Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Eine Hundstags-Wanderung im Achteck und Dreieck

Von Baden-Baden nach Herrenwies, Hornisgründe und Mummelsee, Allerheiligen über Windeck nach Affenthal, Fremersberg und Baden

Es war im Jahr 1840. Drüben über dem Rhein krähte der gallische Hahn und schlug mit seinen Flügeln. Freund Becker sang damals sein Lied:

Sie sollen ihn nicht haben,
Den freien deutschen Rhein,
Ob sie wie gier'ge Raben
Sich heiser darnach schrei'n.

Das donnerte hinüber und die Rothosen gaben sich zufrieden.

Als das Kriegsgewitter verzogen war, kamen gerade die Ferien. In der guten Residenz war's so heiß wie in einem Backofen. Den Büblein war im Winter der Verstand bei der grimmigen Kälte beinahe eingefroren, und der kleine Rest, der noch geblieben war, drohte in der Hitze einzutrocknen; darum beschloß das Lehrerkollegium eiligst, ehe noch einer zu Schaden kam, das Gymnasium zu schließen. Der große lange Schuldiener, der Pontius hieß und mit Beinamen noch zum Überfluß Pilatus geheißen wurde, schloß die Thüren und sagte denen, die nichts mehr zu suchen hatten und in den Schulzimmern sich noch an den Tintenfässern versündigen wollten: »Fort, ihr Buben; wartet nur, daß euch das Mäusle beiß'! Ich sag's eurem Vater!« Alles stob hinaus und hinunter.

Wir waren unser acht junge Freunde, von vierzehn Jahren bis zehn Jahren herunter. Also in dem richtigen Alter, wo Sonne, Mond und Sterne nicht finster geworden (laut dem Prediger am 12.) und die Müller nicht müßig stehen, die Heuschrecke nicht beladen ist und der Mandelbaum noch nicht blüht – (rat einmal, was das ist!). Schon lange war uns eine Fußreise in Aussicht gestellt, wenn in dem Zeugnisse kein häßlicher Klex wäre (NB. nicht vom Herrn Lehrer herrührend). Als das Zeugnis sauber ausfiel, wenn auch nicht glänzend, weil der Herr Professor das Lob nur in Quentlein und den Tadel in Zentnern auszuteilen gewohnt war (oder laut Reichstag: in Milligrammen und in Kilogrammen), so wurde das Versprechen gehalten und nach gegenseitiger Abrede mit den Eltern ein Reiseplan entworfen, frei aus dem Gedächtnis ohne Bädeker. Eisenbahnen gab's dazumal noch nicht und das Fahren kostete viel Geld, aber das Reiten auf Schusters Rappen war gesund. Jeder bekam einen ganzen Kronenthaler, thut nach Adam Rieß auf Badisch 2 Gulden 42 Kreuzer und auf Preußisch 1 Thaler 16 Groschen. Damit sollten wir »die schöne Welt« besehen. Die Zusammenkunft wurde nach Baden-Baden schlag zwölf Uhr im Schloß am Vehmgerichtskeller festgesetzt.

Jeder hatte seinen Schulranzen neu ausstaffiert, hinten mit Schweinsborsten verpicht und den beiden Anfangsbuchstaben des Namens versehen, zum Reisegebrauch umgewandelt; das Schulzeugnis diente als Paß, und statt: »Nase proportioniert,« »Augen grün,« stand darin: »Lateinisch ziemlich befriedigend,« »Mathematik beinahe mittel-mäßig.« So gleichartig die Gesellschaft sonst aussah mit den kurzen Jacken und den weißen, herausgelegten Hemdenkragen, dem handfesten Stock, der so groß war, daß, wie bei des kleinen Dolobella großem Säbel man mit Cicero sagen konnte: »Wer hat dich, mein Kleiner, an diesen großen Säbel geschnallt?« – so gleichartig das alles auswendig war – so ungleich war doch inwendig die Gesellschaft.

Numero Eins, ein Generalskind, hoch aufgeschossen und hellblonden wallenden Haares, war der Altertumsforscher in der Gesellschaft. Jeden alten Stein betrachtete er und an jedem Knochen fand er etwas Interessantes. Er ging namentlich auf alte Ritterschädel, rostige Waffen und dergleichen aus. Vor alten Burgen brach er in Begeisterung aus, weil der Geist seiner Ahnen lebendig in ihm wurde. Weil er so sehr auf das Wühlen in der Erde erpicht war, hatte er den Namen Maulwurf empfangen, den er mit Ehren trug.

