Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Elftes Kapitel

Wie der Großvater mütterlicherseits eine alte Schuld einkassiert hat

Schuldenmachen ist ein gefährlich, und Schuldeneintreiben ein beschwerlich Ding. Das erste ist leicht, und wenn man sie nicht in Geld macht, so macht man sie in andern Artikeln, wie in Besuchen oder in Briefen, aber wenn sie gemacht sind, müssen sie bezahlt werden. Und bezahlen ist auch nicht jedermanns Sache, und kommt das selbst bei ziemlich »gebildeten« Menschen vor, und der ihnen Geld bringt, ist ihnen am kleinen Finger lieber, als der's von ihnen fordert, und mancher, der sonst im Leben wenig Selbstverleugnung übt, läßt sich doch selbst verleugnen, wenn er einen Gläubiger unten an der Thürschelle klingeln hört. Es giebt aber auch Schulden anderer Art, die nicht schwarz auf weiß stehen, ohne Handschrift und ohne Hypothek frei ausgestellt sind, in unbestimmter Zeit mit unbestimmten Summen zu zahlen au porteur. Das sind die Dankschulden für erwiesene Hilfe und guten Rat. Auch da giebt's Leute mit kurzem Gedächtnis. Einmal bei denen, die sie zu fordern haben. Die streichen lieber gleich den Posten aus und sind zufrieden mit der guten That selbst und suchen keinen Lohn bei Menschen. Sie haben's meist aus Erfahrung gelernt, daß man sich in der Welt nicht über den Undank, sondern über den Dank wundern soll, und denken wie mein lieber bergischer Freund so oft gemahnt: »Wer von Menschen nichts begehrt, den können Menschen auch nicht betrüben.« Sodann aber vergißt auch der Schuldner solche auf sich ausgestellte Wechsel, und weiß sich fast gar nicht mehr zu erinnern, wann, und woso – oder thut wenigstens dergleichen. Item: Auch unser Herrgott grüßt manchen, der ihm nicht dankt und bei manchen muß man an den Wolf denken, dem der Kranich den Knochen aus dem Hals gezogen, der seinem Retter auf die Frage nach der Belohnung antwortete: »Bist du nicht zufrieden, daß ich dir nicht den Kopf abgebissen habe, als du ihn mir zwischen die Zähne strecktest." Kurz, den Menschenkindern wäre zu wünschen, sie hätten etwas mehr Vergeßlichkeit für das, was sie Gutes gethan, und etwas weniger für das, was sie Gutes empfangen haben, dann würde es insgemein besser bestellt sein. Unser lieber Großvater, von dem in der Familienchronik geschrieben steht, der in Paris Gesandtschaftsprediger war, hat nicht allein jenem undankbaren Grafen von Narbonne das Leben in der Schreckenszeit gerettet, sondern auch noch manchen anderen, die unschuldiger Weise vor den Konvent geführt wurden, und denen der Kopf heruntergemacht werden sollte. So war ein junger Mann aus der deutschen Gemeinde, die der Großvater mit zu versorgen hatte, wegen einer unbesonnenen Äußerung gegen die Revolutionsmänner gefaßt, in Untersuchung gezogen worden, und sollte nach kurzem Urteil den folgenden Tag gerichtet werden. Da kam seine Mutter, eine Witwe, und bat den Großvater, ob er nicht noch ein Wort für ihn zur Rettung einlegen wollte. Der Großvater, der als protestantischer Prediger bekannt und geachtet war, fand den Weg zum Tribunal und hielt an die Richter eine erschütternde Rede, in welcher er die Not der Witwe, die Jugend des Mannes vorstellte, so daß die Blutrichter beschlossen: »Nun denn, nehmen Sie ihn mit.« Der Großvater ging mit dem Freischein in das berüchtigte Gefängnis und holte seinen Schützling unter den Hunderten, die auf den Tod warteten, heraus. Der junge Mann fiel dem Großvater zu Füßen, der ihn aber gleich aufhob und zu der Mutter führte. Dort ergoß er sich in Dankbarkeit und wollte den Tag segnen, da er dem Großvater die Liebe vergelten könnte. »Mein Sohn, du hast zunächst einen Gegenstand deiner Liebe – hier deine Mutter! sei ihr eine Stütze, das soll mein bester Dank sein,« sagte der Großvater. Der junge Mann hielt Wort, und so lange Großvater noch in Paris war, besuchte er ihn regelmäßig. Die Zeiten änderten sich, der Großvater ging in die Verbannung und kam nach Bremen an Sankt Ansgarikirche und hätte seinen Schützling längst vergessen, wenn bei dem Heerzug Napoleons, der einen Teil der Armee unter dem Marschall Davoust nach Bremen und Hamburg schickte, nicht an einem Tag ein schmucker Offizier sich bei ihm gemeldet hätte, ihn zu grüßen. Es war sein Schützling von ehemals, der jetzt Major und Adjutant des Marschalls war. Nachdrücklich erkundigte er sich, ob's dem Großvater gut ginge, und versprach ihm alle Erleichterung bei der Kriegslast, so viel in seinen Kräften stehe und empfahl sich auch für spätere Tage. – »Nun, das ist doch ein Dankbarer,« sagte der Großvater, »der für viel andere entschädigt.« Er dankte für die Bereitwilligkeit der Hilfe, die er jetzt nicht in Anspruch zu nehmen brauche. Der Mann zog mit seinem Marschall weiter nach Hamburg; und Großvater dachte nicht weiter an die Schuld. –

