Ludwig Ganghofer
Die Martinsklause
Ludwig Ganghofer

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2

In der Morgenstille kam Recka durch den Untersteiner Forst geritten. Ihr Rappe suchte den Heimweg, wie er wollte. Die Reiterin blickte aus ihrem Sinnen erst auf, als das Pferd aus dem Walde hinaustrat auf die Seelände. Beim Anblick des Fischerhauses wollte sie wenden, ließ aber die Zügel wieder sinken. »Fürcht ich mich schon vor ihm?« Zornig auflachend, stieß sie dem Pferde den Stachel in die Flanke, daß es hinjagte über den Sand.

Edelrot, die mit Hilmtrud auf der Hausbank saß, gewahrte die Wazemannstochter. »Recka!« rief sie und eilte zum Hagtor. Als sie auf die Lände trat, war die Reiterin schon im Uferwald verschwunden. »Recka!« Edelrot lief der Ache zu; auf der Brücke holte sie die Wazemannstochter ein. »Recka? Kennst du deine Gesellin nimmer?«

Recka verhielt das Pferd und sah mit halbgeschlossenen Augen auf das Mädchen nieder. »Wer bist du?«

»Aber Recka! Ich bin's! Deine Treugesellin!«

»Du bist deines Bruders Schwester, mehr weiß ich nit von dir!«

Erblassend trat Edelrot zurück und streifte den Goldring, den sie von Recka empfangen, von ihrem Finger. »Wenn du um meines Bruders willen mich nimmer kennen magst, so nimm auch den Reif wieder, den du mir gegeben hast.« Sie legte den Ring in Reckas Hand. »Tu, wie du magst, lös deine Treu von mir, die meine soll dir bleiben, solang ich leb.«

Schritte klangen im Wald. Sigenot kam unter den Bäumen hervorgesprungen und faßte die Hand der Schwester. »Wie hast du vergessen können, was ich dich geheißen hab? Du sollst nit weilen außer Tor. Winter liegt her um unseren Hag, und die Wölf gehen um.«

»Aber so schau doch,« flüsterte Edelrot, »ich bin nit allein.«

»Ich seh nur dich.«

Da lachte Recka; sie senkte die Hand, der Ring kollerte über ihren Schoß, fiel nieder und verschwand im schießenden Wasser der Ache. Rötli hatte das Kleinod noch haschen wollen; aber Sigenot hielt die Schwester fest und führte sie mit sich fort.

Recka jagte über den Reitweg empor, daß ihr Rappe zu schäumen begann. Ihr Gesicht war wie versteinert. Als sie das Tor erreichte, hörte sie aus dem Burghof lautes Johlen und schallendes Gelächter. »Sie lachen, und ich möchte schreien vor Schmerz und Zorn!« Den Rappen wendend, nahm sie den Weg wieder talwärts. Hinter ihr schallte das heitere Geschrei, über das sich eine kreischende Stimme hinaushob.

Im Burghof, zwischen Wazemanns Knechten und Mägden, stand Bruder Wampo, der gekommen war, um Eberweins Weisung zu erfüllen und Herrn Waze mit seinem Sohne Henning vor den Richtersitz im Lokiwald zu laden. Unter dem höhnenden Gelächter, das ihn umringte, wickelte er den Rosenkranz um die Linke und zog gleich einem Schwerte das hölzerne Kreuzlein aus dem Gürtel. »So, Jetzt kommet nur an, jetzt bin ich gewappnet!« Er trat den Lachenden entgegen. Bei der Frage nach Herrn Waze schwankte seine Stimme ein bißchen. Kaum aber hörte er, daß Herr Waze mit seinen Söhnen ins Gejaid gezogen wäre, da richtete er das runde Köpfl auf, und es wuchs ihm der Mut. Mit hohen Worten verkündete er die Wichtigkeit seiner Sendung. »Und ich rat euch, erweiset mir alle Freundlichkeit, auf daß ihr eurem Herrn einen guten Fürsprech an mir gewinnet! Er kann ihn brauchen. Sonst möcht ihn das Grausen ankommen vor dem Gericht, das ihn erwartet.« Die Mägde nahmen diese Rede mit Verblüffung auf, die Knechte mit Geschrei. »Was sperret ihr die Mäuler auf?« rief Bruder Wampo würdevoll. »Führet mich in das Haus, daß ich euern Herrn in Ruh erwarte! Und führet mich in die beste Stub, darin das Tischl gedeckt ist und der Krug gefüllt, wie es einem fürnehmen Gaste zukommt.«

