Lager.
Ihren Vater und ihre Brüder hatte das Rollen in der Tiefe und der Erdstoß nicht geweckt; sie lagen im dumpfen Schlaf des Metrausches. Aber die Knechte und Mägde waren schreiend aus dem Steingeschoß des Hauses und aus den Ställen geflüchtet. Und die alte Ulla hatte, als sie vom Heubett gesprungen, mit gellender Stimme geschrien: »Mein Star! Mein Star!« In der Finsternis hatte sie den kleinen Käfig, zwischen dessen Holzstäben der erschreckte Vogel umherflatterte, an sich gerissen, während unter ihren Füßen im Erdkeller das laute Gewimmer des gebüßten Knaben klang.
Lärm erfüllte den Burghof, und unter den Mauern schwankte der in seinen Tiefen erregte See mit rauschenden Wellen, die klatschend durch das Röhricht an die Lände schlugen und über den Sand hinausspülten bis an den Fuß des Kreuzes. Matt schimmerten die beiden frischbehauenen Balken in der Nacht, während am Fischerhause roter Feuerschein aus der offenen Tür und aus allen Fenstern leuchtete.
Mutter Mahtilt und Edelrot hatten die Nacht beim flackernden Herdfeuer zugebracht, während Wicho und die Sennen auf der Hausbank die Wache hielten. Als die Erde dröhnte und die Felsen zitterten, waren die Männer erschrocken in die Halle gesprungen, um Mutter Mahtilt mit dem Lehnstuhl unter freien Himmel zu tragen; sie hatte die Knechte von sich gewiesen, hatte Salz auf die glühenden Kohlen geworfen und die Heilbuschen in das Feuer gelegt. Mit Wicho war Rötli vor das Hagtor geeilt, und ihre bebende Stimme klang in der Nacht: »Sigenot! Sigenot!«
Als das Echo des Rufes von der Falkenwand zurückfiel, rann zum andernmal das Beben durch die Erde. Hoch über dem See löste sich ein mächtiger Felsblock; mit Dröhnen und Gepolter ging sein Sturz über die steilen Wände nieder, und der schwere Fall ins Wasser klang in der Nacht aus dem Weitsee heraus bis an die Lände. »Der Bid! Der Bid!« stammelte Rötli und umschlang mit beiden Armen den Stamm des Kreuzes. Auch Wicho griff mit flinker Hand nach dem heiligen Holz.
Nun war wieder Stille; nur der See rauschte im Röhricht. »Ich hab mir gleich gedacht, daß was geschehen muß!« flüsterte der Knecht. »Der Bid hat das Heilholz gesehen, und das hat ihm nit getaugt. Vor Wut ist er heruntergesprungen in den See aus aller Höh.«
»Er wird doch nit auf der Alben gewesen sein!« stammelte Rötli in Angst. »Da ist der Ruedlieb droben!«
Noch schlummerte die Liebe in diesem jungen Herzen; doch ihre Sorge wurde wach in der Stunde der Gefahr und flog auf den Schwingen zärtlicher Angst empor durch die Nacht, den fernen Knaben suchend. In der gleichen Stunde geschah es, daß Ruedlieb auf der Regenalm aus der Hütte stürzte. Das Geschrei der Sennen und Almerinnen umgab ihn, das Gebrüll der rasenden Kühe, das Dröhnen der fallenden Steinlawinen – und er starrte in die finstere Tiefe und lallte: »Ihr guten Mächt! Es wird doch dem Rötli nichts geschehen!«
In stundenweiter Ferne von der Regenalm, unter den Waldgehängen des Göhl, saß ein junges Mädchen, den blutfleckigen Bund um die Stirne, zitternd auf dem Heubett und lauschte mit verhaltenem Atem den halbverwehten Klängen, die vom Lokiwald emporschwebten durch die Nacht.