Numero Zwei war dagegen ein leidenschaftlicher Käfersammler und führte immer eine Spiritusflasche bei sich, die manchmal aufging, so daß er stark nach Branntwein roch. Jeden unschuldigen Käfer packte er am Kragen, wie ein Land-Gensdarm einen Malefikanten, und brachte ihn in seiner Schnapsflasche in Numero Sicher unter und notierte sich den Fall. Er hieß darum Spiritus.

Numero Drei war ein Poet und machte verstohlen Gedichte, gute und schlechte, wie es kam. Er brummte immer vor sich hin und konnte oft nur die Reime nicht finden. Er wurde kurzweg Schiller genannt,

Numero Vier war ein raffinierter Steinsucher, zu deutsch Mineralogus. Er führte ein Hämmerlein bei sich, ein Stemmeisen und einen Ledersack, worin er seine Fündlein aufbewahrte. Er schlug nicht bloß draußen in der Natur an jeden Kieselstein, sondern auch in manchen Zimmern an den Konsolen die Ecken weg – darob wurde er Steinmetz genannt.

Numero Fünf war ein Schmetterlingsjäger und ging stets mit dem Garn, einer Korkschachtel und mit Stecknadeln bewaffnet. Er war immer auf dem Sprunge und konnte in der Luft nichts fliegen sehen. Er wurde daher kurzweg Förster geheißen.

Numero Sechs war ein leidenschaftlicher Soldat. Er führte eine kleine Terzerole und ein Horn mit Pulver bei sich und schoß an den schönsten Stellen in die Luft, um das Echo zu probieren. Er trug auch einen Dolch im Tornister gegen etwaige Überfälle. Er wurde darum Wallenstein geheißen.

Numero Sieben und Acht waren Brüder, des Sanges kundig. Numero Sieben war noch nebenher ein Maler. Er zeichnete für sein Alter ganz leidlich. Seine Skizzen fielen zwar manchmal so aus, daß man nicht recht wußte, was es eigentlich war; aber ihm war's genug, daß er es wußte. Er wurde Raphael gerufen.

Numero Acht war ein Sänger und Trompetenbläser und trug eine sechsklappige Trompete an einer grünen Fangschnur. Er mußte die Signale blasen zum Sammeln, zum Essen, zum Geschwindschritt und an schönen Stellen etwas »fürs Herz« vortragen. Um seiner Musik willen wurde er Mozart geheißen.

Das war die Gesellschaft, von der man noch manches sagen könnte, wenn nicht des Verfassers bergischer Freund recht hätte mit dem Worte: »Allzu große Deutlichkeit schadet.« Der geneigte Leser möge nur die Namen sich ordentlich merken.

Der Tag war also festgesetzt und auch die Stunde, wie zu einem Gerichtstermin. »Also droben in Baden beim Vehmgericht,« lautete die etwas grausige Parole. Und man sah sie herwandern, den einen rechts, den andern links aus den Straßen kommend. Man schüttelte sich die Hände und begrüßte sich mit deutschem Gruß.

Der »Förster« hatte noch die Hälfte des Butterbrotes in der Hand und sein Mund glänzte ringsum von Fett, als ihn Schiller und Maulwurf aufmerksam machten, daß Butterbrot nicht am Platze sei, wo es sich um ein ehrwürdiges Altertum wie ein Vehmgericht handle, und er sich ganz andern Gefühlen hingeben müsse. Der Förster würgte schnell noch die andere Hälfte hinunter und sagte: »So, nun bin ich fertig für die Schauergefühle.« »Mozart« blies kurz noch einmal zum Sammeln, wiewohl wir alle beisammen waren, der Ordnung halber, und die erste Excursion wurde unter Leitung des grauköpfigen Hofbedienten gemacht. Die Wendeltreppe ging es hinunter, und wir kamen in einen großen Raum, der ringsum von steinernen Bänken eingefaßt war.

»So, meine Herrschaften,« sagte der Alte (der stets das Plusquamperfektum statt des Präsens gebrauchte), »das wäre also das alte Römerbad gewesen, wo die alten Römer ihre Wunden geheilt haben. Dies stammt von dem Kaiser Marcus Aurelius her, daher auch der Name Aquae Aureliae kommt. Hier traten sie hinunter, hier war Seife und wohlriechendes Öl. Denn was ein rechter vornehmer Römer war, der ölte sich den ganzen Leib ein."

»Darum riecht mein Julius Cäsar auch ganz nach Öl,« sagte Wallenstein, der einst die Öllampe über seinen bellum gallicum geworfen hatte.

