Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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6

An der kleinen Pforte über dem Felsensteig hatte Sigenot den Hammer gerührt. Ein Knecht öffnete: »Komm nur, der Herr wartet schon!«

Der Fischer zögerte. »Sind die Buben daheim?«

»Nein. Gestern vor Mittag sind sie nach dem Eismann hinauf ins Gemsgejaid. Ich weiß nit, ob sie heut noch heimkommen.«

Sie überschritten den wenig geräumigen Burghof; der Steinwall um das Haus war eng gezogen, nach dem alten Sprichwort: je kürzer die Mauer, so länger die Wehr. An der Mauer entlang, unter den Pfeilscharten und Luglöchern, lief eine hölzerne Brustwehr mit Wächterhäuschen und kleinen Treppen; aber das Holzwerk war morsch und zerfallen. Wazemanns Haus hatte nie einen Angriff erfahren und schien auch keinen mehr zu befürchten. In die Ecken der Mauer waren Schuppen und Scheuern eingebaut, und die Wächterhäuschen dienten als Trockenkammern für die Wilddecken. Ein paar alte Ulmen standen im Hof, von Holzbänken umzogen und an den Stämmen behängt mit verwitterten Hirschgeweihen und mit Steinbock- und Gemsgehörnen, die zumeist noch auf den weißgebleichten Schädeln saßen. Zwischen den Bäumen erhob sich ein aus dicken Fichtenstangen gefügter Käfig, in dem ein brauner Bär, ein Wolf und eine Luchskatze einträchtig hausten, träg und schläfrig, mit abgeschundenem Fell. Nicht weit davon, in einer Ausbuchtung der Ringmauer, befand sich der hochvergitterte Hundezwinger, darin die Bollbeißer und Saufinder bei Sigenots Eintritt einen tollen Lärm erhoben.

An die Mauer waren auch die Ställe angebaut, die Hühnersteigen und Entenhütten. Auf einem der Moosdächer saßen zwei Pfauen, Enten und Hühner stolzierten frei im Hof umher, und mit dem Kläffen und Heulen der Hunde vermischte sich das Muhen der Kühe, das Blöken der Mastschafe, das Gackern der Hühner, das Geschnatter der Enten und das Geschrei der in den Ställen beschäftigten Knechte und Mägde.

Inmitten des Hofes stand, wie ein plumper riesiger Block, Herrn Wazes Wohnhaus. Der Unterbau war aus unbehauenen Felsbrocken gemauert und umschloß die Küche, die Pfisterei, die Falkenkammer, die Gesindestuben, den Keller und die Bußlöcher, von deren zweifelhafter Wohnlichkeit manches Bäuerlein im Gaden erzählen konnte. Der Oberbau, den ein steiles, vorspringendes Schindeldach bedeckte, war aus Balken gefügt. Eine hölzerne Freitreppe führte in eine Vorhalle; hier standen zwei lange Tische mit Holzbänken und dreibeinigen Stühlen; Jagdnetze, Schneereifen und eiserne Raubtierfallen hingen an der Wand, Saufedern und Grießbeile lehnten in den Ecken, und an den höheren Balken reihte sich eine Trophäe neben die andere: Eberköpfe, Bärenhäupter, Hirschgeweihe und Luchsköpfe. Von dieser Halle führten zwei niedere Türen in das Haus, und aus der einen klangen zwei Stimmen, rauh und zornig die eine, die andere scheu und stammelnd.

»Der Herr ist drin, geh nur hinein!« sagte der Knecht zu Sigenot.

Der Fischer trat über die Schwelle. Der Raum vor ihm, das war die Herrenstube in Wazemanns Haus; sie hatte vier Fenster, aber der Schliem, mit dem die Fensterrahmen überzogen waren, ließ vom späten Licht des Abends nur noch eine trübe Helle ein. Gebräunte Balken bildeten die Decke, von der an Ketten ein eiserner Reif mit aufgesteckten Hirschtalgkerzen herunterhing; darunter ein Tisch mit Stühlen. In einer Ecke der große Lehmofen; die von Geweihen starrenden Balkenwände waren rauh mit Mörtel beworfen und geweißt. Entlang der Mauer liefen Holzbänke, unterbrochen von Truhen und drei niederen Türen. Hier ein Sattelbock, dort ein Gestell mit Waffen und Jagdgerät, und dazwischen in der Wand ein alkovenartiger Ausbau mit dem Spanbett, auf dem Herr Waze die einsame Nachtruh zu halten pflegte, seit Frau Friderun, sein Eheweib, das Zeitliche auf blutigem Wege gesegnet hatte.

