Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Achtes Kapitel.

Mein Vater und Signor Daniele.

Wenn einer eine Reise thut,
So kann er was erzählen –

so singt Ehren-Claudius. Und er hat recht, wenn nämlich einer das Reisen versteht, sonst aber nicht. Aber es verstehen's nicht alle, und reisen wie ihr Koffer, der auch überall war und dem so viel Eisenbahnzettel und die Hotels aufgeklebt sind, daß man von ihm selber nichts mehr sieht, und kommen gerade so gescheit an wie er. Denn zum Reisen gehört mehr als ein Sack voll Geld mit samt dem roten Bädeker und einem Koffer samt englischem Teppich. Ein offenes Herz und offenes Auge für Natur und Menschen und ein feines Aufmerken für das Gute in der Fremde und das Gute in der Heimat, und ebenso fürs Böse in beiden: das bringt Gewinn, und wenn man heim kommt, dann gefällt's einem erst recht zu Hause. Denn die Leute, die draußen alles besser finden als daheim und dann brummen und unzufrieden sind, haben auf der Reise das Beste verloren, nämlich sich selber. – Am köstlichsten ist's aber, wenn man auf Reisen nicht bloß Land und Wasser, Elefanten und feuerspeiende Berge, unwegsame Gegenden und hohe Kunststraßen sieht – sondern neben der großen Welt auch in die kleine Welt des Menschenherzens blicken darf, und man auf den Weltwegen auch etwas von den Gotteswegen mit den Menschenkindern sieht. Solche Erfahrungen machen den Koffer reich und doch nicht schwer, und werden nicht von Zoll- und Paßjägern angehalten, So ist mein seliger Vater gereist und hat neben den Skizzenbüchern, Mappen und Bildern noch einen Schatz von Erfahrungen und Erlebnissen mitgebracht, die ihm geblieben sind, als die Skizzenbücher längst zerrissen oder verloren waren. Aus diesem geistigen Notizbuch will ich zu Nutz und Frommen der Reisenden und vielleicht auch zu Nutz manches Mutter- und Kinderherzens ein Stücklein erzählen. –