Der Steinmetz zog sein Hämmerlein heraus und wollte eben an dem Römerbad experimentieren, als der Bediente rief: »Bst! Sie junger Herr, ob Sie das bleiben lassen! Wenn das der Herr Badfonds erfährt, geht's Ihnen schlecht, das ist ja ein Altertum, da darf nichts weggeklopft werden.«

Beschämt steckte der Steinmetz seine Waffe wieder ein und der Maulwurf sah ihn noch extra vorwurfsvoll an. Wir stiegen nun noch etliche Stufen weiter hinab und traten in einen engen schmalen Gang, der zum Vehmgericht führte. Einer nur konnte hinter dem andern gehen, jeder ein Wachslicht in der Hand.

»Daß keiner hier lacht,« sagte vorsorglich der altertumsforschende Maulwurf, »das sind heilige Räume, die der Geist der Vehme umschwebt.«

»Mir gruselt's schon halber,« sagte Schiller.

Der enge Gang war passiert. Wir standen vor einer dicken, schweren, eisernen Thüre.

»Das war die Thür zum Vehmgericht,« sagte der Führer. »Diese Thüre hat das Innere vom Äußeren abgeschlossen, so daß niemand horchen konnte. Sie war also ›fermetisch‹ geschlossen.«

»Das kömmt wohl von ›Ferm‹, raunte Spiritus leise dem Wallenstein ins Ohr.

»Halt den Mund,« sagte Maulwurf unfein und erbost. »Ihr habt auch keinen Sinn für Vehmgerichte.« Die Thüre drehte sich langsam in den rostigen Angeln. Wir traten in ein Gemach, das an seinen Wänden steinerne Bänke hatte.

»So, hier,« verkündigte der Führer, »wurden diejenigen Menschen, die vor die heilige Vehme geladen waren, hereingeführt, was man jetzt ›schambrieren‹ heißt, wenn die Leute auf die gnädige Herrschaft warten müssen.«

»Der kommt um zwei hinunter,« sagte Spiritus wieder leise, »das ist ja ganz falsch, antichambrieren heißt es, das weiß ich von meinem Onkel, der sich die Füße in den Vorzimmern abstehen muß.« »So, hier waren die Malefikanten gewesen. Wir kommen jetzt zum Hauptsaal.«

Wieder öffnete sich eine schwere eiserne Thüre. Man stieg eine Stufe hinab. Ein ziemlich geräumiger Saal empfing uns.

»Hier sehen Sie, meine Herren, das war jetzt der Gerichtssaal gewesen. Da saßen die Freischöffen oder Richter in großen schwarzen Kaputzenmänteln, wo nur das Auge wild hervorblickte, damit niemand wüßte, wer der Richter war. Hier saß der Herr Direktor der heiligen Vehme.«

Der Maulwurf starrte hin auf den Platz, auf welchen die magere Hand des Bedienten deutete.

»Also hier,« sagte er nachdenklich und leuchtete mit seiner Wachskerze hin.

»Ja, Sie können's glauben, junger Herr. Das hat mir ein Herr Professor, der sich namentlich mit Vehmgerichter abgiebt, gesagt. Hier stand der Corpus delicti oder der Angeklagte und wartete auf sein Urteil. Und hier in der Ecke, da war jetzt der Scharfrichter gewesen mit dem roten Mantel. Wenn sie nun verurteilt gewesen waren, wurden sie durch den roten Kerl hinausgeführt, sehen Sie, hierher.

Damit führte er uns in einen engen Gang, an dessen Ende eine Nische in der Wand sich befand.

»Sehen Sie, hier war jetzt der berühmte Jungfrauenkuß gewesen. Da stand nämlich so eine Art Weibsbild ganz von Eisen. Das mußten die ›Relinquenten‹ küssen – aber wie sie hintraten, da schnappte sie mit beiden Armen, die mit lauter Dolchen und Messern gespickt waren, zu und stieß sie dem Unglücklichen in den Leib. Wenn er tot gewesen war, sehen Sie, dann hob der Henker hier dies Brett auf und ließ den Körper hinunterfallen in das grausige tiefe Loch.«

»Da sind noch Blutspuren,« rief der Maulwurf lebendig aus, »ganz natürliche.«

Der Steinmetz rüstete in der Stille sein Hämmerlein, um die Spuren wegzuklopfen und mitzunehmen. Als der Maulwurf es rasseln hörte, genügte ein Blick aus seinen hellen Augen, dem Hämmerlein das Handwerk zu legen.

Trotz alles weiteren Fragens war aus dem Bedienten nichts mehr herauszubringen. Seine Weisheit war abgelaufen wie ein Fadenwickelein oder wie eine Spieluhr, die absolut nichts Neues mehr produziert, selbst nicht auf Verlangen. So wurde denn der Rückweg angetreten. Überall trat man auf rote Erde. Der Maulwurf erläuterte das dahin: »daß die Vehmgerichter alle auf roter Erde sich etabliert hätten, damit man die Blutspuren nicht merkte. Darum seien die meisten auch in Westfalen, im Lande der roten Erde gewesen.«

Der Förster frug, ob nicht hier unten große Nachtschmetterlinge sich aufhielten.

