Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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6

Es ging auf die Mittagsstunde. Tiefe Ruhe herrschte in Wazemanns Haus. Das Geflügel war in die Ställe gesperrt, und im Zwinger saß ein Rüdenknecht, um die Hunde bei Ruhe zu erhalten. Das Gesinde, das in Hof und Haus beschäftigt war, vermied jedes Geräusch; nach einer Nacht, wie die vergangene, pflegten Wazemann und seine Söhne dem Lärm nicht hold zu sein.

Herr Waze lag in den Kleidern auf seinem Spanbett, einen nassen Bund um die Stirne, und kaute Schlehen, um den bitteren Pelz auf seiner Zunge zu lösen. Häufig drückte er die Fäuste an seine Schläfe, weil er an Haarweh litt; wohl hatte er nicht viel Haare mehr; die wenigen schmerzten ihn doppelt.

Es war harte Arbeit für die alte Ulla, als sie die Herrenstube in Ordnung bringen mußte, um für Mittag die Tafel decken zu können. Bei dem leisesten Geräusch, das sie verursachte, flog ihr eins von den Dingen, die in Herrn Wazes Armbereich lagen, an den Kopf oder um die Füße, begleitet von einem Fluch. Als sie die schwere Metbitsche brachte, kreischte er: »Hinaus mit dem Gesüff! Mir graust! Und Ruh will ich haben. Man soll warten mit dem Mahl. So lang mich selber nit hungert, soll auch kein anderer fressen. Wo sind die Buben?«

»Sie liegen noch!« flüsterte die Magd.

»So laß sie liegen. Und Recka?«

»Ist zu Berg geritten.«

»Was stehst du noch? Hinaus mit dir!«

Ulla fragte scheu: »Soll man Zehrung in das Bußloch tragen?«

»Hinaus!« Alle Geschosse hatte Herr Waze schon versandt; nur der hölzerne Schemel vor dem Spanbett war noch übrig; doch eh ihn Herr Waze zu fassen bekam, hatte sich Ulla aus der Stube geflüchtet. »Zehrung in das Bußloch?« Herr Waze griff nach dem Schlüssel an seinem Gürtel und lachte. »Zehrung? Der Pfaff ist ans Fasten gewöhnt. Mürb soll er werden, eh ich raiten will mit ihm. Und gibt er mir den Gaden nit zu Lehen mit Brief und Siegel, so soll er –« Stöhnend drückte er seinen brummenden Schädel auf die Bärenhaut. Nach einer Weile fiel er in Schlaf und schnarchte. –

Um diese Stunde verließ Eberwein das Fischerhaus, von Sigenot geleitet; der alte Senn und Wicho trugen auf einer Stangenbahre den Huze. Als sie zur Ache kamen, faßte Eberwein die Hand des Fischers. »Weiter sollst du nicht gehen mit mir. Kehr um und wahre dein Haus!«

»Das muß einer wahren, der stärker ist als ich.«

»Ja, Sigenot, bei Gott ist Hilfe. Doch wir dürfen die Hände nicht in den Schoß legen und rufen: jetzt zeige, Gott, wie stark du bist! Wir müssen auch der eigenen Kraft vertrauen und müssen sinnen auf Schutz vor unseren Feinden. Weißt du mir einen sicheren Boten?«

»Wohin soll er Botschaft tragen?«

»An den Hof des Bayernherzogs.«

»Mein Jungsenn ist ein treuer Bub. Ich schick ihn zum Lokstein, wenn die beiden heimkehren.«

Sie schieden.

Versunken in den Streit seiner Gedanken, schritt Eberwein hinter der Bahre her. Er blickte nicht auf, als er an den Halden der Schonau vorüberkam, auf denen die Leute in Hast die letzten Garben von den Feldern räumten.