Heute schien die Stunde, in der sich Herr Waze nach Schlaf und Ruhe sehnte, noch lange nicht gekommen. Seine Stimme klang wie Bärengebrüll; mit beiden Fäusten hielt er den Bauer, der stotternd vor ihm stand, am Bart gefaßt, rüttelte und schüttelte ihn und schrie ihm ins Gesicht: »Dir will ich zeigen, wer dein Herr ist! Du sollst dir den Zinstag merken!« Mit der Faust holte er zum Schlag aus.

Da faßte Sigenot seinen Arm. »Herr! Lasset doch den Bauer aus! Ihr redet ein lützel grob. Wenn Ihr ihm das Hirn in die Ohren beutelt, wie soll er denn hören?«

Herr Waze ließ den Bauer fahren. Er hatte den Fischer erkannt und schien Ursache zu haben, seinen Zorn gewaltsam zu bezwingen. Die Säume seines langen Hausrockes über dem Leib zusammenschlagend, brummte er: »Du? So? Du bist da?«

Sigenot wandte sich an den Bauer, in dem er seinen Nachbar erkannte, den Marderecker. »Was hast du angestellt?«

»Der Lump und Gauchdieb!« schrie Herr Waze. »An Sonnwend hätt er zinsen sollen, und heut, im halben Augst, kommt er und heult, ich soll noch warten bis nach der Albenzeit.«

»Guter Herr, habet doch Einsicht!« stammelte der Bauer mit halberstickter Stimme. »Wie hätt ich käsen sollen? In sechs Wochen hat mir der Bär vier Geißen gerissen, meine besten Milchgeißen.«

»Freilich! Steiner frißt der Bär nit.«

»Aber ich kann doch aus Steiner auch kein Schmalz machen!«

»Schau den an!« schrie Herr Waze. »Spitzwörteln will er auch noch!« Und wieder wollte er mit beiden Fäusten zugreifen.

Sigenot trat dazwischen. »Lasset den Mann in Ruh, Herr! Der arme Hascher hat eh keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht. Und daheim bei ihm schaut's grausig aus. Eine Kuh ist ihm umgestanden, und sein Weib kann nimmer schaffen, die geht mit dem Kind.«

»Natürlich, mit der Zwielichtarbeit wird der Kerl noch allweil fertig. Da ist ihm die kürzeste Sommernacht noch lang genug. Am Tag, da liegt er auf der Faulhaut, und ich kann warten auf Zins und Steuer.« Herr Waze spuckte aus und griff nach der Metbitsche auf dem Tisch. Als er sie leer fand, klapperte er mit dem Deckel und schrie: »Ulla! Ulla!« Eine greise Magd erschien, um den Krug zu holen.

Inzwischen fragte Sigenot den Bauer: »Wieviel macht dein Zins?«

»Auf Sonnwend zwanzig süße Geißkäs.«

»Komm morgen zu mir! Ich red mit meiner Mutter.«

Der Bauer fand kein Wort des Dankes; nur seine Augen redeten. Herr Waze lachte: »Mach, daß du weiter kommst!« Ein Tritt, und der Marderecker brauchte die Türe nicht mehr zu suchen.

Die Magd brachte den Krug. »Steck die Kerzen an!« brummte Herr Waze und wandte sich wieder zum Fischer. »Deine Ferchen sind sauber gewesen. Was willst du haben dafür?«

»Stahlstiften könnt ich brauchen auf Angelhaken.«

»Die sollst du haben. Und meine Dirn hat einen Hirsch gehetzt. Von dem schick ich dir eine Keul.«

Sigenot schüttelte den Kopf. »Nit von dem! Ich hab ihn sterben sehen.«

Herr Waze stieß einen schmerzvollen Laut aus. »Die Leut sterben,« schrie er, »die Hund verrecken, aber der edle Hirsch verendet! Ein Fischer! Sollt ein halber Jäger sein, und kann nit einmal reden! Und grausen tut ihm vor Wildbret! Meintwegen!« Um seine Fassung wieder zu finden, griff er nach der Bitsche.

