Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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16

Durch das schöne Tal hin schritt der Tod, Hand in Hand mit seiner Schwester, der Zerstörung. Sie waren allgegenwärtig an allen Ecken. In der Ramsau schritten sie den brausenden Fluten voran, welche die Häuser brachen und die wehrlosen Menschen verschlangen; im Gaden folgte ihrem Fuß das stürzende Gestein und der alles erstickende Schutt des gebrochenen Berges. Hoch über dem Falkenstein, an einer scharfkantigen Bergrippe, teilte sich der sausende Wust der mit zersplitterten Bäumen durchmischten Trümmer, und während der eine Strom zum Schönsee niederfuhr, jagte der andere gegen die Schönau. Wazemanns Haus blieb unversehrt; nur verirrte Steinschläge prasselten über das Dach, und die gleitende Staubwolke hüllte Haus und Hof in schwärzliches Dunkel. Der Hag des Grünsteiner, mit Menschen und Vieh, und das Gehöft der Hanetzer Buben fielen als die ersten Opfer; Hütte um Hütte verschwand in der rollenden Wolke, und ihrem Wege voran ging ein Gewirbel von Dachteilen, Balken, Heu und Getreidegarben. Wie fliegende Boten des Verderbens sausten einzelne Felsen voraus, alles zermalmend, was sie trafen auf ihrem Pfad.

Auf freier Halde rannte eine Schar betäubter Menschen umher, unter ihnen der Hanetzer, der Schmied von Ilsank und der Köppelecker. Der stürzende Berg hatte sie aufgehalten auf dem Wege zu Wazemanns Haus. Wie ein Rudel scheuer Tiere flohen sie bald zur Rechten und bald zur Linken. Wenn sie rückwärts blickten, sahen sie die sausende Wolke und sahen die Häuser sich bewegen, sahen sie wanken und auffahren in die Luft. Von allen Hütten kamen die Flüchtenden, mit armseliger Habe beladen, ihre Kinder schleifend. Ein Mann trug auf dem Rücken sein Weib, das in den Wehen gelegen. Eine Greisin rannte mit einer Pfanne, darin der Brei noch dampfte; der Wind erfaßte die Frau und warf sie über einen Hag; sie ließ die Pfanne nicht fahren. Mit dem Geschrei der Menschen mischte sich das Gebrüll der Rinder; Hunde, Katzen und gackernde Hühner sprangen umher wie von Sinnen, und um die sinkenden Dächer flatterten die Tauben. Ein flüchtendes Mädel, das zwei fremde Kinder auf den Armen trug, sah einen Greis ermattet zu Boden sinken; zwei Knechte rannten vorüber, und jammernd schrie das Mädel: »Nehmt doch den alten Mann auf den Buckel!« Da traf sie ein springender Block, daß sie der Barmherzigkeit für alle Zeiten vergaß.

Über die ganze Breite des Tales ergoß sich die wirbelnde Wolke, und in dünneren Rauch zerfahrend entschleierte sie den Hagel, der hinter ihr einherging. Eis und Gestein, Stücke vom winzigen Kiesel bis zur Größe gewaltiger Trümmer schwirrten zu Tausenden durch die Luft, jedes in anderen Sprüngen, im Flug unzähligemal an andere schlagend und im Zusammenprall zersplitternd.

Die Flüchtenden sahen keine Rettung mehr. In blinder Betäubung stürzten sich die einen über steile Gehänge nieder, andere bargen sich im Geäst der gebrochenen Bäume oder sprangen in das Wasser, das die Ache brausend über die Ufer schleuderte. Die Ermatteten warfen sich mit dem Gesicht zu Boden, stumpf das Ende erwartend. Andere sanken auf die Knie und begannen mit erhobenen Armen zu beten. Die Stunde der tiefsten Angst erweckte in ihren zitternden Herzen den Glauben: es müsse doch Einer sein, der stark ist wider alle Not, auch stark noch wider stürzende Berge. Und während sie lallten in Todesbangen und nicht wußten, wo sie diesen Einen suchen sollten, hörten sie durch die Schleier des dampfenden Staubes eine klingende Stimme: »Heran zu mir! Ihr alle, nach denen der Tod die Hände streckt! Bei mir ist Gott! Bei mir der Himmel und die Hilfe! Heran zu mir!« Sie lauschten mit Zittern, sie sprangen auf und rannten, um den Gott zu finden, bei dem die Hilfe wäre.