Da mein Vater seine Lehrzeit um hatte, die ihn das Wörtlein verstehen lehrte: »Es ist einem Mann ein köstlich Ding, daß er sein Joch trage in der Jugend« und er sein Diplom als Kupferstecher vom Meister feierlich bekommen, zog's ihn gewaltig hinaus in die Ferne. Zuvor aber mußte der Beutel mit Goldvögelein gefüllt sein, sonst ist's doch auch ums Reisen ein mühselig Ding, trotzdem daß es das Geld allein nicht macht. So galt's denn, Arbeiten und Sparen, denn beides gehört zusammen, wie Mann und Frau. Und Gelegenheit findet sich für einen fleißigen Mann schon. Denn es kam bald eine Bestellung nach Paris zu reisen, und dort zu kopieren, was ein schön Stück Geld abwarf, und als die Zeichnungen ausgestellt wurden, kam ein Stipendium von etlichen hundert Gulden für drei Jahre, zahlbar in blanker Münze, So dauerte es noch ein Jährlein; derweilen waren mit dem Flaum am Mund auch die Künstlersflügel gewachsen und nun sollte es fortgehen in die Ferne, ins Land Italien. Denn ums Land Italien ist's eben was Besonderes. Die deutschen Kaiser hat's hinübergezogen mit unwiderstehlicher Gewalt und vielen hat's das Leben dazu gekostet und doch sind die andern nicht weggeblieben. So geht's den Künstlern auch, und auch mancher von ihnen hat drüben sein frühes Grab gefunden. Aber es gehört einmal dazu. So ward denn alles bereit und gepackt, der Kreditbrief ausgefertigt und die Goldfüchse für den laufenden Bedarf in die Knöpfe am Rock eingesperrt, die dann im verschlossenen Zimmer bei Ansicht der Rechnung abgeschnitten und wieder angenäht wurden. An Farben, Bleistift und Pinseln fehlte es nicht, noch an dem Strauß am Strohhut. Der Abschied vom Vaterhause war zwar nicht leicht, denn man merkt eben erst, wie fest das Herz dort sitzt, wenn man scheiden soll: wie man erst merkt, wie fest ein Zahn sitzt, wenn ihn der Feldscher mit der Zange herausreißt. Beim Fortgehen ward's aber dem Künstler noch aufs Gewissen gebunden, die Verwandtschaft unterwegs zu besuchen und keinen Onkel zu vergessen, denn sie möchten's auf die Ehre nehmen und Feindschaft für lange daraus kommen. Und wiewohl sonst die jungen Leute sich gemeiniglich aus einem alten Onkel oder Tante nicht viel machen, und vermeinen Manns genug zu sein, um auch ohne den Onkel und die Base durch die Welt zu kommen, so hing doch der Künstler an seinen Verwandten und wußte, daß der Stammbaum etwas Heiligeres und Besseres sei als ein Eichbaum oder ein Buchenbaum. Darum versprach er's feierlich, keinen übergehen und von jedem noch einen Segen mit auf die Reise nehmen zu wollen. So zog er rheinaufwärts immer längs der Blutsverwandtschaft nach, und wo er einkehrte, war Freude. Denn damaliger Zeit sah man nur dann und wann einmal einen Verwandten und kannte die meisten nur vom Hörensagen. Die letzte Station von Basel war oben auf dem Schwarzwald bei dem Onkel, einem geistlichen Herrn. Als er die Klingel zog und die Magd den fremd aussehenden Jüngling mit dem Strohhut und der Ledertasche sah, wollte sie ihm ein Stück Brot auf die Wanderschaft geben, denn sie glaubte einen »Stromer« vor sich zu haben. Der Künstler nahm das Stück Brot und bat aber dann, ihn zum Herrn Pfarrer zu führen, denn er habe noch ein besonderes Anliegen, das pressieren thäte. So führte ihn die Magd hinauf und verwunderte sich über die Maßen, als der Herr Pfarrer mit offenen Armen dem Jüngling entgegenkam und ihn wie einen Sohn herzte. Es wurde gleich die Mutter gerufen samt den Kindern, um den angekommenen Vetter zu sehen. Nachdem getreulich Auskunft über die ganze Familie gegeben war, über Gesundheitszustand und Wohlergehen, den Kinderstand und ob der und jener noch an einen dächte, mahnte der Pfarrer nun mit Fragen einzuhalten und dafür das Essen fertig zu machen. Was er noch an der Thüre der Frau ins Ohr sagte, verstand zwar niemand, aber es zeigte sich als auf den Tisch duftende Äpfelpfannkuchen kamen und vom alten Markgräfler dazu, daß der Pfarrer etwas Bedeutsames verhandelt hatte. Die Knaben aber sprangen zutraulich um den Vetter herum und spazierten mit seinem großen Malerspieß in der Stube auf und ab und hätten nicht übel Lust gehabt, etwas vom trojanischen Krieg aufzuführen, wenn ihnen nicht gewehrt worden wäre. Das Essen war bereit und der Künstler ließ sich nicht zweimal bitten bei den Pfannkuchen, denn er dachte: »Es sind die letzten in Deutschland und hast sie noch dazu umsonst.« Nach dem Essen wurde noch vieles auch über das neue Land geredet, dahin der Neffe zog. Denn der Onkel, der Pfarrer, hatte auch einmal einen gekannt, der dort gewesen, und erzählte Wunderdinge davon, und der Künstler bestätigte alles zum voraus, denn er hatte es in Büchern so studiert, und die Jungen des Pfarrers rissen die Augen und den Mund auf und die Spinnräder der Dienstleute, die am Ofen spannen, gingen manchmal in ganz langsamem Tempo, damit man ja kein Wörtlein verliere. Beim Zubettgehen waren alle vergnügt über den schönen Abend, denn jedes hatte mitgesprochen und miterzählt, und die Leute unterhalten sich immer dann am besten, wenn sie selber das meiste oder wenigstens ein gut Teil geredet haben. Des Morgens aber wollte der Vetter abreisen und noch die Stadt Basel erreichen, und stand schon früh fix und fertig im Reisekleid. Nach dem Frühstück nahm ihn aber der Onkel noch auf die Seite und sagte: »Karl, noch auf ein Wort.« In der Studierstube vermahnte er treulich den jungen Künstler auf Gottes Wegen zu bleiben und Tobiä Sprüchlein zu bedenken. Denn die Künstler haben's vielleicht doppelt not, sich in acht zu nehmen, daß ihnen das Herz nicht gestohlen wird, denn sie haben's etwas los unterm Brusttuch sitzen und können gar leicht sich selber auch was vormalen, von dem sie doch nicht leben können. Und der Künstler hörte andächtig und ehrerbietig zu, wie's die Jungen allezeit thun sollen, wenn die Alten reden, und sich so verhalten, wie wenn einem Gold zugewogen wird. Als der Onkel aber geendet, sagte er: »Und nun noch eins, lieber Neffe. Du hast drunten in der Unterstube beim Essen wohl die alte Frau gesehen, die am Ofen saß. Das ist die Witwe des Schneiders Brunner, die wir seit Jahren ins Haus aufgenommen haben. Du hast wohl nicht gemerkt, daß sie während der ganzen Zeit, daß wir von Italien sprachen, stille geweint hat. Diese Frau hat einen einzigen Sohn gehabt, der in den Jugendjahren fortgelaufen und bis dato nicht wieder gekommen ist. Durch einen Handwerksburschen hat sie einmal Nachricht bekommen, der hatte ihn, wie er sagte, in Italien gesehen, wußte aber nicht mehr wo, und seitdem läßt sie sich's nicht nehmen, daß ihr Daniel (so heißt er) in Italien ist. Da meint sie denn, als sie dich gestern von Italien erzählen hörte, du könntest ihn dort wohl finden. Da hat sie denn in der Nacht noch einen Brief an ihren Daniel geschrieben, den du abgeben sollst, und einen alten Kronenthaler noch beigelegt, ein altes Erbstück, das du ihm mitbringen sollst.«