Auf dem Eisenring brannten die Kerzen, und ihr rötlicher Schein beleuchtete den Trinker. Der lange, aus Hirschleder genähte Hausrock umhüllte eine klobige, vom Alter schon etwas gebeugte Gestalt; ein grauer, langsträhniger Bart umrahmte das von Zeit und wüstem Leben zerstörte Gesicht; alles an diesen Zügen war welk und schlaff, doch die grauen Augen hatten noch Glanz und festen Blick. Dünnes Haar hing an den Schläfen und im Nacken; das Oberhaupt war kahl, doch über der Stirne sträubte sich ein vereinsamter Haarbusch, als hätte die Zeit ihn eigens verschont, damit ihn ein zausendes Schicksal doch endlich noch zu fassen bekäme.

Herr Waze hatte einen tiefen Zug getan und stellte die Bitsche nieder; mit einem Augenwink wies er die Magd aus der Stube. »So, Fischer, jetzt laß uns reden! Komm her!« Sie setzten sich, und Herr Waze schob seinem Gast die Bitsche hin.

»Mich dürstet nit.« Sigenot steckte seine Kappe hinter den Gürtel.

Herr Waze schielte den Fischer von der Seite an. »Meintwegen!« Dann legte er die Arme über den Tisch und spähte schweigend eine Weile in Sigenots Gesicht. »Also, jetzt red! Was meinst du dazu?«

»Wozu? Ich versteh nicht.«

»Hast sie doch auch schon gesehen heut!«

»Wen, Herr?«

»Die Kuttenlupfer! Bist du nit dazu gekommen, wie meine Dirn mit ihnen gehachelt hat.«

Langsam hob Sigenot die Augen. »Wohl!«

»Also! Jetzt red!«

»Was gehen mich die fremden Leut an?«

»Fremde Leut?« Herr Waze legte die unruhigen Hände um die Bitsche. »Wenn der Öberste von ihnen morgen kommt und sagt zu dir: ›Du, Fischer, jetzt bin ich der Herr im Gaden, und ihr seid Kirchenknecht, da gibt's keinen Unterschied, Fron und Zins und Steuer, alles gehört mir, mein ist der Wildbann und die Fischenz über Bach und See, her damit!‹ Was sagst du dann, Fischer?«

Sigenot lächelte. »Ich mein', ich find schon die richtig Red.«

»Hast recht! Und wenn dir die Wort ausgehen, red nur gleich mit der Faust! Bei dir gibt's aus. Wo du hinhaust, wachst sieben Jahr kein Gras nimmer. Und ich, Fischer, ich halt zu dir! Dich hab ich gern. Du bist der einzige im Gaden, den ich stehen hab lassen wie Herr neben Herr. Nie hab ich mit einem Finger an dein Recht gerührt.«

»Das hat einen guten Grund gehabt.«

Herr Waze zog die Brauen hoch. »Wie meinst du das?«

»Ich mein', es wär schiech ausgegangen. Kann sein, für mich, für Euch aber auch! Wenn ein Baum fallt, Herr, gibt's Trümmer.«

Herr Waze machte zu dieser Rede einen bösen Kopf. Doch er lachte, griff nach der Bitsche, tat einen tiefen Zug, klappte den Deckel zu und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Schau, Fischer, das gefallt mir, daß du so redest. Wer was ist, den laß ich gelten. Und drum halt ich zu dir.«

»Ich brauch keinen Helfer.«

»So? Du bist noch nie hinausgekommen aus dem Gaden. Aber ich, Fischer, ich weiß, wie sie's machen!« Mit hohler Hand strich Herr Waze über die Tischplatte, als lägen goldene Schätze vor ihm, die er einstreichen möchte in seinen Schoß. »Beim Kleinen fangen sie an, schön langsam, und allweil schneller geht's, und beim Großen hören sie auf. Mit Gotteslieb und Himmelsgnad aißen sie die Gruben an, und was hereinfallt, kommt in den Klostersack. Der hat kein Loch. Was da drin ist, das bleibt!«

Sigenot lächelte wieder.

»Warum lachst du?« brummte Herr Waze, während draußen der erste brausende Windstoß um das Haus fuhr.