Hinter Waldrams Schritten wuchs die Schar. Lallend begannen sie die Worte nachzureden, die er mit hallender Stimme betete. Und als sie sahen, daß dieser Mönch, durch keine Gefahr beirrt, leuchtenden Auges jedem Unheil entgegenschritt, befiel ein Rausch der Hoffnung ihre Seelen. Immer lauter wurden ihre Stimmen, und was sie beteten, klang wie trunkenes Geschrei. Häuser stürzten, und sie sahen es nicht. Menschen fielen, und über die zerschmetterten Körper schritten die Verzückten hinweg.

Der Hagel der Steine wurde dünner, und schwächer rollte über den Bergen das donnernde Echo. Nur das Brausen, das aus dem Ramsauer Tal heraustönte, wuchs noch immer. Vereinzelte Blöcke kamen noch aus der Höhe und schwangen sich in weiten Sprüngen über den zermalmten Schutt. Ein Fels, wie ein Haus so groß, wälzte sich durch den Hag des Richtmanns, drückte die leeren Ställe nieder und rollte gegen die Trümmerstätte, die das Haus des alten Gobl getragen hatte. Vor dem zerfallenen Dächlein saß der Alte. Mit den dürren Armen hielt er auf seinem Schoß den zitternden Knaben umschlungen, der das Gesicht in Gobls zerlumpten Kittel vergrub.

»Jetzt Büebli, jetzt kommt er, auf den ich wart!«

Der Knabe hob die Augen, sah den rollenden Block und schrie: »Du guter Vater im Himmel! Tu meinem Ähni helfen, wie du mir geholfen hast!«

Da kam der Fels wie ein steinernes Ungetüm; doch die Kraft seines Laufes war schon gebrochen; kollernd wälzte er sich über die faulen Reste des Hags, zerquetschte den Apfelbaum und hob sich noch ein letztes Mal auf die Kante – fiel er, so lag die Trümmerstätte des Hauses mit den beiden Menschen unter ihm begraben. Gobl, der die Kraft nicht mehr besaß, den Knaben zu tragen, versetzte ihm einen Stoß, daß Huze seitwärts niederrollte über die Moosfladen des zerfallenen Daches. Unter der Wucht des Stoßes kam der Alte selbst zu Fall und kollerte dem Fels entgegen. Schon fiel der Block. Da wich unter seiner Last die durchweichte Erde, im Fallen drehte sich der Fels, und halb in den Grund versinkend, legte er sich seitwärts nieder. Dicht neben Gobl drückte sich eine Kante des Blockes in den Boden und zog den Kittel des Greises mit sich hinunter. Der Alte zerrte wie ein junger Hund, der zum erstenmal die Schlinge des Riemens an seinem Halse spürt; dabei keuchte er den regungslosen Felsblock an: »Hast du mich selber übrig lassen, so laß auch meinen Kittel aus!« Der Stein hielt fest. Gobl mußte aus den Ärmeln schlüpfen und das Gewand im Stiche lassen. Da hinkte ihm schon der Bub entgegen. »Gobl-Ähni!«

»Mein gutes Büebli!« Mit den nackten Armen umschlang der Greis den Knaben und herzte ihn unter Lachen.