»Ja,« sagte der Maler, »ist alles recht, aber wie soll ich den Daniel Brunner finden? Italien ist groß, und die Zeit ist kurz.«

»Nun sieh,« sagte der Onkel, »deswegen geb ich dir hier noch einen Kronenthaler mit auf die Reise. Kommst du in eine Stadt, und läßt deinen Paß visieren, so thust du mir die Liebe und läßt dir das Einwohnerbuch aufschlagen und siehst zu, ob du keinen des Namens findest. Thu's der alten Mutter zu lieb und denk an den Segen, den sie auf dich herabbetet. Du kannst den Segen der alten Frau mitnehmen, der ist Gold wert.«

Der Maler steckte den Brief und den Kronenthaler ohne Widerrede ein und versprach sein bestmögliches zu thun, um den Sohn zu finden. Er nahm Abschied und ging noch besonders zur alten Mutter und versprach's ihr in die Hand hinein, ihren Sohn aufzusuchen und dann Antwort zu geben. Er packte den Brief und das Geld zusammen in den großen Mantelsack, schwenkte den Hut und stieg hinunter vom Schwarzwald auf die Rheinebene, Basel zu.

Von dort ging's über die Alpen hinunter an den Comer See mit seinen grünen Wassern an dem schönen Bellagio vorbei nach Venedig. Auf dem Markusplatz war's herrlich. Abends und bis spät in die Nacht hinein wogt das Volk hin und her, draußen sitzen die Leute auf offenem Platz, und die Lichter der Häuser ringsum und die hellen Lichter am Himmel geben die Beleuchtung, und Sänger mit Mandolinen und schwarzhaarige Armenier mit gelben Gesichtern und Türken mit langen Pfeifen und breite Deutsche mit einem guten Ziegenhainer in der Hand geben die Unterhaltung ab. Da saß denn der Maler, ließ die Leute an sich vorübergehen und betrachtete sie; ein paar Künstler und Landsleute hatten sich bald gefunden und so saß man dann am Tisch und redete vom Zeit- und Weltlauf. Da mitten im Gespräch zupfte es plötzlich den Maler, und es fiel ihm siedend heiß ein, was der Onkel noch gesagt und die Alte ihm aufgetragen. Er brach drum das Gespräch ab und sagte: »Apropos! Wie ist's, habt ihr nicht einmal was von einem Daniel Brunner gehört?«