Unter dem Gelächter der anderen warf sich eine Magd auf die Knie. »So fürnehmen Herrn muß man grüßen mit Fingerkuß!«

Freundlich blickte der Bruder auf sie nieder und reichte ihr die Hand. »Deine Demut soll dir vergolten werden mit reichem Lohn!« Als aber die Magd nicht seine Hand, sondern die eigene küßte und lachend aufsprang, rief er zornig: »Wartet nur, es soll euch die Lust vergehen, Gespött zu treiben mit einem frommen Mann. Ich sag euch zum letztenmal: führet mich ins Haus! Ich bin nur ein bescheidener Gottesknecht, und für mich selber möcht ich keinen Tropfen und kein Bröselein begehren. Aber ich bin gekommen an meines Herren Statt, und seinetwegen will ich kein Härlein von der Ehr vermissen, die ihm zukommt. Gebet Gott, was Gottes ist, oder es könnt geschehen, daß der Teufel an euch sein Recht begehrt.«

Die Mägde lachten, die Knechte wurden grob, und einer schrie: »So führet ihn doch zum Mahl, es ist schon aufgetragen.« Er faßte Wampos Arm, zerrte den Verblüfften gegen die Mauer und öffnete vor ihm die Tür des Schweinestalls. »So! Fang an! Und tummel dich, daß du nit zu kurz kommst.«

Es fehlte nicht viel, daß Bruder Wampo in seinem Zorn dem Knecht das Kreuz auf den Kopf geschlagen hätte; doch ehe sein Arm herunterfiel, besann er sich. Unter dem Gelächter, das ihn umgab, küßte er das Kreuz, verbarg es mit dem Rosenkranz unter der Kutte und hob die Augen zum Himmel. »Tu mir nit zürnen, Allgütiger, weil ich deine heiligen Zeichen an einen solchen Ort getragen hab!« Dann ballte er die Fäuste, und kreischend hob sich seine Stimme: »Nur her auf mich! Meint ihr, daß ich mich fürcht vor euch? Ihr Unfläter, ihr Stallbrüder von denen da drinnen! Ich will keinen Schrei wider euch zum Himmel tun. Gottes Hand ist mir zu heilig, als daß ich sie anrufen möcht zur Hilf gegen euch. Ihr Teufelsbraten! Euch wird eine Schüssel aufgetragen werden mit einer brenzligen Supp, von der ein übler Geruch ausgeht und ein heißer Dampf.«

Die Prophezeiung trug dem Bruder einen Puff ein, der ihn wanken machte, nicht schweigen. Wie ein mutiger Jagdhund biß er um sich mit den scharfen Worten seines Grimmes. Die Adern schwollen ihm an Hals und Schläfen, und der Schweiß rann ihm über den Kahlkopf. Jedes saftige Schmähwort, das sie ihm zuschrien, jeder Stoß, der ihm an die Rippen fuhr, mehrte noch seine Tapferkeit. »Schimpfet nur und schlaget mich, es kommt schon die zahlende Stund! Wie der Sturmwind über das Traidfeld, wird der Teufel herfahren über eure Köpf. Es hat schon gerumpelt heut nacht. Da hat er sein Schürhakl aus dem Feuer gerissen. Aber wartet nur, wenn er ausfahrt aus dem Berg, mit glühenden Hörnern und feuriger Zung, da wird es heißen von euch, wie beim Propheten Ezechiel: nicht viele werden entkommen, in den Schlupfen der Berge werden sie sich verkriechen, Furcht wird sie umhüllen, Angst wird auf ihren Gesichtern sein und Glatze auf ihren Köpfen!«