»Der Ramsauer Pfarrherr ist mir eingefallen, der alte Hiltischalk. Der hat mich als Bub getauft und ist der einzig, den ich kenn. Wenn die vier, die heut gekommen sind, dem Ramsauer nachgeraten, könnt man allweil hausen mit ihnen. Vom Ramsauer hab ich noch nie gehört, daß er was eingestrichen hat in seinen Sack. Ich hör nur allweil, daß er gibt, das letzte Haftl und das letzte Hemd. Und Herz und Leib dazu!«

Herr Waze hatte regungslos dagesessen, mit funkelnden Augen. Jetzt sprang er auf und warf den Stuhl beiseite. »Hol ihn der Teufel, den er predigt! Grad der ist von den Ärgsten einer! Der weiß, wie man's machen muß, daß die Roß nach dem Reiter schlagen. Die ganzen Leut in der Ramsau hat er verdorben in Grund und Boden. Da steht jetzt einer neben dem andern wie Stein bei Stein in der Mauer.«

Sigenot erhob sich. »Herr Waze, das hat ein anderer fertiggebracht als der Ramsauer Pfarrherr.«

Der zweite Windstoß rauschte um das Haus, daß alles Gebälk erzitterte; an einem der Fenster riß der dünne Schliem, ein zischender Luftstrom fuhr in die Stube und machte die Kerzen flackern. Mit zorniger Faust stieß Herr Waze den Laden vor. »Und jetzt,« so schrie er, »jetzt will sich gleich ein ganzes Binkel festsetzen im Gaden. Und eine Klaus wollen sie bauen, und aus der hölzernen Klause soll ein steinernes Kloster wachsen mit Mauer und Türm. Und wie man der Sau das Blut ablaßt, so soll ich Stückl um Stückl herlassen, was ich hab in meiner Faust. Die sollen den Waze kennenlernen! Wenn ich nur wüßt, wer hinter ihnen steht! Ob der Salzburger? Oder gar noch ein Stärkerer, der mir ans Fleisch kann? Wenn ich nur das wüßt! Dann möcht ich ihnen morgen ein Wörtl sagen, daß ihnen die Zung in den Hals fallt! Aber so –« Herr Waze schluckte und griff mit den Fäusten an die Brust.

Sigenot stand schweigend, mit ernstem Blick. Keuchend trat Herr Waze an den Tisch und hob den Krug. Und schnitt ein Gesicht, als wär' ihm die Zunge bitter geworden. »Was nur das wieder für ein Gesüff ist! Den Met hat der Schönauer gesteuert und hat mir mit Fleiß den Honig verdorben!«

»Nein, Herr!« sagte der Fischer. »So was tut der Schönauer nit. Aber wenn einer zu oft in den Immstock greifen muß und mehr vom Stock verlangt, als er geben kann, so sind die Immen bald nimmer heikel im Blumensuchen und heimsen auch auf Giftblumen. Das merkt man im Met. Obenauf schmeckt er süß, der Satz wird bitter.«

Herr Waze roch an der offenen Bitsche, stieß den Krug von sich und schrie: »Was mich am meisten ärgert, ich selber bin schuld, daß ich die Schermäus jetzt im Land hab! Vor langer Zeit einmal, da sind der Sulzbacher und seine Gräfin auf den Einfall gekommen, sie möchten Nachschau halten im Gaden. Ohne Troß und Knecht sind sie draußen weggeritten von der Herrenburg. Unterm Lokistein, wo der Goldenbach in die Ache fließt, sind sie in die Irr geraten. Da haben sie aus dem Sattel steigen müssen und zu Fuß weiter suchen. Auf einmal bricht unter ihnen die Erd ein, und halb verschüttet sind sie in der brunnentiefen Grub gelegen, zwei Tag und eine Nacht. Und da muß mich mein Unstern dazuführen!« Herr Waze lachte zornig auf.