Der Krieg ging derweil voran und das Elend auch. Napoleon legte eine große Sperrkette ans Meer, um die Engländer davon zu verdrängen und verhungern zu lassen, und ließ kein Schiff hinüber noch herüber. – Das hieß man die Kontinentalsperre, und jedes Schiff, das doch durch die Kette wollte und englische Ware bringen, sollte genommen, und die Leute mit Galeere oder mit dem Tode bestraft werden, das letztere dann, wenn sie mit den Waffen in der Hand getroffen wurden. So lautete der Befehl des Kaisers, und dem Napoleon kam es bekanntlich nicht drauf an, ob etliche Tausend Menschen mehr oder weniger auf der Welt waren, und sein Kopf war ihm lieber als alle Köpfe in der Welt. Darum wurde gerade dies Gesetz aufs strengste durchgeführt, denn das stolze England sollte gründlich gedemütigt werden, darnach sollte noch Rußland dran kommen, und dann war so ziemlich alles gedemütigt, was in der Welt zu demütigen war, bis denn der Herr sprach: »So, nun kommst du an die Reihe.« Und er wurde dann auf St. Helena auch vom Kontinent abgesperrt, und das war die Kontinentalsperre, die die Engländer nun über ihn verhängten. –

Während jener gesperrten Zeit war Großvater mit den Seinen auf ein paar Wochen draußen auf dem Land, ein paar Meilen von Bremen, auf dem Gute eines Bremer Kaufherrn, dem sein Pfarrer keine Last war, sondern der sich freute ihm etwas Gutes thun zu können. Da kommt spät in der Nacht, mit wunden Füßen eine junge Frau, die nach dem Großvater frägt. Sie tritt herein und sinkt auf den Stuhl vor Erschöpfung und ruft aus: »Erbarmen! und Rettung!« Großvater beruhigt sie und fragt nach ihrem Leid. Und sie erzählt, wie ihr Vater und ihr Mann, die beide Schiffskapitäne seien, und zur Ansgarigemeinde gehörten, gegen die Kontinentalsperre gefehlt und mit einem Schiff eingelaufen und von den französischen Douaniers aufgegriffen seien: sie hätten sich zur Wehre gesetzt, seien aber durch die Mehrzahl zu Boden geworfen worden. Das Urteil sei schnell gesprochen worden und der Befehl gekommen, daß sie in vier Tagen erschossen werden sollten. »Ach, wissen Sie keinen Weg, meinen armen Mann zu retten, teurer Seelsorger! seien sie der hilflosen Frau und Kinder Vater und Beistand.«