Die Stelle war unvorsichtig gewählt, Bruder Wampo hatte der eigenen Glatze vergessen. Da gab es böse Scherze zur Antwort, und das kahle Köpfl des Mönches hatte viel Bitteres zu leiden. Seine Stimme, ob sie auch schmetterte wie eine Trompete, ging unter in dem Höllenlärm, der ihn umringte. Das Geschrei im Hofe hatte auch alle Stimmen in den Ställen geweckt. Die Hunde im Zwinger kläfften wie toll, im Käfig brummte der Bär, und der Wolf saß auf den Hinterbeinen und heulte geradauf in die Luft.

Man spielte dem Bruder so übel mit, daß in einer Magd das Erbarmen erwachte; sie riß ihn aus dem Knäuel und lachte: »Laßt ihn doch endlich in Ruh! Schauet ihn nur an, wie er schwitzt!«

»Jawohl, ich schwitze,« schrie Bruder Wampo atemlos, »und jedes Tröpfl, das ich vergieß, ist eine Ehr für mich. Mir geht's wie dem schwitzenden Philosophen, dem eines Tages ein Freund begegnet ist. ›Warum schwitzest du?‹ hat ihn der Freund gefragt. Und der Philosoph hat erwidert: ›Weil ich mich herumgeschlagen hab mit Unflätern und Dummköpfen!‹«

Viele Hände griffen nach ihm, und da der Bruder merkte, daß die Reise vor die Mauer begänne, rief er mit kreischender Stimme: »Nur zu, nur zu! Ich bitt euch, gebet mir nur einen festen Schwung. Mein Wohltäter ist jeder, der mich hinauswirft aus einem solchen Haus. Eurem schiechen Wirt aber saget, daß er geladen ist vor Gericht, zwischen heut und dem dritten Tag! Stehen soll er vor meinem Herrn wie das Wölflein vor dem Löwen! Merken soll er, daß von meinem Herrn das Wort des Jesaias gilt: Gott hat ihn gerufen zur Gerechtigkeit, er führt ihn an der Hand und setzet ihn zum Licht –«

Bruder Wampo fand nicht Zeit, die Worte des Propheten zu vollenden; seine Bitte, ihm einen festen Schwung zu geben, wurde flink erfüllt. Aber nicht das Falltor hatten sie für ihn geöffnet, sondern die schmale Pforte über dem Felsensteig. Da war es ein Glück, daß Bruder Wampos Bäuchlein in dem Türloch einen harten Durchlaß fand, dessen Reibung die Kraft des Schwunges linderte. Sonst wär' es ihm kaum gelungen, mit den Händen das Seil zu haschen, das an der steilen Felswand befestigt war. Ein Schwindel befiel ihn fast, als er von der knappen Stufe niederblickte in die Seetiefe. Und doch verließ ihn der Mut nicht. »Bin ich denen da drin entronnen, so komm ich wohl auch noch heil da hinunter.« Unter einem Stoßgebetlein begann er den Abstieg. Das war für ihn ein doppelt bedenklicher Weg, denn die Stufen waren schmäler als die Breite seines Leibes, und er mußte sich krampfhaft an die Felswand drücken, um das Übergewicht seines irdischen Teils nach Möglichkeit zu mindern. Während er sich von Stufe zu Stufe tastete, klang über ihm das Geschrei der Wazemannsleute, deren Köpfe auf der Mauer erschienen waren. Es regnete üble Scherzworte auf ihn nieder und auch sonst noch mancherlei Dinge, für deren nähere Betrachtung dem Bruder auf seinem bösen Wege keine Zeit verblieb.