Wie in der Ramsau, so hatte auch in der Martinsklause die Glocke geläutet, ohne daß eine Hand ihren Strang gezogen. Eberwein und die Brüder waren vom Lager gesprungen, und während Schweiker das Feuer anzündete, lag Wampo auf den Knien und betete mit lallender Stimme. Eberwein wollte in Waldrams Zelle eilen; auf der Schwelle trat ihm Waldram entgegen, bleich, das kleine Holzkreuz in der erhobenen Hand: »Die Zeichen mehren sich. Gottes Stimme mahnet in der Nacht wie Donner. Will dein Auge noch immer nicht sehen, dein Ohr noch immer nicht hören?«
»Ich höre, wie die Mächte der Finsternis sich sammeln zum Streite gegen zitternde Menschen, und werde sehen, wie Gottes Macht die Geister der Vernichtung bändigt, wie Gottes Liebe sich erweist an seinen Kindern!« Eberwein legte die Stola um die Schultern und trat hinaus in die Nacht; Schweiker folgte ihm mit der Kienleuchte, und Bruder Wampo, dem die Zähne klapperten, trug die Kanne mit geweihtem Wasser. Sie umschritten die Klause. Eberwein besprengte die Erde und sprach mit lauter Stimme den Exorzismus wider die Dämonen der Tiefe. Da machte unter dumpfem Rollen der zweite Stoß den Grund erzittern, und die Glocke wimmerte. Auf dem Berghang, über dem Fischteich, löste sich eine Schuttlawine; die Finsternis deckte ihren Fall, doch ihr Rauschen und Gepolter hallte in der Nacht, und hüpfende Steine sprangen über die Rodung, kollerten um die Füße der Mönche und schlugen an die hölzerne Mauer der Klause. Bruder Schweiker hob die lodernde Fackel; seine Augen spähten in Sorge über die schwarzen Baumwipfel einer fernen Höhe zu, und leise stammelten seine Lippen einen Namen.
Eberwein hatte die Arme erhoben. Zu den Sternen aufblickend, deren Glanz in der schwindenden Mondhelle wuchs, sprach er die Worte des Psalmisten: »Gott ist unsere Zuflucht, unsere Stärke, als Hilfe mächtig erfunden in allen Nöten. Darum wandelt keine Furcht uns an, ob auch die Erde wechselt und die Berge wanken. Denn du, o Herr, weilest in unserer Mitte und wankest nicht, und deine Hilfe wird sein wie Anbruch des Morgens!« Da fühlte er seinen Arm erfaßt mit heftigem Griff. Waldram stand vor ihm. »Was willst du?«
»Folge mir und sieh mit eigenen Augen, was geschehen ist!« Er zog ihn hinter sich her in das Kirchlein. Die zinnerne Schale, in der das ewige Licht brannte, schaukelte an ihren dünnen Ketten. »Blick auf zu ihm!« rief Waldram und deutete nach dem Kreuzbild. Aus den Händen des Bildes hatten sich die Nägel gelöst, und vorgeneigt, nur mit den Füßen noch haftend, hing es am Kreuz, als wollt es mit jedem Augenblick zur Erde stürzen. »Verstehst du die Sprache dieses Zeichens?«
»Ja, Waldram!« erwiderte Eberwein ruhig. »Sie sagt mir, daß ich schwaches Holz für die Nägel wählte.« Er löste seinen Arm und ging in die Klause, um den Hammer zu holen. Nach einer Weile hallten die Schläge. Weithin klangen sie in der Nacht.
Der Reiter, der auf keuchendem Pferd über die nahen Felder jagte, hob beim Hall dieser Hammerschläge lauschend den Kopf. »Die haben es nötig! In solch einer Nacht noch schaffen sie!« Er schlug seinem Roß die Gerte über den Schenkel. Durch die Schönau ging sein Weg, zum Falkenstein. Die Weiber, die den Hufschlag hörten, stammelten zitternd: »Die Untersberger reiten.«
Fackelschein leuchtete in Wazemanns Burghof; der Reiter fand das Tor geöffnet und die Brücke gesenkt. In Gruppen standen die Knechte und Mägde umher, während droben in der Halle Herr Waze saß, nur vom Hausrock umhüllt, mit nackten Beinen; seine Leute hatten ihn aus Bett und Stube herausgezerrt in die Halle; hier war er wieder eingeschlafen im Rausch und schnarchte mit offenem Mund. Der Knecht, der aus dem Sattel gesprungen war, stolperte über die Treppe hinauf und weckte den Schläfer. »Auf, Herr, auf, auf!«
Herr Waze hob den Kopf, glotzte in das Gesicht des Knechtes und erkannte ihn; er wollte sich aufrichten, doch seine Füße trugen ihn nicht; fluchend fiel er wieder zurück auf die Holzbank.
»Auf, Herr, auf! Wer kann denn schlafen in einer solchen Nacht? Es hat die Erd gerumpelt!«
»Laß rumpeln,« lallte der Berauschte, »und erzähl! Wie war's beim Thing?«
»Das Thing hat für Euch gesprochen, wider die Klosterleut!«
Mit grölendem Lachen schlug Herr Waze die Fäuste über den Tisch. »Der Käfig, den ich gebaut hab, hat gute Stangen! Jetzt sollen sie springen, die Kutten! Bub, erzähl! Wer hat wider mich geredet?«
»Der Fischer.«
»Den Tod an seinen Hals!«
»Und Eigel, der Kohlmann.«
»Wart, Rußiger! Ich weiß dir ein heißes Bett in deinem Meiler! Wer noch?«
»Der Kaganhart! Der hat geraten, den Pechbrand in Euer Haus zu werfen.«
Herr Waze sprang taumelnd auf. »Zacho! Heripot!« Zwei Knechte kamen gesprungen. »Hinunter zu der Hilmtrud Haus! Den roten Hahn aufs Dach! Ich will das Aug nit schließen, eh ich die Keuch nit brennen seh. Weiter! Soll ich euch Füß machen?« Herr Waze hob die Fäuste zum Schlag; er taumelte und fiel über den Tisch hin.