»Gelt, Ähni, er hat geholfen?«

»Wohl!« Die Augen des Greises suchten den von dampfendem Staub verdeckten Himmel. »Das muß ein Guter und Starker sein!«

Lächelnd schmiegte sich Huze an die Brust des Alten: »So gut, wie der, ist keiner!«

Durch den sich dämpfenden Lärm der Lüfte tönte Geschrei und Jammer über die Halden her. »So hör nur, Büebli! Die armen Leut! Es muß Not und Tod gegeben haben überall. Tätst du dich trauen, daß du ein lützel allein bleibst, so möcht ich hinauslaufen und schauen, wo ich helfen kann!«

»Wohl, Ähni, lauf!«

Der Alte streifte zärtlich mit der Hand über den Kopf des Knaben und watete durch den Schlamm davon. Als er zum Hagtor kam, blieb er stehen und blickte an seinem nackten Leib hinunter. Kopfschüttelnd kehrte er zurück und begann unter den Trümmern seines Hauses zu wühlen, ob er nicht einen Lumpen fände, mit dem er seine Blöße bedecken könnte.

Auf den Bergen war es still geworden; nur in Zwischenräumen ließ sich von den Höhen noch dumpfes Gepolter vernehmen, das die rauschenden Gewässer übertönte. Ein unruhig wechselnder Wind trieb die Staubwolken, und wo der braune Schleier auseinanderriß, enthüllte er die Bilder einer grauenvollen Zerstörung. Geschrei ertönte auf allen Seiten, herzzerreißendes Klagen, nur selten ein Ruf der Freude und des Wiedersehens.

Auf freier, von Geröll übergossener Halde lag Waldram auf den Knien, die Arme zum Himmel gestreckt, die Augen in Verzückung leuchtend, und betete mit hallender Stimme: »Es jauchze zu Gott die ganze Erde! Singet die Herrlichkeit seines Namens und preiset ihn mit Liedern! Sprechet zu Gott: wie furchtbar sind deine Werke!«

Während er so betete, wurde die Schar, die ihn umdrängte, immer kleiner. Jeden trieb es, nach den Menschen zu suchen, die ihm teuer waren, jeden zog es zu seinem Haus und Herd. Ein Laufen und Rennen begann, und einer schrie den anderen an: »Hast du meinen Vater nit gesehen, mein Weib und meine Kinder? Steht mein Haus noch oder liegt's?« Und alle Stimmen der Menschen übertönte das markdurchdringende Gebrüll eines Rindes, das mit gespreizten Füßen und gestrecktem Schweife zwischen den wirr durcheinanderliegenden Blöcken stand, die Augen aufgequollen, das Maul überronnen von blutigem Schaum.

Mit kalkweißem Gesichte kletterte der Hanetzer über die Felstrümmer, die Stätte suchend, auf der sein Haus gestanden. Er fand sie nicht. Als seine Brüder kamen, hatte er kein Ohr für ihren Jammer. Er starrte durch den wehenden Staub empor zur Höhe der Falkenwand, von welcher Wazemanns Haus über gebrochene Gipfel niederblickte. »Das meinige liegt, und das seinige steht noch allweil!« keuchte er, faßte die Brüder am Arm und schüttelte sie. »Mir nach! Sein Haus muß fallen!« Er riß einen Holzstrunk aus dem Schutt und stürzte dem nächsten Gehöft entgegen, das in Trümmern lag, mit rauchenden Balken; das Herdfeuer hatte das zerschmetterte Dach entzündet, und vor dem glostenden Haufen stand ein junges Weib in wortlosem Jammer. Der Hanetzer brüllte: »Liegt das deinige auch? So schau hinauf: das seinige steht noch! Aber nimmer leben will ich, dem sein Haus muß fallen vor der Nacht!« Das Weib, wie eine Erwachende, riß aus dem Trümmerhaufen einen glühenden Storren hervor und schwang ihn durch die Luft, daß die Flamme erwachte. »Brauchst du Feuer?« Heiser lachend faßte der Hanetzer den Brand. Von einer Trümmerstätte zur nächsten trug er die Flamme und den Schrei seiner Wut; Männer und Weiber gesellten sich zu ihm, und über die Schutthügel stürmte der schreiende Haufe gegen Wazemanns Haus empor. Die heiße Lust, ihren Haß zu kühlen, überfiel sie wie ein Labsal in ihrem Jammer, wie eine Betäubung ihres Schmerzes.