Als er glücklich den Waldgrund erreichte, schüttelte er den Unrat von sich ab, den sie von der Mauer auf ihn niedergeworfen. »So ein Teufelsnest!« schalt er und hob die geballten Fäuste gegen Wazemanns Haus. Dem Pfad folgend, gelangte er zum See, der ihn so kühl und verlockend anblickte, daß der nach Erfrischung Lechzende nicht zu widerstehen vermochte. »Kalt wird's sein, aber gut!« Ein Busch, in dem er sich entkleiden konnte, war bald gefunden. Als er mit Armen und Schultern aus der Kutte schlüpfte, machte er sorgenvolle Augen zu seinem eigenen Anblick. »Fein haben sie mich zugerichtet! Ausschauen tu ich wie ein Ferch: blau und grün, mit roten Tupfen!«

Er sprang ins Wasser, vor Kälte prustend und mit den Zähnen schnatternd. Wie ein Fisch, der an der Angel zappelt, schlug er um sich, und dabei wurde ihm warm, so daß ihm das Bad behagte. Nicht weit vom Ufer sah er die stille Insel. Auf dem Rücken liegend, schwamm er dem Röhricht entgegen, und wenn ihm Wasser in den Mund geriet, blies er die Backen auf und spritzte ein dünnes Brünnlein in die Höhe. Als er die Insel erreichte und zwischen dem Schilf umherwatete im weichen, warmen Schlamm, hörte er auf dem jenseitigen Waldhang die Stimme eines Burschen klingen.

Fröhlich hallte das Almenlied im Wald, und die Jodelrufe weckten das Echo an der Falkenwand.

Edelrot erschien in der Tür des Fischerhauses. »Der Ruedlieb!« Noch konnte sie den Heimkehrenden nicht gewahren, hörte nur sein klingendes Lied, das ihr sagen wollte: »Hab acht, ich komm!«

Es zog sie zum Tor, aber sie dachte der Mahnung ihres Bruders. Der war mit den Knechten, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Haus und zimmerte an den Pfählen, mit denen er den Hag zu höhen und das Tor zu festigen gedachte. Edelrot wollte ihn suchen und lief am Haus entlang. Da hörte sie, daß das Lied des Buben jäh verstummte, wie entzweigerissen von einem Schreck. In Sorge eilte sie zum Tor hinunter; kaum gelang es ihr, den schweren Sperrbalken aus der eisernen Öse zu heben. Als sie den Torflügel aufstieß, hörte sie den Buben schon über die Lände herspringen, mit keuchendem Atem.

Nun stand er vor ihr, verstört und blaß, ohne Hut, ohne Grießbeil, und umklammerte ihre Hände: »Rötli? Ist das wahr, daß einer sterben muß, der den Bid gesehen hat?«

»Ihr guten Mächt! Ruedlieb!« Sie wollte den Namen des Bruders schreien. Aber der Bub drückte die Hand auf ihren Mund: »Tu nit rufen! Wer's ausredet, der macht's noch ärger.«

Dann saßen sie auf dem Lugaus aneinandergelehnt, mit verschlungenen Händen. Sonnenlichter spielten um sie her, und im Laub der Eichen raunte der sachte Wind. Gesund und grün stand Edelrots Bäumchen; es war an ihm kein Blatt noch welk geworden, während an Sigenots krankendem Jahrbaum alle Blätter lechzend hingen wie nach langer Dürre.

Schwer atmend sah Edelrot hinaus über den stillen, schimmernden See, in dem die kleine Insel lag, umgeben von blaugrünem, unbewegtem Röhricht. Diese Ruhe berührte sie wie Trost. »Gelt, nein?« lispelte sie. »Gelt, du hast ihn nit gesehen?«