»Ja,« sagte der Führer, »Fledermäuse fliegen als oft 'rum,« worauf sich der Förster mit Abscheu wegwendete und sich zufrieden gab.

Am Ausgange des Gewölbes wurde eine finanzielle Frage erörtert: wie viel nämlich dem kunstsinnigen Führer verabreicht werden sollte. Jeder klirrte mit seinem Gelde in der Hosentasche.

»Per Mann einen Groschen,« diktierte der Bediente endgültig, als er merkte, daß wir nicht einig werden konnten. Der Maulwurf wollte nämlich besonders nobel sein, aber Spiritus und Förster waren sehr dagegen und meinten, sie hätten ihre Kenntnisse nicht um einen Kreuzer bereichert und höchstens schlechtes Deutsch gelernt. Ja Wallenstein behauptete, er habe sich extra aufs Gruseln gefreut, aber es habe ihm gar nicht einmal gegruselt. Auch der Steinmetz erklärte sich unbefriedigt.

»Ihr seid eben unpoetische Leute,« sagte Maulwurf und Schiller, die meist zusammenhielten samt Raphael. Mitten in das Gewirr der Meinungen blies aber Mozart auf der Sechsklappigen im Schloßhof das Lied:

Da streiten sich die Leut' herum
Nur um den Wert des Glücks;
Der eine heißt den andern dumm,
Am End' weiß keiner nix! –

worauf ein allgemeines Gelächter entstand und die ganze Schar höchst vergnüglich abzog.


Es war mittlerweile ein Uhr mittags vorbei, und wiewohl keiner von uns, außer Wallenstein, eine Uhr besaß, die aber weder Zeiger noch Glas hatte, da ihm beides bei einer Fehde der Lateiner mit den Elementarschülern abhanden gekommen war, so trugen wir doch alle einen Chronometer bei uns, der äußerst genau ging und immer deutete und knurrte, wie eine alte Dorfuhr, wenn es zwölf Uhr war, und der hieß Magen, und das Brummen bedeutete die Stunde des Mittags und des Vesperbrotes. Da schlug es denn bei allen auf einmal aus. Mozart blies lustig zum Essen. Aber in dem teuren Baden-Baden durfte es nicht gewagt werden; so beschlossen wir denn, an den in der Mitte gescheitelten Kellnern, die vor ihrem Hotel lauerten, vorüberzugehen und einen Bauernhof aufzusuchen.

»Ihr könnt lang warten, bis wir kommen,« rief Spiritus zum Überfluß den Kellnern zu.

Unterwegs wurde ein großes Stück Backsteinkäse gekauft und dem Spiritus, weil er »ohnehin nach Branntwein roch,« zum Tragen übergeben. Brot und große Würste bildeten den ferneren Proviant. So zog man auf den Selhof, einen kleinen, abgelegenen Bauernhof; dort wurde auf der großen Bank unter einer gewaltigen Linde kampiert und frischgemolkene Milch getrunken. Bis um drei Uhr wurde Rast gehalten. Man zerstreute sich, jeder für sich gehend. Auf der bunten Wiese trieb der Förster, nach Schmetterlingen haschend, sich umher, Wallenstein lag im Grase und dachte an den großen Weltfrieden, der jetzt über der Erde lag. Um ihn hüpften und zirpten die Grillen im hohen Ährenfeld. Der Spiritus war seinen Käse glücklich los geworden, der in der Sommerhitze schon bedenklich zu fließen begonnen, und jagte den Käfern nach. Der Maulwurf aber war noch erfüllt von den Eindrücken des Vehmgerichtes. »Ja, das waren noch Zeiten,« redete er leise vor sich hin. Neben ihm zeichnete Raphael die herrliche Gegend. Aus dem wogenden Ährenfeld hob sich der dunkelgrüne Wald, dessen Spitze die alte Burg Hohenbaden krönte, am Fuße des Berges die Stadt mit ihren Türmen im heißen Mittagsstrahl flimmernd, und weithin verlor sich der Blick in die lichtblauen Vogesen, die durch die Pforte des Oosthals hereinschauten. – Was ist's doch um solch ein Lagern am heißen Sommermittag! Alles so still ringsumher, alles wartend auf den kühlen Abend, wo es durchs Feld zieht mit Gesang beim Klang der Abendglocke! Wie so ganz anders dann! Es ist, als dürfte man am heißen Mittag, der die Früchte reift, den lieben Gott in seiner Arbeit nicht stören. Die Stunde aber schlug zum Aufbruch, wenn wir noch Herrenwies, die Waldstation vor den hohen Hornisgründen, vor Nacht erreichen wollten.