Die kreischenden Stimmen klangen weit hinaus über die Schönau. Mancher, der seine Heimstätte unversehrt gefunden, war schon wieder der Neugier fähig und rannte, um zu sehen, was es gäbe. Andere hatten mit sich selbst zu tun, mit ihrem Verlust und ihrem Jammer. Kinder liefen umher und schrien nach Vater und Mutter. Ein Weib mit fliegenden Haaren rannte von Hag zu Hag: »Wo sind meine Buben?« Die Söhne liefen ihr nach und schrien ihren Namen; doch das Weib erkannte sie im Wahnsinn nicht. Einzelne Menschen saßen betäubt noch an der Stelle, wo sie bei der Flucht ermattet niedergesunken. Auf ebenem Feld, über das kein einziger Stein gefallen war, lag ein Riese von einem Menschen bewußtlos hingestreckt. Es war der Schmied von Ilsank. Als ihm die Sinne wiederkehrten, sprang er auf und schrie mit brüllender Stimme: »Es kommt der Berg! Laufet! Laufet! Es kommt der Berg!« Er begann zu rennen, sprang über gestürzte Bäume weg, glitt von Geröll umwirbelt über steile Abhänge und suchte in keuchendem Lauf durch dichte Waldung den Weg zu seinem Haus. Plötzlich hielt er inne, nach Atem ringend. Er hatte gemeint, jetzt müßte er die Ramsauer Ache und die Rodung erreichen, auf der seine Schmiede stand – und sah zu seinen Füßen ein Tal, dessen ganze Breite erfüllt war von einem brausend dahinschießenden Wasser. Entwurzelte Bäume, Hausgerät und behauene Balken trieben auf den schlammigen Wellen.

»Ihr Gutholden! Wo bin ich hingeraten?« lallte der Ilsanker. »Das ist fremde Gegend!«

Da rollte etwas vorüber, vom tobenden Wasser ausgeworfen und schon wieder verschlungen: ein Amboß auf großem Holzblock. Verstörten Blickes starrte der Mann um sich – jenseits des Wassers sah er die Halden der Strub, sah im Zwielicht des Abends die Menschen rennen und erkannte das Talgehänge von Ilsank.

Den gellenden Schrei, der sich aus seiner Kehle löste, verschlang das Brausen der Wellen.

Tosend nahmen die Gewässer durch das Tal hin ihren Weg. Sie fraßen die Erde und schwemmten die Hütten davon; doch wie sie nahmen, so gaben sie auch: überall warfen sie Trümmer und Leichen an das Gelände.

Den weiten Lokiwald umkreiste die Flut und floß zusammen mit den reißenden Wellen der aus dem Schönsee kommenden Ache. Schon war die Stätte überschwemmt, auf der die Brüder in jener ersten Nacht gelagert hatten, und mit Toben strömten die Gewässer in das enge Tal, das hinausführte zur fernen Salzburg.