Die Knechte eilten davon, und der zuckende Schein der Fackeln, die sie trugen, glitt durch den Bergwald. Als sie zur Achenbrücke kamen, hörten sie den Schrei einer Mädchenstimme. Es war der Freudenschrei, den Edelrot ausgestoßen bei ihres Bruders Heimkehr. Am Waldsaum vor der Schönau mußten die Knechte hinter Gebüsch sich bergen. In allen Höfen war es lebendig; überall klangen in der Nacht die schrillen Stimmen der Weiber, die heiseren Rufe der heimkehrenden Männer. Einer rannte über die Halden, keuchend und stolpernd; kaum trugen ihn seine Füße noch; sein Weib, das im Dunkel harrte, hatte ihn schon gewahrt und schrie: »Bauer, Bauer!«
»Hilmtrud!«
Sie lief ihm entgegen, umfaßte mit ihren derben Armen den Wankenden und schleppte ihn zum Hagtor. »Dank allen Gutholden! Weil du nur wieder daheim bist!«
»Steht unser Haus noch?« keuchte er mit erlöschenden. Atem. »Steht's noch?«
»Wohl! Schau hin! Noch allweil steht's!«
Er taumelte in der Finsternis auf die hölzerne Mauer zu und griff nach ihr mit zitternden Händen, lachend und schluchzend. Da faßte das Weib seinen Arm, bebende Angst in der heiseren Stimme. »Gelt, du hast im Thing nit geredet wider Wazemann?«
Kaganhart stotterte: »Was dir einfallt! Kein Wörtl hab ich geredet, kein einzigs Wörtl!«
Hilmtrud atmete auf. »So ist alles gut!«
»Was ist gut?«
Das Weib schüttelte den Kopf und stieß mit dem Ellbogen die Haustür auf.
»So red doch!«
»Laß mich in Ruh! Wenn du schon merkst, daß ich nit reden will, was fragst du noch?«
»Muß da gleich wieder gescholten sein, weil ich einmal das Maul auftu zu einer Frag?«
»Wirst du Ruh geben?« klang die drohende Stimme des Weibes aus der Türe.
»Grad nit, jetzt grad nit! Das könnt mir taugen! Ich lauf in Ängsten heim, daß ich schier keinen Schnaufer nimmer hab –«
»Hättst dir Zeit gelassen! Meintwegen hättst noch ausbleiben können, bis der Kuhmist Butter wird!«
»So? So?« schrie der Bauer. »Ist denn keiner da? Hört denn keiner, was für ein Weib das ist? Die Erd bidmet, daß die Berg einfallen, und noch allweil gibt das Weib keine Ruh!«
»Wirst du bald still sein?« Hilmtrud griff aus der Tür und faßte den Bauer am Kragen.
»Wirst auslassen oder nit? Auslassen!« zeterte Kaganhart; da stand er, von der Faust seines Weibes geschwungen, schon in der Stube und stolperte gegen den Herd, daß die Geschirre durcheinanderklapperten. Die Tür wurde zugeschlagen, und mit kreischendem Schelten mischten sich im Haus die beiden Stimmen.
Beim Hagtor klang ein Lachen: »Wirf! Tust ihnen einen Gefallen damit. Die zwei haben gern heiß.«
In hohem Bogen wirbelte ein Feuerbrand über den Hag und klatschte auf das Moosdach. Flink, wie kleine leuchtende Wellen, liefen die gelben Flammenzungen über das dürre Moos und Stroh. Lachend rannten die beiden Knechte dem Wald entgegen; als sie die Ache erreichten und rückwärts blickten, sahen sie schon die funkensprühende Lohe in die Lüfte schlagen. Ein rötlicher Schein fiel über die Waldberge und an die Falkenwand.
Sigenot, der mit Wicho in flüsterndem Gespräch auf dem finsteren Lugaus saß, gewahrte den Schein, und als er aufblickte, sah er die Röte am Himmel, sah in der Ferne den Funkenflug. »Feuerjo! Das muß in der Schönau sein! Die armen Leut!« Er sprang vom Lugaus über den Hag hinunter auf den Sand.