Der Aufbruch wurde allen etwas sauer, und es bedurfte der ganzen Energie des Maulwurfs, um die Säumigen anzutreiben. Wir stiegen hinab zur Lichtenthaler Allee, jenem berühmten schattigen Gange, in welchem die vornehme Welt fährt, reitet oder zu Fuß lustwandelt. Freilich nahmen wir uns unter den geputzten Leuten, die in Pariser Moden daherkamen, wenig elegant aus. Den Förster plagte aber ein gewichtiges Bedenken auf diesem Gange. Er hatte nämlich eine Tante, die im Bade zur Kur war, und es verfolgte ihn der schreckliche Gedanke, daß wir alle seine Tante antreffen könnten, und er dann aus Reih und Glied treten müßte und sie sich vielleicht seiner schämte von wegen seiner Kameraden. Ganz entsetzlich aber wurde ihm zu Mute, als der nach Branntwein und Backsteinkäse stark duftende Spiritus ganz freundschaftlich that und sagte: »O, deine Tante, die kenne ich auch ganz gut, da würde ich mich nicht genieren. Ich würde sie um einen Gulden anbetteln auf die Reise.«

»Was! anbetteln!« riefen Maulwurf und Schiller entsetzt aus Einem Munde; »pfui, schäm dich, so etwas zu sagen. Das thun ja die Handwerksburschen, die fechten die Leute an.«

»Das ist ja keine Schande, da mache ich mir nichts daraus,« entgegnete Spiritus gelassen. »Es haben schon viele berühmte Leute in ihrer Jugend gebettelt.« Ein schallendes Gelächter belohnte den bescheidenen Sprecher. »Bravo, Spiritus!« rief Wallenstein und wollte eben anfangen zu singen:

Ein freies Leben führen wir,

als der Maulwurf ihm den Mund zuhielt und zurief: »Dort vorn läuft ja ein Gensdarm, du bringst uns alle ins Unglück!«

Die Tante begegnete uns nicht und des Försters Angst ließ merklich nach. Am stillen Kloster zu Lichtenthal vorbei bogen wir rechts ab nach dem Geroldsauer Thal. Wie lieblich lag's da mit seinem muntern Bächlein, das die Sägemühlen treibt, mit dem Sandsteinkreuze von Heidekraut und Ginster reichlich umwachsen, auf der Höhe des Weges, von wo sich der Blick aufs neue öffnet, unten die malerischen Bauernhütten und das kleine Kapellchen in den Fels gehauen!

Vieles ist jetzt verschwunden, was damals den Weg so anziehend machte; der Berg ist abgetragen, das Sandsteinkreuz ist verwittert, das Kirchlein liegt abseits, in das wir damals traten, die Mützen vom Haupte gezogen, jeder das Seine denkend, den meisten der Gang nach dem Eisenhammer und der fromme Fridolin im Herzen und Gedächtnis liegend! Konnte ihn doch Schiller ganz auswendig; bald waren wir alle an ihm, ihn zu bitten: »O, sag's mal her!« –

Da wurde es still unter den lauten Burschen, selbst Spiritus und Wallenstein verstiegen sich zu der gewagten Äußerung: »Der Schiller hat doch als manchmal recht schöne Gedichte gemacht.«

Von Geroldsau steigt der Waldweg durch herrliche Tannen hinauf. Bald waren wir am Wasserfalle, den der Bach, über einen Felsen sich stürzend, bildet. Ein buckliges Männlein hielt dort Wache und zeigte den Fall. In seine Strohhütte, mitten in der tiefsten Waldeinsamkeit, hatte er aus Baden Bier und Wein hergeschafft. So wurde denn bei ihm ein ganzer »Schoppen Batzenvierer« bestellt, thut also auf preußisch für 1 Silbergroschen 2 Pfennige, und dazu acht Gläser und Wasser aus dem Wasserfall. Das trübselige Männlein war über dies »glänzende Geschäft« nicht sonderlich erbaut.