»Daniel Brunner,« riefen sie alle nach einander, der eine schnell, der andere bedächtig. – »Wüßte nicht,« sagte der erstere; »Mir nicht bekannt,« der zweite. »Ich mein als,« murmelte der dritte – aber die Summa war, daß keiner was wußte. Jetzt schaute der Maler sich erst recht die Leute an, ob nicht einer so aussehen könnte, wie der Daniel Brunner, den er doch selber nicht gesehen hatte. Als er seinen Paß visieren ließ (oder »frisieren,« wie jener Schlossersgesell es schöner ausdrückte) frug er auch nach dem Daniel. Aber die Herren hatten in ihren Büchern ganz andere Namen stehen, die lauteten alle auf ini und etti, aber nicht auf Brunner und sagten zum Schluß: »Thut uns leid, aber wir können nicht dienen. Er muß wohl abgereist sein, wenn er da war.« Der Maler bezahlte, was es kostete, aber den Kronenthaler gab er nicht her. Von Venedig ging's nach Florenz, und wenn Venedig schön ist, so ist's Florenz noch mehr und man kann doch zu Fuß gehen, was man in dem nassen Venedig mit den Wasserstraßen nicht kann. Dort gab's viel zu sehen, was der Maler noch nicht gesehen und ein übers anderemal schrieb er nach Hause: »Ja, Florenz ist halt Florenz und geht nichts drüber für einen Maler.« Und auch in Florenz wurde gefragt nach dem Daniel, aber da lauteten die Namen noch viel italienischer als in Venedig, und wußte kein Mensch was von ihm. Nach Monaten ging's nach Rom, und Rom ist doch die Hauptstadt in Italien und ein rechtes Künstlernest. Und der junge Maler mit dem vollen Herzen kam da eben recht; denn es war ein frisches, thatenlustiges Leben unter den deutschen Künstlern damaliger Zeit, die eine neue Zeit heraufführten. Da galt's nun erst recht, die Augen aufmachen und den Mund und die Ohren dazu, denn in Rom kann sich einer ordentlich die Füße ablaufen, bis er alles gesehen hat, und mancher war jahrelang da und hat doch nicht alles gesehen. Wenn der geneigte Leser sich nun denkt, daß dem Maler gleich der Daniel Brunner eingefallen wäre, und er sich gleich nach der Ankunft auf dem Bureau erkundigt, ob er vielleicht in Rom logiere, so irrt er. Denn vor lauter Raphael und Michelangelo, Giulio Romano und Carlo Dolce und wie sie alle heißen, war dem Maler der Daniel Brunner gründlich abhanden gekommen, und wie der Brief mit dem Kronenthaler auf dem Boden des Koffers lag, so lag auch der Daniel in dem Gedächtniskasten des Malers in der untersten, hintersten Schublade. Er hatte ohnedem schon den Mut verloren, was sollte er es weiter noch probieren! So fragte er wohl einmal nach ihm, aber als ihm niemand Auskunft geben konnte, legte er die Sache ganz ad acta, wickelte Brief und Kronenthaler noch einmal ein fürs Heimschreiben bei Gelegenheit, und schrieb dem Onkel: er habe sein Möglichstes gethan, aber es sei nichts zu machen. Der Handwerksbursche hätte vielleicht falsch gehört, und ohnehin könne man den Handwerksburschen nicht aufs Wort trauen. So war die Sache also eingeschlafen. – Der Maler verließ Rom und zog nach Neapel und dann nach Sicilien, denn er dachte: Wenn du einmal da bist, so nimmst du's lieber jetzt gleich mit, denn du kommst vielleicht dein Lebtag nimmer hin. Und da hat er recht gehabt, denn was man gleich thun kann, soll man auf keine andere Zeit versparen. Dort aber frug er nicht mehr, denn er konnte sich's denken, daß er da nicht hingekommen, wo kaum die Künstler hinkamen, in abgelegene Dörfer und Klöster.