Scheu blickte Ruedlieb um sich und flüsterte: »Durch den Seewald bin ich hergestiegen und hab gesungen in meiner Freud. Denn weißt du, in der Nacht, wie die Erd gebidmet hat und die Steinlahnen sind niedergegangen über alle Wand, da hab ich nur allweil an dich denken müssen. Drum ist mir leicht ums Herz worden, wie nach der schiechen Nacht ein so stiller Tag aufgestanden ist und der Vater mir sagen hat lassen, daß ich heim darf. Wie ich vom Seewald aus euer Dach gesehen hab, da hab ich singen müssen in meiner Freud. Aber wie ich herkomm ans Ufer und schau zum Bidlieger hinaus –« Die Worte versagten ihm. »Vor Schreck hab ich gemeint, ich müßt tot umfallen auf der Stell!«

»Gesehen hast du ihn? Gesehen!«

»Aus dem Schilf ist er aufgestiegen, ein grauslicher Unhold. Keinen Hals hat er und keinen Leib, nur einen endsgroßen runden Kopf, schier zehnmal größer als ein richtiger Mannskopf. Und gleich am Kopf hängen die schwarzen Füß. Und wo die Menschenleut die Ohren haben, hat er die Arm. Und keine Nas hat er im roten Gesicht. Haar hat er auch nit, er muß geschuppet sein wie Fisch. Rötli, ich hab den Bid gesehen! Jetzt muß ich sterben.«

Lautlos bewegte Rötli die Lippen.

Er sah sie an. »Ich tät mich vor dem Sterben nit fürchten. Aber schau, ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch!« Sie umschlang ihn, schmiegte ihre Wange an die seine, und so saßen sie wortlos.

Als Ruedlieb scheu hinausspähte über den See, faßte ihn neuer Schreck. »Tu nit aufschauen!« stammelte er und wollte die Hände über ihre Augen drücken. »Ich seh ihn wieder.«

Edelrot sprang auf und riß die Hände des Buben von ihrem Gesicht. »Hast du ihn sehen müssen, so fürcht ich mich auch nimmer und schau ihn an.«

»Rötli!« jammerte Ruedlieb und suchte sie vom Lugaus wegzureißen. Aber Edelrots Blick war schon hinausgeglitten über den Seeweiher. Zwischen der Insel und dem waldigen Ufer unter der Falkenwand trieb eine große, runde, rotschillernde Kugel über die Flut, vergleichbar einem riesigen, halb in das Wasser versunkenen Kürbis – der »Kopf des Bid«. Weiße Wellen umschwankten ihn, manchmal tauchte etwas auf wie eine rote Flosse, und dann spritzte ein Wasserstrahl in die Höhe, der in glitzernde Tropfen zerfiel. Im Röhricht des Ufers verschwand der Unhold.

»Rötli, was hast du getan!« klagte der Bub. »Wär's nit an mir genug gewesen? Jetzt hab ich dich auch noch in den Tod gerissen.«

Da faßte Edelrot sein Gesicht mit beiden Händen und flüsterte lächelnd: »Ich hab's so wollen. Jetzt sterben wir miteinander.« Die beiden sanken auf die Bank, im ersten Kusse hingen ihre Lippen aneinander, und ihre Sinne gingen unter im süßen Vergessen junger Liebe.

Schimmernd lag der See, auf dem Dache gurrten die Tauben, und aus dem Walde herüber tönte das Rauschen der Ache. Rötli und Ruedlieb hörten nicht.

Hinter dem Hause kam Wicho hervor; er sah das Hagtor offen, schüttelte befremdet den Kopf und ging, das Tor zu schließen. Als er den Sperrbalken eingelegt hatte, gewahrte er das Pärchen auf dem Lugaus. »Schau nur, da ist ein Blüml aufgeblüht in aller Not!« Ein dumpfes Dröhnen, wie ferner Donner, machte ihn aufblicken. »Ist denn noch allweil keine Ruh?« Er spähte sorgenvoll zur Höhe. Unter den höchsten Felswänden des Jennar sah er eine Staubwolke aufsteigen, und wie ein Stöhnen der Natur lief der Widerhall der Schuttlawine über die Berge hin. War es ein verspäteter Nachklang der vergangenen Nacht? War es eine Mahnung an kommende Schrecken? Das Echo rollte – Ruedlieb und Rötli hörten nicht.