Nach kurzer Rast ging's weiter. Die Waldnacht schlug mit den hohen Zweigen über uns zusammen und die Sonne schien schon golden, wie beim Scheiden, in den Wald. Wir marschierten fest zu. Die lauten Gespräche wurden stiller, je stiller es im Walde und je dunkler es wurde, zuletzt schwiegen alle. Wir waren schon beinahe vier Stunden gestiegen: der stille Ort Herrenwies konnte nicht mehr weit sein. Die Sonne war untergegangen und in dem dichten Walde ward's nachgerade finster. Da standen wir plötzlich vor einem Kreuzwege, an welchem zwei Wege sich teilten. Wohl stand ein Wegweiser da, aber seine Arme hatte er verloren. Maulwurf, der der Größte war, nahm den Wallenstein auf die Achseln und hob ihn hinauf, ob nicht etwas zu sehen wäre. Wir machten Licht, aber es war nichts zu erkennen. Dem Förster entfuhr aber halb weinend das Wort: »Wenn ich nur bei meiner Tante in Baden geblieben wäre!«

»Was?« riefen wir; »Fürchteputz! Wir finden den Weg schon!« Der Maulwurf hatte eine genaue Generalstabskarte von seinem Herrn Vater bekommen; wir setzten uns unter den Stock des trügerischen Wegweisers, zündeten ein Stück Papier an und leuchteten ihm auf die Karte. Richtig, da fand sich's, wir mußten links durch ein dichtes Gehölz und dann waren wir in Herrenwies. Mozart nahm die Trompete und blies aus Leibeskräften das Lied:

Der Jäger aus Churpfalz u.s.w.

und alle stimmten ein, und selbst der verzagte Förster sang sich die Angst aus dem Herzen. Bald schimmerten Lichter durch die Zweige und Hunde schlugen an; wir waren in Herrenwies, einer armen Waldkolonie. Eine weite, grüne Wiese, inmitten des dichten Waldes, mit Holzschindeln gedeckte niedrige Häuser, ihrer etwa zwanzig an der Zahl, ein ebenso armes Kirchlein und ein stattliches Försterhaus, so lag's dunkel vor uns.

Das Försterhaus, an dem großen Hirschgeweih kenntlich, war zugleich auch Gasthaus; wir eilten darauf zu und frugen nach Nachtquartier. Der Mond war schon aufgegangen und beleuchtete die müden Wanderer. Aber o weh! Im Forsthaus war gerade Kindtaufe und das ganze Haus voll Gevattern, die alle in der Nacht nicht mehr heim konnten. »Ich kann euch nicht helfen, ihr Herren,« sagte der Förster, »ihr müßt noch ein Halbstündlein gut zumarschieren, dann kommt ihr an ein einzeln stehendes Wirtshaus, da ist noch Platz, ich weiß es, ich war heute noch da.«

Er gab uns seinen Jägerburschen mit, der uns auf den rechten Weg führte und uns dann bald verließ. Wir stiegen über Heide und Moos auf großen Steinen weiter hinauf. Freilich hinkten ein paar nach, denen die Füße weh thaten und die entsetzlich müde waren. Namentlich wurde es dem kleinen Raphael sauer, so daß ihn der Maulwurf teilnehmend fragte, ob er ihn »hutzeln« sollte, d. h. auf dem Rücken tragen. Das wollte er aber doch nicht, und so schleppte er sich weiter, bis wir endlich an die einsame Waldschenke kamen. Es war ein großes Schwarzwälderhaus mit breitem, vorspringendem Dach, unter welchem ein Altan das Haus entlang lief. Hinter ihm die hohlen, kahlen Hornisgründe in die Höhe steigend, vom Monde grell beleuchtet.

Wir traten in den dunkeln Hausgang und tappten nach der Thür, da wir Stimmen hörten. Wir öffneten und waren im niedrigen, aber großen Wirtszimmer. Ein hellbrennender Kienspan erleuchtete dasselbe und warf den rötlichen Schein flackernd an die dunkelbraune Holzdecke des Zimmers.

»Können wir hier über Nacht bleiben? Der Herr Förster schickt uns und hat gesagt, daß Sie noch Platz haben,« so fragte Wallenstein frisch und keck die dicke Wirtin.

»Ja wohl, meine Herren, Sie müssen aber immer ein Paar in einem Bett schlafen. Wollen die Herren nichts essen?«

»Versteht sich,« sagte Spiritus, »ich hab' einen grausamen Hunger.«

»Pfannkuchen können Sie essen und Schinken,« erwiderte die dicke Wirtin. Jedem lief das Wasser im Munde zusammen. »Ja, ja! Pfannkuchen und Schinken, aber viel!« rief der Chor. Die Wirtin lachte und schürte das Feuer im Herde an, der an die Stube stieß.

Wir hatten vor Hunger kaum bemerkt, wer noch alles in dem Zimmer war. An den Wänden lehnten blitzende Äxte und an einem langen Tische saßen etwa fünfzehn Männer, alle in schwarzen, verräucherten Hemdärmeln und Kitteln, die Gesichter rußig und verwittert. Die Männer waren über unserem Hereintreten alle still geworden und schauten uns groß und neugierig mit forschenden Blicken an. Als wir uns setzten, schielten sie oft verstohlen nach unserem Tische und sprachen leise mit einander.