Tätiges Leben herrschte um den Hag des Richtmanns; die Knechte und Mägde sprachen nicht, rührten nur die Arme. Der Schönauer, manchmal einen Sorgenblick hinaufwerfend zum treibenden Gewölk, überwachte die Ladung der Karren und zählte die Garben; jeden Karren geleitete er bis zum Tor; dort stand er immer eine Weile. Ruedlieb saß auf der Steinbank unter den Eichen. Einmal rief ihn der Vater an: »Willst du nit auch ein lützel mit zugreifen?« Der Bub schüttelte den Kopf. Da ging der Vater auf ihn zu und rüttelte ihn an der Schulter. »Wach auf, Liebli! Das ist kein Leben nimmer seit gestern. Das kann ich nimmer länger mit anschauen! In Gottesnamen, geh zum Rötli und sag der lieben Dirn, daß ich sie grüßen laß.« Ruedlieb sprang auf und umklammerte die Hand des Vaters. »Bist du gescheit,« sagte der Richtmann, »so tust du dich gedulden bis zum Abend. Der Tag ist unser Feind, die Nacht hat besseren Weg.«

Da nickte der Bub. »Gib mir Arbeit, Vater! Die Zeit vergeht mir flinker, wenn ich schaff.«

»Ja, komm!«

Als sie zum Hagtor gingen, fuhr ein kalter Windstoß vom Untersberg über die Halden der Schönau. Der Richtmann und Ruedlieb lauschten: auf dem Winde kam vom Lokiwald ein verwehter Hall der Glocke über das Tal geflogen.

Bruder Wampo hatte den Strang gerührt. Als er aus dem Schlaf erwachte und sich einsam in der Klause fand, befiel ihn Sorge; erst wagte er die hölzernen Mauern nicht zu verlassen; unter der Türe schrie er den Namen Schweikers in die Stille hinaus; keine Antwort kam. Die Glocke, meinte er, würde besser rufen. Nun glaubte er Stimmen im Wald zu hören. »Schweiker!« rief er und eilte den Bäumen zu. Keine Antwort, nirgends ein Mensch zu sehen. Eine Strecke wagte er sich noch in den Wald hinein, dann schüttelte er bedenklich das runde Köpfl und kehrte um. Ein Summen machte ihn aufblicken.

Was er gewahrte, ließ ihn aller Sorge vergessen. Hoch an einem morschen Baume sah er ein Loch, das in die Höhlung des Stammes führte. »Guck, ein Immennest!« Zahlreich flogen die wilden Bienen aus und ein. »Schau, so kann man in dem schiechen Wald doch auch was Liebes finden!« lachte Bruder Wampo, dachte an den süßen Honig, musterte den Baum und meinte, ohne allzu große Mühe das Nest ersteigen zu können, denn die Stümpfe dürrer Äste ragten wie Leitersprossen aus dem Stamm. Er griff nach Schwefelfaden und Feuerstein in seiner Kutte, schob zwei Moosbüschel hinter den Gürtel und begann emporzuklimmen. Der Baum erhob keine Schwierigkeiten, aber Wampos Bäuchlein ließ sich mit jedem Zweig und Rindensplitter in eine längere Auseinandersetzung ein. Manches Tröpflein Schweiß war vergossen, als der Bruder endlich neben dem Immenloch auf einem festen Aste saß. Während er die ihn umschwärmenden Immen durch heftiges Kopfschütteln abzuwehren suchte, schlug er hurtig Feuer, brachte einen Moosballen in glimmenden Brand, schob den rauchenden Wisch in die Höhlung des Stammes und verstopfte mit dem anderen das Loch. Flink ließ er sich auf die Erde gleiten und rannte davon, mit schlagenden Armen die Immen scheuchend.

In sicherer Ferne blieb er lachend stehen und schnalzte mit der Zunge. »Jetzt soll euch der Rauch einen Tag lang beißen! Dann komm ich wieder und hebe den süßen Schatz!« Ein Wehlaut schloß sich an diese Worte, und mit beiden Händen griff Bruder Wampo nach seiner Glatze; er spürte zwischen den Fingern noch die Biene, die ihn gestochen hatte; kreischend schüttelte er sich, rannte der Lichtung zu, raffte einen Klumpen Erde auf und drückte ihn über die Wunde. »Schweiker! Schweiker!« schrie er. Keine Antwort. Seine Stimme drang nicht weit, sie war noch heiser von der langen Zwiesprach, die er in der Nacht mit seinem unheimlichen Gesellen in der Wolfsgrube gehalten hatte. Aber hätte Wampos Sehnsucht nach dem Bruder auch einen Schrei getan, so mächtig wie das Gebrüll eines Löwen – er wäre nicht bis zu Schweikers Ohr gedrungen.