Sie hatten in der Not nicht gesucht nach Trost und Hilfe, und dennoch hätten sie sagen können: wir haben gefunden, was wider alles hilft und alles überdauert.

Freilich, der alte Gobel hätte gelächelt zu solcher Rede. »Meint ihr die Lieb? Ist die Lieb nit auch in meinem Herzen gewesen, in meinem Haus? Mein Herz ist leer geworden. Wo steht mein Haus? Aber ich hab gefunden, was hilft. Mich geht kein Schrecken mehr an und keine Furcht. Mein Lachen bleibt hinter allem.« – Und in stundenweiter Ferne, im Kirchlein der Ramsau, saßen Hiltischalk und Hiltidiu in einem Betstuhl. »Tu nimmer weinen, Hilti!« flüsterte der Greis. »Schau hinauf zu ihm, der die Hilf ist wider alle Not! Mich hat er gehoben aus der Windach. Er wird uns nit sinken lassen. Nur recht aus tiefstem Herzen müssen wir schreien: Mein guter Herre, du mein Gott! Und Vertrauen müssen wir haben. Da wird er schon alles schlichten, wie's gut und recht ist.« Hiltidiu trocknete die Tränen und nickte lächelnd. Mit verschlungenen Händen saßen die zwei greisen Menschen im Betstuhl – so still in sich und in ihren Trost versunken, wie auf dem Lugaus des Fischerhauses das junge blühende Paar.

Rötli und Ruedlieb hörten nicht, daß am Hagtor gerüttelt wurde, und daß eine fremde Stimme rief: »In Himmels Namen: gebet Einlaß einem frommen Gottesmann!« Sie blickten erst auf, als es lebendig wurde in der Hofreut. Sigenot kam mit den Sennen, mit Eigel und Kaganhart hinter dem Haus hervor, und Hilmtrud erschien in der offenen Tür.

Der Hag wurde geöffnet, und Bruder Wampo, der den Fischer erkannte, breitete in Freude die Arme. »Ich hab mir's gleich gedacht, daß mir das liebe Kreuz da draußen ein guter Weiser sein wird!« Sigenot mußte die mit einiger Schwierigkeit sich vollziehende Umarmung des Bruders dulden. Dann setzte sich Wampos Zünglein in Bewegung. Das erste, was er zu berichten hatte, war das traurige Schicksal, das die Ferchen und Hechte im Lokiteich gefunden.

»Wär das die einzige Not, die aus der heutigen Nacht gewachsen,« meinte Sigenot, »wider die wär bald geholfen.« Er führte den Bruder zum Haus und wollte schon hinter ihm in die Türe treten. Da sah er den Sohn des Richtmanns stehen, Hand in Hand mit Rötli. In Freude und zugleich mit Kummer betrachtete er das junge Paar. »Ruedlieb? Weiß dein Vater, daß du in meinem Hag weilest?« Der Bub schüttelte den Kopf. »So muß ich dich weisen aus meiner Hofreut. Ich tu es ungern, denn ich hab dich lieb. Aber dein Vater könnt mit Unmut hören, wo du gewesen bist.«

Rötli und Ruedlieb standen wie entseelt. Sigenot legte den Arm um die Schwester und reichte dem Buben die Hand. »Ich mein', das spüret ihr alle beid, daß ich eurem Glück ein Haus bauen möcht, lieber heut als morgen. Aber zwiespältige Zeit ist eingefallen, die dem Glück feind ist wie der Winter den Blumen. Ich steh, wo ich stehen muß, und dein Vater, Bub, steht auf der anderen Seit. Ein Sohn muß stehen, wo der Vater steht. Von aller Treu und Lieb die erste muß die Treu für Haus und Blut sein.« Sigenots Augen glitten über den See hinüber zur Höhe der Falkenwand. »Geh heim, Liebli! Kommt wieder gute Zeit, so wird wohl der Weg, der deinem Herzen lieb ist, auch deinem Vater taugen. Eine weiß ich, die wartet auf dich. Gelt, Rötli?« Zärtlich strich er über das Haar der Schwester, die das Gesicht an seiner Brust verbarg.