»Unstern?« Sigenot furchte die Brauen. »Es sind doch Menschen in der Not gewesen, und Eure Herrenleut dazu!«

»Paß nur auf, was weiter kommt!« schrie Herr Waze. »Auf der Sauhatz hab ich die ledigen Gäul gefunden, hab vom Sattelzeug richtig auf die Reiter geraten und hab mich mit meinen Leuten ans Suchen gemacht. Und finden hab ich sie müssen! Und hab noch eine Freud gehabt, weil ich gemeint hab: jetzt, wo mir der Graf und die Gräfin ihr Leben danken, hätt ich einen rechten Stein im Brett. Und weißt, was geschehen ist?« Mit beiden Händen faßte Herr Waze den Fischer am Wams. »Wie der Graf und die Gräfin wieder daheim waren, hat der Burgpfaff angefangen, der Frau Adelheid ins Ohr zu reden: ihr Unglück und die Rettung wär ein Vermerk von Gott gewesen, daß Frau Adelheid das alte Gelübd ihrer Mutter erfüllen müßt und den Berchtesgaden hingeben an die Kirch!« Herr Waze schlug die Fäuste auf den Tisch. »Und wie schon allweil die höchste Nummer fällt, wenn die Pfaffen ihre Knöchel werfen, so hat's nit lang gedauert, da kommt das Siechtum über Frau Adelheid, und auf dem Totenschragen hat sie den Eid getan, und zwölf Edelleut haben mitschwören müssen, daß der Berchtesgaden an das Kloster fallt!«

Sigenot zog die Kappe aus dem Gürtel. »So wär das richtig und wahr? Die Schenkung ist beschworen und getan?«

»Ja, ja, ja! Und das ist der Dank, den ich hab! Was sagst du, Fischer?«

»So muß ich sagen, daß die Leut ein Recht haben, wenn sie kommen, und daß sie die Herren im Gaden sind.«

»Was Herr? Wer Herr?« klang die kreischende Antwort. »Ich bin der Spisar im Gaden und bin nit gefragt worden, ich hab der Schenkung nit zugestimmt, und ich tu's auch nimmer!«

»Wer hätt Euch fragen müssen? Wenn ich mein Haus verschenken will, muß ich da mein Gesind erst fragen?«

Herrn Wazes Augen erweiterten sich, und ein Zittern befiel seine Knie. Er lachte heiser. Mit zuckenden Fäusten zog er die Rocksäume über der Brust zusammen und schritt in der Stube auf und nieder. Draußen kam der Sturm gezogen. Es pfiff und heulte durch das Haus, dumpf rauschten die Wipfel der Bäume, man hörte das Krachen brechender Äste, das Geklapper fallender Schindeln, und in weiter Ferne rollte der erste Donner. Unter diesem Dröhnen blieb Herr Waze vor Sigenot stehen, mit funkelnden Augen und fahlem Gesicht. »Fischer! Da steh ich vor dir. Draußen beim Lokistein liegen die Klosterleut. Zu wem willst du halten?«

»Warum eine solche Frag, Herr? Ich bin nur einer. Kommt's auf einen an?«

»Du gehst für hundert. An dir hängen die Leut im Gaden, wie die Schaf am Salz. Zu wem willst du halten?«

»Fürs erste halt ich zu mir selber. Wenn mich noch ein anderer braucht, so muß das einer sein, bei dem ich das Recht seh.«

Langsam trat Herr Waze von Sigenot zurück und maß ihn mit stechendem Blick. »Fischer! Besinn dich! Da steh ich vor dir, und da draußen sind die andern. Schau fest hin! Auf welcher Seit –«

»Ich seh nur Euch, Herr!« unterbrach ihn Sigenot mit ruhigem Wort. »Daß ich mir die andern anschau, dazu brauch ich Zeit!«

Wazemanns Augen blitzten, und ein tückisches Lächeln verzerrte seinen Mund. »So haben wir ausgeredet miteinander. Für heut!«

»Wohl, Herr! Und somit gute Nacht!« Sigenot schritt der Türe zu.

Als er im Dunkel der Vorhalle verschwunden war, eilte Wazemann zu einer der beiden Türen, die in das Innere des Hauses führten, riß sie auf und tat einen leisen Pfiff. Ein Knecht kam gesprungen: »Herr?« Wazemann besann sich; dann schüttelte er den Kopf und drückte die Türe wieder zu. Er ging zum Tisch zurück; und da sah er betroffen auf. Sigenot stand auf der Schwelle. »Hast du dich besonnen, Fischer?«

»Herr,« sagte Sigenot, »draußen geht ein schieches Wetter los, und Eure Tochter ist außer Haus.«

Herr Waze machte ein verblüfftes Gesicht. »Was geht meine Dirn dich an? Die wird wissen, wo sie bleibt!« Damit drehte er dem Fischer den Rücken. Sigenot stand noch eine Weile; dann warf er einen Blick durch die Stube und ging.