Weit draußen in der Waldschlucht tönte eine jammernde Stimme: »Bruder Schweiker! Bruder Schweiker!«

Erschöpft, von Todesangst in allen Knochen geschüttelt, suchte Wampo zwischen Gestein und Büschen einen Weg, der hinausführte aus diesem Jammertal, wohin auch immer, nur fort aus diesem gottverlassenen Erdenwinkel. »Schweiker! Schweiker!« Den schluchzenden Ruf übertäubte das näher und näher tönende Brausen. »Schweiker! Bruder! Verlaß mich nit in der Not! So komm doch und hilf!« Seine Stimme erlosch, und in Entsetzen starrte er rückwärts über das Tal. Er hörte dumpfes Rauschen und sah über das welke Buschwerk graue Buckel auf und nieder tauchen gleich springenden Mäusen. Bevor in seinem wirren Kopf ein Gedanke erwachen konnte, waren die kleinen Mäuse schon gewachsen und schossen durch das brechende Gebüsch einher mit klotzigen Rücken. Da kam dem Bruder in seiner schlotternden Angst jenes Abenteuer des ersten Tages in Erinnerung. »Allmächtiger Gott! Hinter mir die wilden Säu!« Er begann zu springen. Der neue Schreck verlieh ihm neue Kräfte. Mit schlagenden Armen warf er sich durch die Büsche, während hinter ihm ein Brechen und Rauschen sich näherte, als hätten in dem engen Waldtal sich die Wildschweinherden aller Welt gesammelt. Etwas Kaltes fuhr ihm zwischen die Beine. Und das war kein wildes Ferkel. »Schweiker!« lallte der Bruder noch, dann fing eine hohe Welle ihn auf, und von der gebauschten Kutte wie von einem Luftsack über Wasser gehalten, segelte Bruder Wampo mit jagender Eile durch das Waldtal hin. Hätte er auch den schnellsten Renner aus des Kaisers Stall zwischen den Knien gehabt, er hätte der »schiechen Gegend« nicht flinker entrinnen können.

Wohl verging ihm Hören und Sehen vor Todesangst. Dennoch behielt er so viel Bewußtsein, um zum erstenmal in seinem Leben dem Himmel ehrlich für das wohlgemessene Bröcklein Fett zu danken, das ihm eine gütige Vorsicht zwischen Haut und Knochen gelegt hatte. Er konnte nicht sinken! Und als die Luftblasen aus der Kutte wichen und das Wasser ihn umgurgelte bis zum Hals, da fischte ihn eine auf der Flut einhergaukelnde Fichte mit ihrem Gezweig aus den Wellen heraus, als wäre sein Erdengewicht nur ein Flöcklein Wolle. Triefend, mit unglaublicher Schnelligkeit, klomm er über die schwimmenden Äste empor; kaum aber hatte er sich in den Zweigen eingenistet und sich erquickt mit einem schüchternen Atemzug der Hoffnung, als ihm eiskalter Schreck durch Herz und Glieder rann. Er gewahrte, daß er auf seinem grünen Schiff einen stillen Kameraden hatte: zwischen den Ästen hing die Leiche eines Jünglings, mit gespaltener Stirn, und der starre Blick der noch offenen Augen redete dem lebenden Gesellen ein erschütterndes Memento mori in die Seele.

Bruder Wampo schwamm und büßte im Angesicht des kalten Todes reichlich seine kleinen Sünden ab. Er hielt sich an die Zweige geklammert und regte sich nicht; nur manchmal versuchte er mit bleichen Lippen einen Ruf: »Schweiker! Schweiker!«

Der matte Laut ging unter im Gebraus der Wellen. Aber hätte Bruder Wampo auch eine Stimme gehabt, wie der Schmied von Ilsank, den man von der Schönau schreien hörte bis zum Lokiwald – es hätte ihr Ruf nicht ausgereicht, um den verschwundenen Bruder einzuholen.