Nach einem Jahr kam der Maler wieder zurück nach Rom, denn die Goldfüchse waren alle aus dem Gefängnis entlassen, und es mußte von neuem wieder gearbeitet werden, um deren etliche einzufangen. Der Kronenthaler, der noch unten in dem Koffer lag und nachgerade schwarz geworden war, lief manchmal Gefahr in die Hand genommen und ausgewechselt zu werden; denn bei Künstlern geht wie bei andern Leuten auch Null von Null auf und hexen können sie auch nicht. Derweil hatte die Welt ein ander Gesicht gekriegt. Napoleon war mit einem großen Heer nach Rußland gezogen und hatte dort seinen Schlagbaum gefunden, und nachdem er von Gott geschlagen war, ward er zu Leipzig auch noch von den Menschen geschlagen und ihm in Elba Logis angewiesen. Und als er von dort noch einmal ausbrach, kam die Schlacht bei Waterloo, und nun gab's auf St. Helena ein ander Gefängnis, wo das Fortspringen schwer war. Da war denn Jubel im deutschen Vaterland, daß mit dem Dränger ein Ende war; wie zu Haus die Feuer loderten, so loderte auch in den Herzen der deutschen Maler in Rom die Liebe zum Vaterland; denn sie hatten unter den Lorbeerhainen und Myrtenhecken den deutschen Wald mit seinen Eichen und Buchen nicht vergessen. Denn um den deutschen Wald ist's doch was besonderes. Als nun die Nachrichten immer sieghafter lauteten und der alte Blücher zum zweitenmal nach Paris gekommen war, beschlossen die deutschen Künstler auch in Rom ein Freudenfest zu feiern. Der Fürst Borghese, einer der reichsten Fürsten, gab seine prächtige Villa mit ihrem herrlichen Garten dazu her. Die Künstler aber wetteiferten im Malen von Bildern und Transparenten; der eine dichtete, der andere studierte eine Rede, der dritte mußte fürs Essen und ein vierter fürs Trinken sorgen. Dann wurde männiglich dazu eingeladen in Zeitungen und großen Plakaten; jeder aufrichtige Deutsche solle kommen, sei er wer er wolle. Des Nachmittags schon strömte es zum Thor hinaus; handfeste Handwerker und magere Litteraten, Künstler mit langen Haaren, Mönche in Kutten, die das Schurzfell mit der Kutte vertauscht hatten; etliche Rothaarige und Blauäugige darunter (wie sie die alten Römer einst zu ihrem Schrecken gesehen hatten), auch viele Italiener dabei, die man gerne aufnahm. Der Abend kam heran, immer näher schlug die Stunde des Festes. Die Leute sammelten sich aus dem Garten in die Villa. Sie war herrlich illuminiert, und aus den dunkeln Lorbeergängen konnte man in der Ferne die Lichter flimmern sehen. Der große Springbrunnen warf das Wasser in bunten Farben, und die alten steinernen Meergötter schauten verwundert in das Spiel. In der Villa tönte ein ernster vierstimmiger Männerchor; das waren die Lieder vom Arndt, Körner und Schenkendorf. Im Saale war Deutschland als riesige Jungfrau im Schmuck der Eichenkrone gemalt, Reichsschwert und Reichsapfel in den Händen haltend; der riesige Doppeladler des heiligen römischen Reichs war am Ende des Saals angebracht. An den langen Tischen saßen die Festgäste bunt durcheinander und auch unser Maler mit besonders fröhlichem Gesicht. Und nun fingen die Reden und Trinksprüche an aufs Vaterland, auf die Fürsten, auf die Heerführer, und jeder mußte noch einen zu finden, der noch nicht bedankt und begrüßt war. Denn mit dem Toast und den Reden am Feste ist's wie mit dem Feuer: man weiß wohl wo es anfangt, aber nicht wo es aufhört. Neben dem Maler saß ein breitschultriger Mann, der ausgangs der Fünfziger stehen mochte; er trug einen hechtgrauen Rock und Hosen, eine geblümte Weste und einen sauberen hohen Hemdkragen. Sein Gesicht hatte Sommersprossen, und die Zeit mußte ihm mit mancherlei Sorgen wie mit der Pflugschar übers Gesicht gefahren sein, denn es sah verwittert aus. In sich gekehrt, halb zerstreut war der Mann den Abend durch da gesessen und hatte nur spärlich Antwort gegeben rechts und links. Jetzt aber rutschte er unruhig auf seinem Stuhle her, als er die Reden und Toaste hörte, und sagte ziemlich laut zu seinem Nachbar, dem Maler: »Nun, wenn sie alle leben lassen, sollen sie auch mei'n Markgraf leben lassen.«

»So,« sagte der Maler, »wer ist denn Euer Markgraf?«

»Ha,« antwortete der Hechtgraue, »der Markgraf von Baden.«

»Ja der ist kein Markgraf mehr, der ist Großherzog geworden, und der alte lebt auch nicht mehr.«

»So, seid Ihr bekannt dort?« frug der Hechtgraue.

»Versteht sich,« sagte lachend der Maler, »ein wenig. Wo sind Sie denn her, um Vergebung?«

»Ich bin aus dem Badischen daheim.«

»Wohl aus dem Oberland der Sprache nach?«

»Aus dem Altbadischen; ich weiß selber nimmer recht, denn 's ist schon lang, daß ich fort bin.«

»Nun,« sagte der Maler, »da will ich einmal Eure Rede übernehmen,« und brachte dann auf das badische Heer einen Toast aus, das gezwungen mitgemußt hatte, und freute sich, daß die Zeit des Elends vorüber sei, wo Brüder gegen Brüder hatten fechten müssen. Dem Hechtgrauen liefen die hellen Thränen über die Backen. Nach der Rede stand er auf und wollte sich still zum Saal hinausdrücken. Draußen aber faßte ihn ein Arm. Das war der junge Maler.