Wazemann schielte ihm nach und lächelte. »Geh, Fischer! Du gehst deinem Vater nach.«

Graues Dunkel lag schon über dem Hof, als Sigenot aus der Vorhalle niederstieg. Jagendes Gewölk bedeckte den Himmel. An dem Pförtlein über dem Felsensteig wartete der Knecht, der den Fischer ins Haus geführt hatte. »Willst du heimzu nit lieber den Reitweg nehmen?« fragte er.

Sigenot schüttelte den Kopf. »Ich geh hinunter, wo ich herauf bin.«

»Der Sturm blast bös an die Wand hin.«

»Mich wirft er nit. Mach auf!«

Der Knecht öffnete die kleine Pforte, und Sigenot betrat den steilen und dunklen Weg.

Von der Bergseite der Mauer ließ sich wirrer Stimmenlärm vernehmen. Wazemanns Söhne kehrten von der Jagd zurück. Das Gesinde lief zusammen, und zwei Knechte kamen mit Windfackeln, deren rußende, vom Sturm gepeitschte Flammen den Burghof mit rötlichem Schein erfüllten. Zwei Jägerknechte, die mit heimkehrten, trugen ein schweres Stück Fahlwild an einer Stange. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig, die ältesten von Wazemanns Söhnen, warfen die Gemsböcke nieder, mit denen ihre Rücken beladen waren. Eilbert trug die Stahlbogen und Köcher der älteren Brüder. Gerold und Otloh, die beiden jüngsten, führten in ihrer Mitte einen Buben, dem die Hände auf den Rücken gebunden waren. Sie alle trugen, mit geringem Unterschied, das gleiche Gewand: die Marderkappe mit der Adlerfeder, das Lederwams, die kurze Berghose und am Gürtel den Wildfänger. Rauhe, verwegene Gestalten, denen das wilde zügellose Leben, das sie führten, aus Gesicht und Augen blickte.

Geschrei und Hundegeheul erfüllte den Hof und übertäubte das Schluchzen des gefesselten Buben, der sich kaum mehr aufrecht zu erhalten vermochte. Herr Waze kam von der Vorhalle herabgestiegen, und während ihm der Sturm den Bart zauste und den Hausrock um den Körper peitschte, musterte er beim Schein der Fackeln das erlegte Wild. Der erste Gemsbock schien ihm zu gefallen. »Der hat den Schuß auf dem rechten Fleck. Wer hat den Schuß getan?«

»Ich!« sagte Rimiger. »In voller Flucht ist mir der Bock gekommen und ist hergesaust durch die Latschen. Grad noch hab ich ein Gässel durch die Stauden gefunden, hab die Sehn klingen lassen, und wie vom Blitz erschlagen hat's ihn hingehaut.«

»Bub, du hast was gelernt von mir!«

Beim zweiten und dritten Gemsbock nickte Herr Waze nur. Jetzt sah er das Fahlwild, und dunkle Zornröte schoß ihm ins Gesicht. »Höll und Pest! Wer hat mir das getan! Das ist eine Geiß!«

»Ich kann nichts dafür, Vater!« stotterte Eilbert. »Der Nebel ist eingefallen. Da hat mir das Stück stärker geschienen, und ich hab gemeint, es wär ein Bock.«

»Gemeint hast du, so, gemeint?« schrie Herr Waze. »Ein Jäger soll nit meinen, ein Jäger muß wissen! Wo sollen die Böck herkommen, wenn mir so ein Schinder wie du, die Geißen wirft? Da hast du einen Merk.« Ein klatschender Schlag fiel auf Eilberts Wange. Alle andern lachten; Eilbert erbleichte, schoß einen funkelnden Blick auf den Vater und ging wortlos ins Haus.

Da gewahrte Herr Waze den gefesselten Buben. »Was soll's mit dem?«

»Rühr dich, du!« schrie Otloh und versetzte dem Buben einen Stoß ins Genick, daß er vor Wazemanns Füße taumelte.