Der Großvater rieb sich die Stirne und sann, wie zu helfen wäre. Da fiel ihm plötzlich die Schuld ein. »Halt, nun kannst du die Schuld einkassieren. Du hast ihm das Leben gerettet, er soll das Leben der zwei retten, das ist gerade der Zins und Zinseszins seit anno 93.« – Schnell setzte er sich hin, schrieb an den Adjutanten des schrecklichen Davoust und legte ihm die Sache ans Herz und mahnte ihn, nun die Schuld abzutragen. Er befahl der Frau, ihre drei Kinder mitzunehmen, wovon das jüngste drei Monate alt war. – Am frühen Morgen that die Frau also und eilte mit ihren Kindern nach Hamburg. Der Adjutant nahm sie freundlich auf, und versprach alles zu thun, gab ihr aber wenig Hoffnung. Sie ruhte sich aus mit ihren Kindern und wartete auf die Rückkehr des Adjutanten, der ihr Gelegenheit verschaffen wollte, den Marschall zu sprechen. Nach einer Stunde kam er wieder und sagte ihr:

»Madame, merken Sie auf, was ich sage. Ich werde Sie in das Vorzimmer führen lassen, durch welches der Marschall nach dem Essen sich zurückzieht. Dort werden Sie mit ihren drei Kindern sein und sich ihm zu Füßen werfen. Sie sprechen nichts von Entschuldigung, nichts von Recht, sondern nur von Gnade, und reden von dem Kaiser nur Gutes. Davoust ist ein zärtlicher Vater – vielleicht, vielleicht, daß das Eindruck macht.«

Die junge Frau macht sich auf und thut wie ihr geheißen war. Davoust sieht die blasse, schöne Frau mit ihren weinenden Kindern erstaunt an. Er ist bewegt, zuckt die Achseln und sagt: »Es thut mir leid – aber ich habe keine Vollmacht zu begnadigen.«

Die junge Frau aber richtet ihr Auge fest auf ihn und spricht: »Marschall, der große Kaiser, der Ihnen das Recht zu strafen gegeben, wird Ihnen auch das Recht der Gnade verleihen.«

Der Marschall besann sich einen Augenblick. »Zwanzig Jahre Galeeren – dahin will ich's mildern, aber weiter kann ich nicht.«

»Nein, Marschall,« rief die Frau mit durchdringender Stimme, »dann lieber tot. Lieber meinen Vater und den Vater dieser Kinder im Himmel wissen, als lebendig tot. Dann unterschreiben Sie das Todesurteil.« –

Davoust war erstaunt; nach kurzem Besinnen faßte er die Frau an der Hand, hob sie auf, küßte die Kinder und sagte: »Ich handle gegen meine Pflicht – der Kaiser mag mir verzeihen.« Er trat in sein Zimmer und schrieb den Befehl zur Befreiung, und gab ihn der Frau mit, damit sie selbst ihren Mann und ihren Vater aus dem Gefängnisse holte. Am dritten Tage abends war sie zurück. Mit ihrem Vater und ihrem Mann und den Kindern kam sie zum Großvater. Den Seeleuten liefen die Thränen über die Wangen, als sie sich bedankten.«

»Ich habe nichts gethan, als eine alte Schuld einkassiert und sie euch vermacht. Ich rettete dem Adjutanten einst das Leben, er hat euer beider Leben nun gerettet. Das ist der Zins der Schuld gewesen. Nun aber vermache ich euch die Schuld weiter. Wo Gott euch Gelegenheit giebt für Menschen etwas zu wagen, da thut's. Und wenn jeder von euch an vier Menschen das thut, so hat mein Kapital guten Zins getragen. Und nun: Rechtsum! kehrt euch! ich will keinen Dank haben.«

So hat der Großvater Schulden einkassiert, und das war nicht die einzige. Das darf ich sagen, wiewohl ich sein Enkel bin.


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