Hoch oben auf dem Hang des Göhl saß Schweiker noch immer in der Stube des Greinwalders und hielt die Hände der Hirtin fest, damit ihre bösen Schmerzen nicht wiederkehren möchten. Er hatte sich seines Traumes in jener ersten Nacht erinnert und begann zu forschen, wie es um das »Seelgerät« der Hirtin bestellt wäre. Erschrocken über das zweifelhafte Ergebnis seiner Fragen rief er: »Kindl! Sauber gewaschen liegst du vor mir, aber einwendig schaut's bei dir noch aus, daß einem grausen könnt!« Während draußen im Hof die Beilschläge des Greinwalders klangen, der das zertrümmerte Tor flickte, fing Schweiker zu sprechen an und predigte der lauschenden Hirtin den Himmel. Das war ein Himmel, den man greifen konnte mit Händen. Um zu beweisen, welche Wonne man von der ewigen Seligkeit zu erwarten hätte, schilderte er die Qualen, die mancher Heilige und Märtyrer auf Erden erduldet hatte, um dieser Freuden teilhaftig zu werden.

Hinzulas Augen wurden feucht. »Und das alles ist wahr?«

»Freilich, Kindl, so wahr, wie daß ich bei dir sitz!«

»Wie kann denn ein Mensch solche Leiden aushalten?«

»Das kann nur ein Heiliger, den der liebe Gott gekräftigt hat mit Himmelsbrot!«

»Himmelsbrot? Was ist das für eins?«

»Das backen die Engel im Himmel. Und wer ein Bröselein ißt davon, der fühlt in Leid und Schmerzen sein Herz erhoben zu Freud und Süßigkeit. Und seine Seel tut jauchzen im Glück, das ihr der liebe Gott gegeben. Gelt, für so ein Himmelsbrot, da möcht doch jeder leiden bis aufs Blut? Meinst du nit auch?«

Hinzula nickte. Unter träumendem Lächeln blickte sie zu Schweiker auf. Und nun schwiegen sie alle beide und hingen Aug in Auge.

»Wohl!« stotterte Schweiker, aus seiner Verlorenheit erwachend. »Und allweil in der höchsten Not, wenn die Heiligen schier haben verzagen wollen, hat ihnen der liebe Gott einen Engel geschickt mit Himmelsbrot. Schau nur, wie's dem heiligen Laurenzi gegangen ist –«

»Hat der auch so viel leiden müssen?«

»Paß nur auf, ich erzähl dir alles!«

Während Schweiker die Legende begann, trat draußen in der Hofreut die Bäuerin zu ihrem Mann. »Was soll ich tun? Jetzt hockt er noch allweil drin! Ich muß doch Feuer schüren und kochen.«

Der Greinwalder kratzte sich hinter den Ohren. »Ich weiß keinen Rat. Hinauswerfen? Das wird sich hart machen. Der Unfürm tät mir alle Knochen im Leib zerbrechen. Meintwegen, setz die Supp halt zu! Jetzt ist er da, soll er halt mitessen.«

In der Stube klang die Stimme Schweikers: »Und richtig, da haben ihn die Schergen gepackt und haben verlangt von ihm, daß er die heiligen Kirchenschätz den Heiden ausliefern soll. Und der heilige Laurenzi hat gesagt: Wohl kommet nur morgen, und alle Schätze meiner Kirche will ich euch zeigen.«

»Das ist aber doch nicht recht von ihm gewesen?«

»Wart nur, wie's weiterkommt! Am andern Tag haben sich die Schergen wieder eingestellt, und da hat der heilige Laurenzi die Kirch vor ihnen aufgetan, und die ganze Kirch ist voll gewesen mit Kranken, mit armen, notbeladenen Leuten. Schauet, hat er gesagt, das sind die Schätze meiner Kirche. Da haben die Heiden im Zorn einen eisernen Bratrost hergeschleift, haben einen Haufen heißer Kohlen drunter ausgebreitet, und wie der Rost geglüht hat, haben sie den heiligen Laurenzi lebendigen Leibes draufgelegt.«