Wieder lachten alle, während der Bub sich stöhnend aufrichtete. Er mochte kaum fünfzehn Jahre zählen; sein ganzes Gewand war ein alter Sack, der mit einer Weidenrute um die Hüfte gebunden war und drei Löcher für den Kopf und die Arme hatte; das Gesicht war leichenfahl, die Lippen bluteten, und die vor Angst und Erschöpfung schlaffen Wangen waren von Zähren überronnen.

»Was hat der Bub getan?« fragte Herr Waze. Und Gerold sagte: »Unter der Eismannwand, mitten im besten Wildbogen, ist er uns in die Händ gelaufen.«

Wazemanns Brauen zogen sich zusammen. »Was hast du auf dem Eismann zu schaffen, du Rabenaas?

»Ach, Herre, Herre,« schluchzte der Bub, an allen Gliedern zitternd, »ich hab nur meine Geißen gehütet, hinter dem Eismann drüben, bei der Ödhütt. Und da haben sich zwei verstiegen. Die hab ich suchen müssen.«

»Weißt du nit, daß der Eismann mein Bannberg ist, auf den mir keiner steigen soll, bei Leib und Leben?«

Der Bub rührte die Lippen, aber es wollte kein Wort mehr von seiner Zunge.

Herr Waze winkte einen Knecht herbei. »Pack ihn! Hinunter mit ihm ins Bußloch! Und daß ihm für ein andermal die Lust vergeht, auf meinem Bannberg herumzustreunen, stich ihm über den Fersen die Flachsen ab!«

»Herre, Herre! Habet Barmherzigkeit, ich tu es nimmer, nimmer, nimmer!« schrie der Bub in herzzerreißendem Jammer. Der Knecht packte ihn, riß ihn mit sich fort, und hinter den dicken Mauern des Unterbaues erstickte das Geschrei des Knaben.

Herr Waze stieg zur Vorhalle hinauf; er mußte auf der Treppe das Geländer fassen, mit so ungestümer Macht fuhr der Sturmwind auf ihn ein. Aus der Halle rief er herunter: »Schauet, daß ihr bald hereinkommt in die Stub! Ich hab mit euch zu reden.«

Gerold und Otloh folgten ihm. »Was meinst du, daß er hat?« fragte Gerold den Bruder.

»Was er hat? Schiech Wetter unter dem Hirndach!«

Hinter den beiden stiegen Rimiger und Hartwig die Treppe hinauf. Sindel, der mit Henning noch bei den Gemsböcken stand, fragte den Bruder mit halblauter Stimme: »Meinst du nit, der Vater hat's mit dem Eilbert ein lützel zu grob gemacht? Was ein Vater darf, hat seine Grenz, und der Bub ist ein ausgewachsener Mensch.«

»Die Maulschell hat ihm gehört! Warum wirft er eine Geiß!«

»Er muß blind gewesen sein, oder er hat schon wieder eine Dirn im Kopf. Das macht ihn wirblig, wie der Drehwurm die Gems. Ich mein', er hat's auf die Fischerdirn abgesehen.«

Henning hob langsam das Gesicht. »Auf das Rötli? Da wird ihm der Schnabel sauer bleiben.«

»Warum?«

»Das hat seinen Grund!«

Sindel lachte. »Deinen Grund kann ich mir denken.«

Sie gingen der Treppe zu. Da fragte einer der Knechte, die mit dem erlegten Wild beschäftigt waren, den an seiner Seite Schaffenden: »Wer ist der Bub, der da drin gebüßt wird? Kennst du ihn?«

»Huze heißt er und ist dem Schapbacher hörig, dem er die Geißen hütet. Seine Mutter ist die Heilka gewesen, die Sennin, die sich den Tod in der Windach geholt hat.«

Sindel blieb auf der Treppe stehen und stieß den Bruder mit dem Ellbogen an. »Hast du gehört? Die Heilka ist seine Mutter gewesen.«

»Laß mich in Ruh!« brummte Henning.

»Du solltest den Buben laufen lassen!«

»Was geht der Bub mich an?« Ein tobender Windstoß. Henning und Sindel traten in die Herrenstube, in der ihre Brüder schon um den Tisch saßen.