Stammelnd streckte der Bub die Hände; doch als der Fischer den wehrenden Arm zwischen ihn und die Schwester legte, wandte sich Ruedlieb und taumelte schweigend über den Hügel hinunter. Beim Hagtor schrie er: »Ich komm wieder, Rötli! Ich komm!«

Da riß sich Edelrot aus ihres Bruders Armen und rief: »Kämst du auch nimmer und nimmer, wir zwei, wir müssen uns finden, sobald der Mond wieder voll wird!« Sie meinte die Nacht, in welcher Ruedliebs Leben und das ihre dem Bid verfallen war.

Hilmtrud, die auf der Hausbank saß, verschlang die Hände im Schoß und murmelte: »Not über Not! Schau einer hin, wo er mag, überall brennt ein Haus, überall schreien die Leut.« Da setzte sich Kaganhart an ihre Seite. Unruhe sprach aus seinen Augen. »Was willst du?« fragte Hilmtrud.

»Laß dir im guten raten,« flüsterte der Bauer, »und bleib dem Pfaffen aus der Näh! Herr Waze ist wider die Klosterleut. Wenn wir bauen wollen, müssen wir hinaus zu ihm und um das Schlagrecht für das Bauholz betteln.«

Das Weib sprang auf, wilden Haß in den Augen. »Mann! Nit eher wird der erste Baum zu unserem Haus geschlagen, eh der da droben nit den letzten Schnaufer tut.« Sie trat ins Haus.

Der Bauer folgte ihr. »Ist das ein Weib! Will mit dem da droben auch noch zanken und raufen!«

Nach einer Weile saßen sie alle in der Herdstube um den gedeckten Tisch; nur Mutter Mahtilt wollte das Mahl nicht teilen, und Rötli blieb bei der Mutter am Herd. Bruder Wampo hatte den Ehrenplatz eingenommen. Jeden Bissen würzte er mit Späßen, so daß sich manchmal ein frohes Lachen um den Tisch erhob und zuweilen sogar über Sigenots Lippen ein Lächeln huschte. Es schien, als hätte sich der drohende Schatten, der über den Köpfen dieser Menschen hing, für ein Stündlein in freundliche Helle verwandelt. Am lautesten unter allen lachte Kaganhart, und um doppelten Trost zu haben, griff er so mutig in die Schüssel, daß Bruder Wampo, den Entsetzten spielend, die Arme wie zum Schutz vor die anderen streckte und mit dem alten Sprichwort rief: »Habet acht! Ein Bayer frißt, da werden wir alle mitgefressen!«

Als das Mahl zu Ende war und die Männer die Herdstube verlassen wollten, stellte sich Bruder Wampo vor die Türe. »Holla! Jetzt wird noch geblieben eine Weil! Vor dem Mahl haben wir all im Hunger das Beten vergessen. Das wird sein säuberlich nachgeholt. Wartet, ihr Heidenschüppel, ich will euch Christentum predigen. Draußen vor dem Hag wird der Herr aufgestellt, und euer Haus soll er hüten. Gelt, das tät euch schmecken? Aber beten und danken will keiner. Her da zum Tisch und nachgebetet, was ich sag!«

Bruder Wampo faltete die Hände und betete vor. Sigenot fiel als der erste ein, und da wurden auch die Stimmen der anderen laut. Nur Mutter Mahtilt blieb stumm. Sie legte ein dürres Kraut ins Feuer, und die verbrennende Staude füllte die Stube mit schwerem Duft.