»Ihr guten Mächt!« stammelte Hinzula. »Wie kann man denn einem redlichen Menschen so was tun?«

»Gezischt und geprasselt hat's, und Rauch und Feuer ist aufgestiegen von seinem schönen Lockenhaar. Der heilige Laurenzi aber ist standhaft geblieben und hat nach einer Weil gerufen: Schauet her, die eine Seite ist genug gebraten, jetzt wendet mich auf die andere!«

»Hör auf! Ich kann's nimmer hören!« Hinzula brach in Schluchzen aus. Erschrocken suchte Schweiker das Mädchen zu trösten. Doch Hinzula hörte nicht, sie schluchzte und schluchzte. »Kindl!« rief er in Verzweiflung. »Das Weinen muß dir ja schaden!«

Unter Tränen klagte die Hirtin: »So viel leiden hat er müssen, so viel leiden!«

»Das ist doch viele hundert Jahr schon her! Und schau, wer weiß, ob's wahr ist!« Sorge und Erbarmen hatten ihm dies bedenkliche Trostwort auf die Zunge gelegt. Er selbst erschrak, als es gesprochen war, und griff an seinen Kopf, in dem alle Besinnung aus den Fugen ging.

Die Bäuerin trat in die Stube, dürres Holz auf den Armen. Als sie das Schluchzen ihres Kindes hörte, warf sie das Holz auf den Herd und eilte zum Bett. »Was tust du denn?« fuhr sie den Bruder an. »Jetzt macht er mir die sieche Dirn noch weinen!«

Schweiker brachte kein Wort heraus. Und Hinzula zürnte: »Aber Mutter! Er hat doch keine Schuld! Ich selber und – der heilige Laurenzi!« Brummend ging die Greinwalderin zum Herd, und während sie Feuer schlug, murrte sie über die Schalter: »Der Bauer hat gesagt, du kannst mitessen.«

»Mitessen?« fragte Schweiker. »Hat denn das Kindl noch kein Frühmahl gehabt?«

»Frühmahl? Bist du denn gescheit? Es geht schon bald auf den Abend zu.«

Dem Bruder fuhr der Schreck in alle Glieder. »Allmächtiger! Und mein Herr? Mein guter Herr!« Er stürzte zur Türe; als er die Stimme der Hirtin hörte, drückte er die Hände über die Ohren und taumelte aus dem Haus. Mit langen Sprüngen gewann er das Tor, rannte in seiner blinden Eile den Bauer nieder und war schon im Wald verschwunden, noch ehe der Greinwalder wieder auf die Füße kam.

Keuchend erreichte Schweiker die Klause. Auf der Türschwelle saß Bruder Wampo, der ein Stück Rasen über seinen Kahlkopf gebunden hatte, um den Schmerz des Bienenstiches zu lindern. Schweiker, nach Atem ringend, stieß die Frage hervor: »Ist der Herr daheim?«

»Nein.«

»Hat ihn der Pater nit gefunden?«

»Ich weiß nit.«

Schweiker rannte davon. Wohin er wollte, das wußte er nicht; kreuz und quer durchirrte er den Wald und schrie den Namen Eberweins hinaus in die dumpfe Stille. Durch wirre Gebüsche schlug er sich und geriet in das Tal der Ramsauer Ache. Auf schmalem Pfade kam die Tochter Wazes auf ihrem Rappen geritten. Sie wollte wenden. Schweiker sprang auf Recka zu, faßte den Zügel des Pferdes und keuchte: »Mein Herr – hast du meinen Herrn nit gesehen?« Das Pferd bäumte sich, aber Schweiker hielt fest und ließ sich schleifen.

In Zorn hatte Recka die Gerte gehoben; da traf sie ein Blick aus Schweikers Augen, angstvoll und verzweifelt; sie ließ die Gerte sinken. »Sorge dich nicht, dein Herr ist unter sicherem Dach, bei Sigenot dem Fischer.«

Schweiker gab den Zügel des Pferdes frei, und während Recka davonritt, drückte der Bruder seine zitternden Fäuste auf die atemlose Brust. »Unter sicherem Dach!« Dann warf er sich zu Boden und preßte das Gesicht ins Moos.