Hoch über dem Tal, das die tobenden Fluten füllten, keuchte Schweiker im halb zerstörten Bergwald über den steilen Hang empor. Sein Atem war wie ein Röcheln. Bei der Eile, mit der die Angst seines Herzens ihn bergwärts trieb, gingen auch die Kräfte dieses Hünen zu Ende. Taumelnd gewann er den Waldsaum. Auf der freien Halde, wo sonst kein Stein gelegen, gewahrte er mächtige Felsblöcke, grauen Schnee und zerstreutes Geröll. Der Hag des Greinwalders klaffte von Lücken. Und hinter dem Hag kein Haus, kein Dach. Ein dumpfer Schrei, und Schweiker begann zu rennen. Als er das Tor erreichte, sah er den Balkenwust, zu dem das Haus zerfallen war. Rinder und Ziegen trabten im Hof herum, und die Bäuerin lag auf den Knien, während der Bauer einen Dachsparren vom Trümmerhaufen hinwegzuzerren suchte und immer den Namen seines Kindes schrie. Schweiker stand wie gelähmt. Dann ging ein Ruck durch seinen Körper, er spuckte in die Hände, stürzte auf die Trümmer des Hauses zu und faßte einen Balken. Mit übermenschlicher Kraft hob er das schwere Holz und warf es zur Seite. So löste er Sparren um Sparren vom Haufen des Gebälks. Als der Bauer und sein Weib den Bruder solche Riesenarbeit leisten sahen, verstummte ihr Jammer. Schon zeigte sich im Wust der Trümmer eine dunkle Höhlung. Schweiker beugte sich vor und keuchte: »Hinzula? Lebst du noch?«

»Wohl!« klang aus Gebälk und Schutt hervor die matte Stimme der Hirtin.

Unter Lachen griff Schweiker nach seinem Kopf, nach seinem Herzen. Die Bäuerin schrie vor Freude, und der Greinwalder zerrte an einem Balken. Schweiker stieß den Bauer zurück: »So hab doch acht, du Lümmel! Es kann ihr ja was geschehen, wenn du so grob tust!« Er faßte einen Sparren und hob ihn achtsam, damit kein Splitter und kein Bröselein des Schuttes sich bewegen möchte. Dabei sprach er immer in die dunkle Grube hinunter und mahnte die Verschüttete, tapfer auszuhalten und keinen Finger zu regen. »Ich hilf dir, tu dich nur nimmer bangen!«

»Mir banget nimmer. Ich seh dich schon!« klang es matt unter den Balken hervor.

Schweiker hob und hob, daß ihm an den Schläfen die Adern schwollen, und grub mit den Händen im Schutt, daß ihm die Nägel brachen. Schon konnte er das blasse Gesicht der Hirtin erkennen, die lächelnd zu ihm aufblickte. Aufrecht stehend, war sie bis an den Hals zwischen Schutt und Späne eingemauert. Je näher Schweiker der Verschütteten kam, desto hurtiger flogen seine Hände. Endlich hatte er sie so weit herausgeschält, daß er sie mit den Armen umschlingen und emporheben konnte aus dem fallenden Schutt. Er hielt sie an die Brust gedrückt und taumelte über die Balken nieder auf ebenen Grund. Seine Knie trugen ihn nicht länger. Er sank zu Boden. Auf der Erde sitzend, umklammerte er auf seinem Schoß die Hirtin und bedeckte unter zärtlichem Stammeln ihr Haar, ihre Augen und ihren Mund mit Küssen. Hinzula regte sich kaum; erst nach einer Weile konnte sie die gequetschten Glieder rühren, und da schlug sie die Arme um Schweikers Hals, daß ihm die Stimme erlosch.

Als die wortlose Seligkeit der beiden kein Ende nehmen wollte, stieß die Bäuerin den Ellbogen an den Arm ihres Mannes und murrte: »Alles, was recht ist! Aber jetzt könnt er sie uns doch auch ein lützel hergeben. Ich möcht ihr auch in die Augen schauen. Geh, red mit ihm!«

Der Greinwalder kratzte sich hinter dem Ohr. »Wenn ich ein Wörtl sag, das ihm nit taugt, so haut er zu. Red selber mit ihm! Ich kann's erwarten. Und merken tu ich auch, daß ihr nichts geschehen ist: sie busselt, als hätt sie aller Lebtag nichts anderes getrieben!« Der Bauer wandte sich seufzend von den Trümmern seines Hauses, und seine Augen suchten das ferne Tal. »Weib! Schau hinunter!« stammelte er erschrocken. »Mir grauset.«