»Nun, deutscher Landsmann,«sagte der Maler, »das Fest gefällt Euch doch wohl, denn in der Fremde denkt man stärker als sonst an die Heimat.«

»Da mögt Ihr Recht haben,« sagte der Hechtgraue. »Ich hätt' nichts davon erfahren, wenn ich nicht heute per Zufall in einen Laden gekommen wäre. Da sagt der Krämer: »»Nun, Signor – geht Ihr heute abend nicht auch hin in Villa Borghes, wo die Tedeschi alle hinkommen zum Fest? Ihr seid auch eingeladen.«« Da hab' ich gedacht, willst doch auch hingehen, wo du einmal wieder deutsch reden hörst; es heimelt eben einen doch an.« – »Da habt Ihr wieder recht, Landsmann,« entgegnete der Maler, »aber es ist mir gewesen, als seid Ihr traurig an unserm Fest, drum hab' ich gedacht, wir wollen miteinander heraus. Ein paar Flaschen Wein hab' ich mitgenommen. Laßt uns dorthin gehen.« Und sie gingen durch die Lorbeergänge mitten durchs gaffende Volk, bis sie in einen stillen Teil des Gartens kamen, wo man nur das Plätschern des Wassers hörte und in der Ferne die Musik. Es war ein Hain von dunkeln Cypressen, in dessen Mitte ein steinerner runder Tisch stand. Der Maler setzte die Flaschen darauf. Niemand sah auf die beiden als der große lichte Vollmond.

Da fing der Hechtgraue wieder an und sagte: »Ja, mir ist's nicht wohl ums Herz gewesen und 's hat mir fast die Brust versprengen wollen, wie die Leute so schön deutsch gesungen haben.«

»Wie lang sind Sie denn schon fort, Landsmann?« – »O lange Jahr', seit dem vorigen Jahrhundert schon.«

»So,« sagte langsam und bedächtig der Maler, dem in diesem Augenblick ein Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf fuhr. Er hielt die Augen starr auf den Hechtgrauen geheftet und es war ihm, als sähe er hinter ihm etwas, was ihn anheimelte. Zerstreut goß er den perlenden Wein in die Gläser, richtete das Auge noch einmal durchdringend auf den Hechtgrauen und sagte dann mit lauter, fester Stimme, indem er sein Glas ergriff: »Nun, Daniel Brunner! auf gute Landsmannschaft!« –

So schnell der Hechtgraue das Glas ergriffen hatte, so schnell stellte er es wieder hin und setzte sich wie ein vom Blitz getroffener, todmüder Mann auf die steinerne Bank. Totenblaß sah er mit starren Augen den Maler an, als wollte er ihn durchbohren, und mit hohler Stimme brachte er nur die Worte heraus: »Herr Maler, woher wissen Sie, daß ich der Daniel Brunner bin?« –

»O ja, Ihr seid der Daniel Brunner, von – – – im Schwarzwald, der fortgelaufen ist, anno so und so viel. Geniert Euch nicht, mir sind allein und sagt, wie es Euch ums Herz ist.« Aber der Mann blieb starr, und brachte nach langer Pause mit hohler gebrochener Stimme heraus: »Kein Mensch kennt mich in Rom, denn ich hab einen ganz andern Namen angenommen. Ihr seid der erste, der mich nach zwanzig Jahren bei meinem rechten Namen nennt. Ach, allmächtiger Gott!«

»Nun, Daniel Brunner, faßt Euch,« sagte der Maler, »ich will Euch nicht mehr mit Eurem Namen nennen, wenn's Euch nicht lieb ist. – Habt Ihr denn niemand mehr in der Heimat. Besinnt Euch einmal?«

»Ach,« sagte der Hechtgraue, »Vater und Mutter sind wohl schon lange tot und werden mit Jammer um ihr Kind in die Grube gefahren sein, das ihnen davon gelaufen ist. Wer denkt noch an mich!«

»Wie wär's aber, Landsmann,« warf der Maler ein, »wenn doch noch jemand an Euch dächte? jemand, an den Ihr wohl als an einen Toten denkt, der aber noch lebt und dem Ihr bei Tag und Nacht nicht aus dem Sinn kommt und der mir einen Brief samt einem Kronenthaler mitgegeben hat, um Euch zu suchen?«

»O barmherziger Gott, des isch mi Mueter,« rief er in seiner Oberländer Sprache.