Dem Lauf der Ache aufwärts folgend, ritt Wazes Tochter unter den Halden der Strub vorüber und kam in das enge Waldtal, dessen Gehänge widerhallten vom Hammerschlag der Ilsanker Schmiede. Nach kurzem Ritt erreichte Recka die Stelle, an der die Windach in die Ramsauer Ache floß. Sie ritt durch den Bach und in den dunklen Hochwald, um nach einer Bärengrube zu sehen, die am Fuß einer den Wald durchschneidenden Felswand ausgeworfen war. Noch hatte sie das Ziel ihres Rittes nicht gewonnen, als sie das Pferd verhielt und gegen die Höhe lauschte. Ihr war, als hätte sie vom Gewänd der Windach herunter den angstvoll klingenden Schrei einer weiblichen Stimme vernommen. Lange lauschte sie, doch sie hörte nur das dumpfe Rauschen des Wassers. Eine quälende Erinnerung befiel sie, und kaltes Grauen schlich ihr in das zerrissene Gemüt. Der Schatten der Heilka war vor ihr aufgestiegen.

»Die Lebendigen und die Toten, alles klagt wider meines Vaters Haus! Könnt ich doch nimmer hören! Hätt nur alles schon ein End!« Mit pfeifendem Gertenschlage trieb sie das Roß und verschwand im Dunkel des Gehölzes.

Da klang der Schrei in der Höhe wieder. Hoch über dem Geklüft der Windach, wo zwischen Felsen und Gestrüpp ein Almensteig emporführte gegen den König Eismann, rangen zwei Menschen miteinander. Ihre Stimmen mischten sich, ihre schwarzen Gewänder und ihre weißen Haare flatterten in dem eisigen Luftstrom, der dem Sturz der Windach folgte.

Hiltidiu lag auf den Knien vor Hiltischalk und umklammerte ihn mit ihren dürren Armen; das sonst so sanfte Gesicht der Greisin war verwandelt zu einem Schreckbild, jeder Zug verzerrt von Entsetzen und Todesangst. Um Hilfe schreiend, umkrampfte sie den zitternden Körper des Alten, der sich loszureißen suchte. Hiltischalks Augen glühten wie im Wahnsinn: »Laß mich, Hilti, laß mich! Jetzt muß ich rufen zu ihm. Da ist das Fleckl, wo er mich hören muß! Hat er mich selbigsmal nit auch gehört, wie ich da drunten geschrien hab: ›Mein guter Herre, du mein Gott?‹ Hat er mich nit gehoben aus Not und Tod? Jetzt muß er mich wieder hören! Nach aller Treu von siebzig Jahren! Muß Recht sprechen nach ewiger Gerechtigkeit! Recht zwischen mir und dem, der mich reißen will von deiner Lieb! Der mich gestoßen aus meinem Gotteshaus! Mir meine hundert Kinder genommen hat! Ein Urtel muß ich haben zwischen mir und ihm!«

»Mann, Mann!« schrie die Greisin. »Bist du ein anderer geworden? Du, der Gute, der allzeit Fromme? Du willst Gott versuchen und dich versündigen an ihm?«

»Laß mich, Hilti! Ein Urtel muß ich haben! Wissen muß ich, ob ich fromm gelebt hab oder ein Verfluchter hin? Ob ich Gott gedient hab oder der Höll?«

»Denk schon nimmer an mich! Nur laß dich bitten: versuch den Himmel nit!«

»Ich muß! Laß deine Hand von mir! Und hab keine Sorg! Er wird mich heben aus Not und Schmerzen! Und dem anderen wird er zeigen: was Gott vereint hat, können Menschen nimmer scheiden! Laß deine Händ von mir! Ich muß!«

Er riß sich los und taumelte zum Rand der Felsen. Gellend hob sich sein Ruf zu den Wolken: »Mein guter Herre, du mein Gott!« Mit ausgebreiteten Armen, brennenden Blicks die grau verschleierte Höhe suchend, trat er hinaus ins Leere. Unter herzzerreißendem Schrei hatte Hiltidiu sich aufgerafft. Ihre Hände haschten noch sein flatterndes Gewand, sie wollte nicht lassen von ihm und stürzte, von seinem Fall gezogen, mit ihm hinunter in die dunkle Tiefe.