Ein letzter Glanz der sinkenden Sonne fiel noch über den Hag und die vier Menschen, die er umschloß. In den Tälern lag schon der Schatten des Abends. Ein murmelndes Rauschen tönte über die halb zerstörten Wälder empor wie eintöniger Grabgesang, und gleich einem finsteren Leichentuch verhüllte eine schwärzliche Dunstwolke alle Halden des Gadens vom Schönsee bis zum Lokiwald. Überall zwischen den Bergen dampfte das gleiche dunkle Staubgewölk, und durch die Ilsanker Waldschlucht zog der braune Rauch vom Gaden hinaus bis in die Ramsau, deren Tal verwandelt schien in einen langgestreckten See. Bis hoch über alle Grate waren die Lüfte von dünnem Staub erfüllt und glühten in blutrotem Schein, von dem die Gipfel der Berge mit trübem Grau sich abhoben. Sie waren anzusehen wie eine Herde kotiger Schafe – wie eine Herde, die den Hirten verlor. Denn der weiße Riese, Wazemanns Bannberg, der sich steil über alle anderen Gipfel erhoben hatte, war verschwunden. Wohl reckte sich aus dem verschütteten Unterstock des Königs Eismann gegen Westen hin noch eine gewaltig starrende Spitze, höher als alle anderen Berge, und gegen den Schönsee im Osten eine plumpe Kuppe; doch das Bild des Berges war verwandelt zum Anblick eines gebrochenen Riesenzahnes mit zwei mächtigen Stumpen, zwischen denen sich, an Stelle der einstigen Schneezinne, ein tief gesenkter Felsgrat hinzog, aus dessen wild zerrissenem Bogen sieben höhere Steinzacken in die Lüfte starrten. Und verwandelt war der ganze Stock des Berges: wo ewiger Schnee gelegen, gähnte kahles Gestein, Täler waren verschwunden und neue Felsenhügel aufgetürmt, und statt der grünen Wälder dehnte sich ein grauer Wust von Schutt und Trümmern.

»Und dort schau hin, zum Schönsee!« stammelte die Bäuerin. »Zu allem steinigen Elend auch noch Feuersnot!«

Über dem Falkenstein loderte eine hohe Feuergarbe. »Wazemanns Haus!« schrie der Greinwalder. In seinen Augen funkelte die Freude des Hasses. »Da trag ich auch noch ein Scheit zur Glut!« Er zerrte einen zersplitterten Sparren aus dem Trümmerhaufen seines Hauses und rannte talwärts; kreischend lief ihm die Bäuerin nach, hielt ihn am Kittel zurück und zog ihn unter bettelnden Worten wieder zum Hag.

Schweiker erwachte aus seiner trunkenen Seligkeit. Gleich einem Träumenden blickte er umher und stotterte: »Wie ist mir denn? Sag, liebes Mädel, wie ist mir denn?«

»Gut halt! Wie mir!« lispelte Hinzula, ohne das Köpfl von Schweikers Brust zu erheben.

Er streichelte mit seiner klobigen Tatze ihr Haar. »Vor einem Stündl noch ist Todesangst und Not in mir gewesen. Jetzt ist mir Leib und Seel so voller Freud, als könnt über mich in aller Lebenszeit nimmer Sorg und Herzleid kommen. Schau, liebes Mädel, mir ist, als hätt ich Himmelsbrot gegessen.«

Als der Bauer mit seinem Weib zurückkehrte und den Sparren, den er davongetragen, wieder zum Haufen warf, ließ Schweiker die Hirtin aus seinen Armen und erhob sich. »Komm, Vater Greinwalder, jetzt müssen wir bauen! Das gute Kind braucht eine Ruhstatt für die Nacht.«


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