»Ja,« sagte der Maler, »da habt Ihr's getroffen und morgen sollt Ihr den Brief von ihr haben.«

Da brach der starke Mann vollends zusammen, er stützte den Kopf auf die Hand an dem steinkalten Tisch und weinte wie ein Kind. Der Maler schlich sich sachte auf die Seite und ließ dem Menschenkinde dort freien Lauf, seinem Herzen Luft zu machen. Denn in diesen Zeiten muß man einen Menschen allein lassen für eine Weile. Darnach aber kam er wieder, setzte sich zutraulich zu dem Daniel und sagte: »Nun, Landsmann, jetzt macht Euch das Herz leicht und erzählt mir einmal, wie Ihr daher gekommen seid. Gott hat Eurer Mutter Gebet erhört und Ihr habt am heutigen Abend das Beste vom Feste abgekriegt, denn Ihr habt Eure Mutter wiedergefunden. Es war freilich schwer Unrecht von Euch, daß Ihr sie verlassen habt, aber sie hat Euch vergeben; und was Ihr jetzt noch nachholen könnt, das holt Ihr nach.«

Da schaute der Daniel freundlich an dem Maler hinauf und sagte: »Ihr habt recht; jetzt weiß ich, daß unser Gott noch lebt und einen überall zu fassen weiß und ihm keiner desertiert.« Und nun fing er an unter dem Cypressenbaum seine Lebensgeschichte zu erzählen. Der Vater war Schneider und ein harter Mann. Der Junge hatte aber zu allem andern mehr Lust, als zum Schneiderwerden, denn auch dazu muß einer Liebe haben. Der Vater wollte ihm aber die Liebe einprügeln, und das geht eben nicht. Fehlte etwas in der Arbeit, gab's Schimpfreden, und zuletzt mit der vierkantigen Elle Schläge auf die Finger und auf den Rücken, oft wegen Kleinigkeiten. Und der Junge schluckte das alles hinunter und ließ sich nichts anmerken, wiewohl es manchmal in ihm kochte wie in einem siedenden Topf. Aber als an einem Tag der Vater es wieder zu arg gemacht, trotz des Flehens der Mutter, da beschloß er fortzugehen, und als morgens um fünf Uhr der Vater den Jungen erwartete, kam er nicht, und als die Mutter bat, ihn wecken zu dürfen, wollte er selber mit der Elle hinauf. Aber droben war die Kammer leer und das Fenster offen und das Kind war fort. Und kein Suchen half mehr. Und der Mann machte sich Vorwürfe, die halfen auch nicht, und die Mutter betete, das half mehr. So weit hatte es der Maler auch vom Pfarrer erfahren. Nun aber, erzählte der Daniel weiter, sei er unter die Franzosen gekommen. Die schickten ihn auf ein Schiff, das von den Engländern genommen wurde, und so kam er unter die Rotröcke. Mit denen kam er nach Spanien und machte die Schlacht bei Viktoria mit, in welcher er verwundet wurde. Die Verwundeten wurden nach Lissabon geschafft und der Daniel dort von einem reichen Portugiesen aufgenommen, der ihn freundlich pflegte. Als er auf der Besserung war, half er dem Portugiesen im Geschäft, das in Lieferungen für die Armee bestand. Aber der Portugiese hielt's mit den Franzosen insgeheim, und der Daniel ließ sich mit hineinziehen und wurde ein waghalsiger Parteigänger. Und Lügen haben kurze Beine. Als sie eben am besten dran waren und dem Daniel schon die Hand einer Portugiesin versprochen war, der Tochter seines Prinzipals, bekamen die Engländer Wind und man schob die Sache auf den Fremden. Darum händigte in einer Nacht der Portugiese dem Daniel einen falschen Paß ein mit fremdem Namen, gab ihm Geld genug, daß er schwiege, und begleitete ihn hinunter an den Hafen auf ein Schiff nach Italien. Und den falschen Namen hatte er beibehalten auch in Italien und sich mit dem Gelde angekauft. An die Mutter hatte er in der Krankheit schreiben wollen, aber es nicht gethan, und später durfte er nicht mehr, um sich nicht zu verraten – das alles hatte er dem Maler in gebrochenen Worten erzählt, während sein Herz arbeitete wie ein Mühlwerk.