Dumpf rauschte die Windach. Ihre grauen Wasserdämpfe stiegen auf, und in der Tiefe rollten ihre Wellen den immer gleichen Weg, die fallenden Steine verschlingend, den weichenden Erdgrund fressend und alles Wachstum mordend, das ihr zu nahe kam. Sie gab nicht wieder, was sie genommen. Ein Urteil war gefallen, und es lautete, wie Hiltischalk gehofft: nun war er ledig aller Not und Schmerzen und war vereint mit seinem Weib für ewige Zeiten.

Die Windach rauschte. Ihre tobenden Wellen erschütterten den Felsengrund und machten den Steg erzittern, der die finstere Kluft überspannte.

Der Balken schwankte unter dem Schritt eines Mannes.

Pater Waldram suchte den Heimweg. Ohne Grauen blickte er nieder in die dunkle Tiefe, furchtlos überschritt er die Kluft. Er wußte sich in Gottes Hut. Hatte er nicht das heiligste Werk seines Lebens an diesem Tag vollführt? War ihm heute der Dank des Himmels nicht doppelt gewiß, da er Gottes Haus gesäubert von Laster und Aussatz, eine ganze Gemeine mit hundert Seelen gerettet hatte vor ewigem Verderben?

Sicher trug ihn der Steg.

Als er die Blöße des Ufers überschritten hatte und in den von Dorngestrüpp umwachsenen Hochwald trat, vernahm er einen jauchzenden Ruf, der das Rauschen des Wassers übertönte.

Über ihm, in der Weite eines Bogenschusses, hielt Recka auf ihrem Pferd vor dem Absturz der Felsen. Sie hatte in die Tiefe geblickt, dann mit den Augen den Pfad im Tal gesucht. »Ist mein Leben noch einen Umweg wert?« Lachend hatte sie das Roß zum Sprung getrieben. »Heilka, jetzt ruf die Alfen der Windach auf! Laß sie greifen nach Hennings Schwester!« Und nach dem jauchzenden Schrei, den Waldram gehört hatte, nahm sie den Anlauf zu diesem irrsinnigen Sprung. Vor dem Absturz der Felsen stockte das Pferd mit vorgeschobenen Hufen und scheute zurück. »Willst du nit?« lachte Recka. »Du mußt!« Sie lenkte rückwärts und begann von neuem den Anlauf, die Flanke des Pferdes mit der Gerte peitschend. Nun sprang das Roß. Vorgestreckten Halses, mit wehender Mähne, flog es über die Kluft. Seine Hufe gewannen das Ufer. Der Rasen brach und kam ins Gleiten, doch der Gaul schnellte sich vorwärts und stand auf fester Erde, zitternd an allen Gliedern.

»Gott schütze dich!« hatte Waldram geschrien, hatte in Angst um dieses Weib die Arme gestreckt.

Recka sah ihn nicht, hörte keinen Laut seines Rufes. Das schöne Gesicht von Blässe überzogen, blickte sie lächelnd in die Tiefe. »Den Himmel find ich nimmer, die Höll begehrt mich nit. Wohin jetzt? Wieder heim in meiner Brüder Haus!« Sie streichelte den Hals des Pferdes und ließ es mit hängendem Zügel in den Hochwald treten.

Als sie verschwunden war, schien Waldram wie aus einem Traum zu erwachen. Er preßte die Fäuste auf seine Augen. »Teufelin! Bist du zum anderenmal geschickt, mich zu versuchen?« Mit zuckenden Händen faßte er seine Brust. »Erbärmliches Gefäß einer gottgeweihten Seele! Du sündiges Fleisch! Ich will dich züchtigen!«

Er warf sich in einen Dornbusch und wälzte sich unter wahnwitzigem Gelächter in den stachligen Ranken.


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