»Laß brennen, was brennt!« schrie Wicho. »Wahr dein eigen Haus!«
»Leut in Not, und ich sollt nit helfen?« Sigenot rannte. Als er die Halden der Schönau erreichte, meinte er zu träumen; wohl sah er die Flammen lodern, aber Stille war rings umher in der grell erleuchteten Nacht; keine Stimme klang, kein Schrei, kein Feuerruf. Nur die Hunde kläfften in den zerstreuten Höfen. Von den Nachbarn des brennenden Hauses war keiner zur Hilfe herbeigeeilt; die Furcht dieser Nacht, das zitternde Bangen vor dem Ungewissen hatte sie festgehalten im eigenen Hag, unter dem eigenen Dach.
Sigenot erreichte die Brandstätte. Er sah: hier war nicht mehr zu helfen; bis auf den Grund schon brannten die Mauern des Hauses und der Scheune, und von den rauschenden Flammen und dem glostenden Gebälk ging eine schwelende Hitze aus, die das Nähertreten wehrte.
In der Hofreut, vom Feuer rot beleuchtet, stand Hilmtrud regungslos wie ein steinernes Bild; der Bauer hockte neben ihr auf der Erde, klagend und schluchzend, mit den Armen eine rußige Pfanne umklammernd; sie war von seinem Hab und Gut das einzige Stück, das er gerettet hatte in der wirren Angst. Wie der Mann, so hatte auch das Weib gejammert und in Verzweiflung die Hände gerungen. Doch als der Bauer in seinem Jammer geschrien: »Jetzt hab ich selber, was ich dem Wazemann beim Thing gewunschen! Sein Haus hab ich wegbrennen wollen, jetzt brennt das meinig!« – da hatte Hilmtrud den Bauer schweigend angestiert, und kein Laut mehr war über ihre Lippen gekommen.
Als Sigenot die Hand auf ihre Schulter legte, starrte sie ihn an wie einen Fremden und wandte die verstörten Augen wieder dem Feuer zu. Der Bauer ließ die Pfanne sinken und warf sich schluchzend vor Sigenots Füße hin. »Mein Häusl, Fischer, mein liebes Häusl, in dem ich gelacht hab als Büebli bei Mutter und Vater, in dem ich gehauset hab in Glück und Fried!« Alle Zwietracht und alle üblen Stunden waren vergessen in seinem Jammer; nur der guten Stunden noch dachte er, die er genossen unter dem in Glut und Asche sinkenden Dach.
Sigenot hob den Schluchzenden auf. »Ich weiß dir keinen Trost, Nachbar, als nur den einzigen: da ist dein Haus gestanden, und schau, da wird's auch wieder stehen, neu und fest! Bist doch ein Mann! Streck dich! Und wenn die Glut erkaltet ist, heb das Bauen an! Mich und meine Leut kannst du haben zur Hilf in jeder Stund. Und bis du dein eigen Dach wieder hast, sollst du mit deinem Weib ein gutes Hausen haben an meinem Herd.«
Krachend stürzten die brennenden Balken in einen rauchenden Gluthaufen zusammen. Ein Schrei löste sich aus Hilmtruds Kehle, und Kaganhart streckte die Arme wie ein hungerndes Kind, dem eine grausame Hand das Brot entrissen. Sigenot suchte die beiden mit sich fortzuziehen, weil er sah, daß jeder Blick in die Glut ihren Jammer erneuerte. Es dauerte lang, bis Hilmtrud auf die Worte des Fischers hörte. Endlich nickte sie und drückte wortlos Sigenots Hand; dann schlug sie den Arm um ihres Mannes Hals und sagte mit tonloser Stimme: »Tu nit weinen, Hartli! Ich hab dein Haus verbronnen, ich bau's wieder auf.«
Er achtete dieser Worte nicht, er schluchzte nur, raffte die Pfanne von der Erde und ließ sich willenlos zum Hagtor führen; hier blickte Hilmtrud ein letztes Mal zurück auf den glühenden Trümmerhaufen; ihr Gesicht verzerrte sich, mit geballter Faust erhob sie den nackten Arm und schrie in die erbleichende Nacht hinaus: »Wazemann! Wazemann!«
Der Bauer fand keine Frage.
So verließen sie die Stätte, die ihr Haus getragen. Bis weit hinunter ins Tal verfolgte sie der Brandgeruch. Als sie den See erreichten und Sigenot mit herzlichem Zuspruch seinen Hag vor ihnen öffnete, graute der Morgen, und über die Schneekuppe des König Eismann fiel die erste Röte des nahenden Tages.