Wir machten uns weiter nichts daraus und bald dampften die Pfannkuchen auf dem Tische. Sie verschwanden ebenso schnell, als sie gekommen waren, und auch von dem Schinken blieb kein Stücklein mehr übrig, wiewohl der gutgezogene Maulwurf mahnte, doch nur anstandshalber ein Stückchen auf dem Teller liegen zu lassen. Aber Spiritus behauptete, dem Wirt dürfe nichts geschenkt werden.

Wir blieben noch eine Weile sitzen, da die Betten noch nicht fertig waren. Da fiel uns aber je länger je mehr die merkwürdige Gesellschaft, in der wir uns befanden, auf. Die weißen Augen, die aus den schwarzen Gesichtern so herüberschielten und das leise Zischeln der Männer machte namentlich den kleinen Raphael, den Förster und den Schiller bedenklich. Ohne etwas zu sagen, sah man's ihnen an, daß es ihnen nicht geheuer war. Als die Wirtin endlich zum Schlafengehen einlud und uns zwei Lichter gab, sagten sie auf der Treppe:

»Habt ihr's nicht gesehen?«

»Was denn?« fragte Maulwurf ruhig.

»Nun, die Äxte und die schwarzen Männer, die immer auf uns geschielt und gedeutet haben. Das sind Räuber, sag' ich euch,« entgegnete hohl und leise der Förster.

»Ach was, dummes Zeug,« sagte Mozart, »ich fürchte mich nicht, die thun einem nichts.«

»Ja, man kann aber doch nicht wissen,« meinte Raphael, »es giebt halt doch Räuber in diesen Gegenden.«

Unter diesen Gesprächen erreichten wir unsere Zimmer. Das eine lag am Anfang, das andere am Ende eines langen Ganges.

»Seht ihr's,« sagte der Förster, »die wollen uns nur trennen, daß wir uns nicht wehren können. Ach, wenn ich doch bei meiner Tante in Baden wäre.«

»Sei doch still, du dummer Kerl,« sagte Maulwurf, »dir thut niemand etwas.«

Wir wurden dann geteilt. Jeder von den größeren nahm einen kleinen zu sich und dann wurde befohlen, die Thür gut zuzuriegeln.

Es mochte wohl eine Stunde vorübergegangen sein, als wir leise an unsere Thür klopfen hörten. Der Maulwurf sprang auf und ging zur Thür. »Wer da?« rief er laut, und wir flogen alle mit einem Schlag aus den Betten.

»Ich bin's,« sagte draußen Spiritus leise, »macht nur auf.«

Da stand er mit den drei andern, jeder einen Teil seines Bettes und seiner Kleider schleppend, alle im leichten Nachtgewande, höchst geisterhaft anzusehen mit ihren blassen, verstörten Gesichtern. Wir ließen sie herein, die Barfüßer.

»Ja was habt ihr denn? – warum kommt ihr denn?«

»Ach, wir können's nicht mehr aushalten. Neben uns an der Wand, da sägt's und bläst's, wie wenn einer die Wand durchbohren wollte. Es ist ganz unheimlich, sag' ich euch,« versetzte angstvoll Spiritus.

Da wurde selbst der sonst furchtlose Maulwurf bedenklich.

»Gelt! ich hab's gesagt, daß sie uns umbringen; ach, wenn ich nur bei meiner Tante in Baden wär!« wiederholte weinend der Förster. »Jetzt halt den Mund mit deiner ewigen Tante in Baden, wir haben jetzt anderes zu thun,« sagten Maulwurf und Wallenstein. »Wir müssen uns jetzt selbst helfen. Ihr Fürchteputze legt euch ins Bett, und wer keine Angst hat, der bleibt auf. Kommt, wir schieben jetzt die große Kommode vor die Thür.«

Wir schoben sie vor. »So! Du, Wallenstein, ladest dein Terzerol und giebst mir deinen Dolch. Und du, Mozart, stellst dich ans Fenster und bläst Feuerlärm, wenn's losgeht, dort hinaus, wo der Förster wohnt. Dem Steinmetz seinen Hammer her und dem Spiritus seine Flasche mit den Käfern, die bekommen sie zu allererst an den Kopf.« Wir zündeten das Licht an, löschten es wieder aus, und zündeten es nach einer Weile wieder an, damit es reiche. So wachten denn drei, zwei auf der Kommode und einer am Fenster. Es regte sich nichts. Die alte Schwarzwälder Uhr schlug eins und zwei und drei – da wurde es unruhig im Hause. Wir hörten Thüren gehen und die Fußschritte leise auftreten.