Nach dem Gebet verließen die Männer das Haus. Bruder Wampo wollte auf der sonnigen Hausbank die Mittagsruhe halten, doch Edelrot faßte ihn beim Kuttenärmel und zog ihn unter die Eichen. »Ich muß dich was fragen, Gottesmann!« Er sah den Kummer in ihrem lieblichen Gesicht und ließ sich führen, wohin sie wollte. Im Schatten der Bäume hielt Rötli inne und sagte mit bebendem Stimmlein: »Es geht die Red, ihr wisset viel, ihr Gottesleut.«

»Ein guter Gottesmann weiß alles.«

»So sag mir: ist das wahr mit dem Bid?«

Bruder Wampo machte ein verdutztes Gesicht. »Mit wem? Mit was?«

»Mit dem Bid?«

»Bid, Bid? Den kenn ich nit! Wer soll das sein?«

Scheu erklärte Rötli dem Bruder, wer der Bid wäre, wo er hause, und welches Schicksal aus seinem Anblick erwachse. Da schüttelte Wampo lachend den Kopf. »Dirnlein, das ist Narretei und schiecher Aberglauben. Außer Menschen und Getier und außer den leblosen Dingen der Welt gibt's nur zwei Sachen noch: das ist der liebe Gott mit seinen Engeln und Heiligen, die im Himmel wohnen, und der Teufel mit seinen schwefligen Heerscharen, die in der Höll hausen. Da bleibt fürs Wasser nichts übrig als nur die Gottesgab der Fisch und Krebsen. Bid? Nein, Dirnlein! Einen solchen Kerl gibt's nit. Sag nur: ich hab's gesagt!«

»Wenn ihn aber doch einer schon gesehen hat?« fragte Rötli, in deren Augen schon ein Fünklein von Hoffnung glomm.

»Gesehen? Wie soll er denn ausschauen?«

»Grauslich! Einen weltsgroßen, roten Kopf hat er, mit glitzrigen Schuppen wie ein Ferch, keine Nas und keine Augen im Gesicht, und wo die Leut die Ohren haben, da hat er Flossen.«

»Pfui Teufel!« lachte Bruder Wampo. Dann stockte er und schien sich zu besinnen. »Freilich, er weiß gar mancherlei Kunst, der schieche Feind, und diemal schreckt er die Menschen in grauslicher Gestalt. Die lieben Heiligen können davon erzählen. Aber da muß man sich noch lang nit fürchten, Dirnlein. Sei nur gut und fromm, so hat er keine Macht über dich. Und wenn er dir einmal erscheinen sollt, so schlag das Kreuzzeichen, tu dein Stoßgebetlein, und du wirst sehen: weg ist er! Wie fortgeblasen! Aber ein Geruch bleibt hinter ihm. Da gehört eine gute Nas dazu.«

Mit beiden Händen faßte Rötli den Arm des Mönches: »Ach, guter Gottesmann, ich tu dich bitten, zeig mir, wie ich es machen muß!«

»Ja, Dirnlein, komm nur und setz dich her zu mir!«

Sie saßen auf dem Lugaus in warmer Sonne, umgeben vom leisen Fall der welkenden Blätter. Als Wampo Abschied nahm vom Fischerhause, geleitet von Wicho, der das schwere Lägel trug, war aus Edelrot eine gute Christin geworden, freilich eine »gute Christin« nach der Meinung Bruder Wampos. Sie hatte gezittert in Angst, und da war ihr der Glaube leicht geworden, der den lieben Gott im Himmel walten und daneben den Teufel bestehen ließ, bei starker Hilfe wider seine üblen Kräfte. Ein Stündlein hatte Bruder Wampo reden müssen, um die Furcht aus diesem zitternden Kind zu lösen. Vielleicht wäre ihm das rascher gelungen, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, zu erzählen: »Ich habe gebadet im See.« Da hätte Rötli hell aufgelacht und hätte für kommende Zeiten die Lehre gewonnen, daß es um manche Angst des Lebens bestellt ist wie um den Bid des Ruedlieb: blick hin mit verwirrten Sinnen, und Grauen erfaßt dich – blick hin mit klarem, sehendem Aug, und die Posse macht dich lachen.


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