Nachdem er bis hierher erzählt, unterbrach ihn der Maler und sagte: »Nun, Brunner – ich sehe, 's wird Euch schwer und Ihr erzählt mir's ein andermal weiter, denn ich laß nun nicht mehr von Euch.« Beim Weggehen aber sagte Brunner: »Herr Maler, glaubt mir's, ich bin in vielen Schlachten gewesen und hat mich kein Pulver und kein Donner erschreckt – aber Euer Wort, wie Ihr meinen Namen und meine Mutter genannt habt, das ist mir wie eine Kugel ins Herz geflogen. Und die soll nimmer herauskommen, so Gott will. Gott segne Euch, junger Mann, und Eure Eltern, wenn Ihr sie noch habt.« Er nannte ihm noch Namen und Wohnort und versprach am Morgen zu kommen.

Der Maler stand auf und nahm Abschied und sah dein Hechtgrauen noch lange nach, und ging dann zurück in den hell erleuchteten Saal. Sein blasses Gesicht und sein stillgewordener Mund verrieten wohl, daß ihm etwas passiert sein müsse. Ihm war, er sähe die betende alte Mutter von .... und ihren Daniel unter dem Zypressenbaum in Rom.

Am folgenden Tag hielt schon in der Frühe ein leichtes Zweigespann vor dem Hause des Malers an der Piazza d'Espagna. Der alte Domeniko, der Diener im Hause, half dem Herrn aus dem Wagen. »Ich will zu Signor Carlo, einem Maler, wohnt er hier?« – »Gewiß,« sagte der alte Diener, »einen fleißigeren giebt's nicht, als den Deutschen.« Bald trat der Daniel Brunner herein und legte ein schweres Paket mit Geld auf den Tisch. »Das ist für die Mutter, Signor Carlo – wenn Ihr so gut sein wollt, es ihr zu schicken.« Dagegen empfing er mit zitternden Händen den Brief mit samt dem schwarzen Kronenthaler der Mutter. Die beiden sahen sich noch oft und der Hechtgraue konnte nicht genug seinen Dank beweisen. Oft kamen sie im Gespräch an den steinernen Tisch in der Villa Borghese und wie wunderbar Gott sie dort zusammengeführt. Der Maler hatte nach Hause geschrieben und das Geld gesandt, auch Antwort bekommen durch den Onkel, daß die Alte sich nun gerne zur letzten Reise schicken wolle, seit sie wisse, daß ihr Sohn lebe. Der Maler war im Sommer auf ein paar Monate ins Gebirg gezogen, und als er wiederkam, war Daniel Brunners Haus geschlossen. Die Nachbarleute sagten: er sei fort nach Deutschland zu seiner Mutter. Das Jahr darnach kehrte auch der Maler heim, nachdem er sich unterwegs noch lange aufgehalten. Den alten Onkel traf er nicht mehr am Leben. Auch die Alte war gestorben. Die Pfarrerin erzählte aber, wie einst ein großer sonnenverbrannter Mann gekommen sei und nach dem Pfarrer und der Ursula Brunner gefragt habe. Sie sei schon ein halbes Jahr vorher heimgegangen, triumphierend, daß sie recht gehabt, daß ihr Daniel in Italien sei und noch lebe und gefunden sei. An ihrem Grab sei der Fremde lange gestanden und habe ihr einen Denkstein setzen lassen, den Armen Geld vermacht und sei wieder fort, weil alles ausgestorben war von seiner Familie. – Das hat mir mein Vater (denn das ist der Maler gewesen) oft mit Rührung erzählt und hinten dran den schönen Vers von Hebel, der auch im Oberland zu Haus ist, citiert:

O 's isch en Engel ußem Paradies
Mit sanften Augen und mit zartem Herz,
Vom reine Himmel abe hät en Gott
Den Chindlene zum Trost un Sege gschickt.
Er hüetet sie am Bettli Tag und Nacht,
Er deckt sie mittem weichen Fegge zue
Und weiht er sie mit reinem Odem a,
Wirds Äugli hell un's Bäckli rund un rot.
Er treit sie uf de Hände in der G'fohr,
Gönnt Blüemli für sie uf der grüenen Fluer
Un lächelt still un het sei süeße Freud'
Un Mutterliebi heißt si schöne Name!


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