»Jetzt sind wir da, Vater!« sagte Hartwig. »Aber wo ist die Schwester?«

»Gut, daß sie fort ist. Sie braucht nit zu hören, was ich mit euch zu reden hab.« Herr Waze trat an den Tisch und stemmte die Fäuste auf. »Wißt ihr schon die neueste Botschaft?«

»Heraus damit!« lachte Rimiger.

»Gleich wirst du nimmer lachen! Wir haben Gäst im Gaden. Die weißen Schermäus sind gekommen. Draußen beim Goldenbach, unterm Lokistein, haben sie die Zelt geschlagen.«

Um den Tisch war lautlose Stille, nur einen Augenblick, dann sprang Henning auf, und sein Faustschlag dröhnte auf der Tischplatte. »Mein Roß her! Das gibt noch eine lustige Hatz auf die Nacht! Die Kutten sollen mir laufen, daß der Wind, der draußen wettert, zurückbleibt hinter ihnen!«

Die Brüder sprangen auf, die Stühle kollerten, und wirres Geschrei erfüllte die Stube. Hennings Wort hatte die Meinung aller getroffen. Wie die Wespen aus einem Nest, in das der Fuchs gegriffen, so stoben sie auseinander.

»Ihr Narren! Bleibt!« überschrie Herr Waze den Lärm. Ringsum an den Türen blieben sie stehen und schauten den Vater an. »Her wieder an den Tisch!«

»Vater! Was soll das?« rief Rimiger. »Oder willst du uns die Hand binden, wo der Schlag am besten ausgibt, wenn er gleich fällt?«

»Her an den Tisch!« befahl Herr Waze und seine Stirne wurde rot. Zögernd kamen sie und nahmen ihre Plätze wieder ein. »Und jetzt haltet die Mäuler! Keiner soll mir dazwischen reden!« Herr Waze atmete tief und warf sich auf einen Stuhl. »Gekommen sind sie. Und fort müssen sie auch wieder. Aber wie? Mit Gewalt geht's nit, das hab ich mir lang gesagt. Sie haben die Kutten an, und wer hinrührt an den geweihten Rock, der könnt sich bös die Händ verbrennen. Das Mittel, das euch taugen möcht, wär von allen das schlechteste. Schlagt die Viere nieder, und Zehne wachsen nach. Schlagt die Zehne nieder, und Zwanzig stehen auf. Nein, Buben, mit dem Schlagen und Jagen geht's nit. Von selber müssen sie wieder gehen.«

»Wenn sie nur mögen!« lachte Henning.

»Daß sie mögen, das laß du meine Sorg sein! Ich hab zwei gute Helfer: Hunger und Winter. Euch brauch ich dabei! Drum hat's von morgen an ein End mit dem Gejaid einen Tag um den andern. Drei von euch mögen hetzen und jagen wie allweil. Viere bleiben all Tag daheim. Henning, Sindel, Rimiger und Hartwig, ihr macht für morgen den Anfang. Vor Tag wird gesattelt, und ihr reitet hinaus –« Zwei Mägde traten ein, um den Tisch für das Nachtmahl zu bestellen. Herr Waze verstummte und gab seinen Söhnen einen Wink, zu schweigen. Er trat unter die offene Tür der Vorhalle und blickte hinaus in das Stürmen und Toben der sinkenden Nacht. »Henning!« rief er und schritt langsam in die Halle hinaus.

Der Älteste folgte ihm. »Vater?«

»Was meinst du, wer wird der erste sein, der's mit denen da draußen hält?«

»Ich leg meine Hand dafür ins Feuer: der Fischer!«

Herr Waze nickte schweigend.

»Vater! Hast du schon einen Beweis dafür?«

»Ich hab geredet mit ihm.«

Henning lachte. »Das ist der Dank dafür, daß du allweil die Hand über ihn gehalten hast.«

»Damit hat's ein End!« Herr Waze wollte die Vorhalle verlassen.

Der Sohn faßte ihn am Arm. »Wie soll das gemeint sein?«

»Wenn du's nit verstanden hast, so horch ein andermal besser auf!« Herr Waze löste seinen Arm und trat in die Stube.

Henning blickte durch die rauschenden Bäume hinunter auf das vom Sturm umtobte Fischerhaus. Er lachte und hob die Faust.

Ein greller Blitz zuckte über die Wolken hin, und dumpfer Donner füllte das weite Bergtal.


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