»Aufgepaßt!« sagte Maulwurf, »jetzt kommen sie; Wallenstein, den Hahn auf!« In atemlosem Grausen lauschten wir nach der Thür, – unheimliche fünf Minuten vergingen, aber niemand kam, alles ging die Treppe hinunter. Der Morgen graute mit dem lichten Strahl herein in unser Zimmer. Da legten sich die drei Wächter auch schlafen. Wohl klopften der Wirt und die Wirtin, bei denen mir bestellt hatten, uns bei Sonnenaufgang zu wecken, aber es ward fortgeschlafen aus Todesmüdigkeit. Die Sonne stand schon ziemlich hoch, es mochte gegen sieben Uhr sein, als endlich Maulwurf aufsprang und ausrief:

»O wehle! (o weh) die Sonne ist schon ganz herausgeschlupft!«

Der Mozart sprang auf, um zum Aufstehen zu blasen. Schnell wurde die Kommode wieder an ihren Platz gerückt und in wenigen Minuten stand alles parat.

Als wir herunterkamen, war keine Axt mehr zu sehen, kein rußiger Mann mehr vorhanden. Wirt und Wirtin schauten uns aber verwundert an.

»Haben die Herren nicht gut geschlafen?« fragte die Wirtin. »Ich bin heute morgen so erschrocken, wie die eine Stube ganz leer war. Ich hab' gemeint, Sie seien durchgebrannt. Aber die andern habe ich schnarchen hören, da hab' ich mich halt zufrieden gegeben von wegen der Betten, von denen ich geglaubt hab', Sie hätten sie mitgenommen. Ja, aber was tausend, ihr Herren, was habt ihr denn angefangen heut nacht?«

Da saßen wir denn wie Butter an der Sonne. Endlich ergriff Wallenstein das Wort und erzählte höchst schaurig die Geschichte von den Fürchteputzen und was sie alles gehört hätten.

Da hielt sich die dicke Wirtin mit ihren Armen die Seiten und lachte, daß ihr die Thränen aus den Augen liefen, und rief immer nur: »Mann, komm schnell, es ist zum kranklachen – nein, so was!«

Wir wußten nicht, warum die Frau so lachte, und saßen ziemlich verdutzt dabei. Endlich kam sie wieder zu Atem und erzählte ihrem Manne die Geschichte. Nun lachten die Zwei noch einmal aus vollem Halse. Endlich aber riß dem Wallenstein die Geduld und er rief ärgerlich: »Was ist denn da zum lachen? Ihr Esel!«

Da lachte das Ehepaar erst recht, und der Wirt stammelte unter dem Lachen nur noch heraus: »So was ist noch nicht dagewesen. Ach! Nein, so was!«

»Wie so?« fragte Maulwurf gelassen.

»Ha nein,« sagte der Wirt immer noch lachend, »so was, das ist wirklich zum kranklachen!«

»Was denn?« rief Wallenstein zornig. »Hört doch einmal auf mit dem dummen Lachen.«

Endlich faßte sich der Wirt und fing an zu erklären, daß die rußigen Leute Holzhauer und Kohlenbrenner seien, die hier im Sommer arbeiteten. Diesen gehörten auch die Äxte, die wir gesehen. Die Säger aber an der Wand seien eben diese Leute gewesen, die hätten einen harten Schlaf und schnarchten so laut, daß man's durch ein paar Bretter hörte, und andere hätten's an sich, daß sie statt zu schnarchen nur so bliesen.

Nun platzten wir freilich auch in lautes Gelächter aus. Der Förster wollte sich zwar nicht gefürchtet haben und Spiritus auch nicht, nur so halb, wiewohl sie die Decke hoch über den Kopf gezogen hatten. Da brannte ihm aber Wallenstein seine Tante von Baden auf den Pelz, daß er jählings verstummte. Wir baten die biedern Wirtsleute herzlich um Verzeihung, sie möchten's uns nicht übel nehmen, aber wir hätten solche Geschichten gelesen, wie vom Wirtshaus im Spessart und vom »Siehdichfür« im Pforzheimer Stadtwald, und da hätten wir doch gedacht, es könnte am Ende auch hier so etwas passieren.«

»Wenn ich hundert Jahre alt werde, so werde ich halt an die Geschichte denken,« sagte noch einmal lachend die Wirtin.

Wir zahlten unsere Zeche, die per Mann zwölf Kreuzer machte; für den Schrecken wurde nichts bezahlt. Der Wirt zeigte uns den Weg hinauf nach den Hornisgründen. Wir verabschiedeten uns aufs herzlichste, und der Wallenstein bat dem braven Wirt den »Esel« noch extra ab. So verlief der erste Tag und die erste Nacht unserer Reise.


Mozart blies in die frische Morgenluft hinaus sein: »Wohl auf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd!« das heißt: auf die frischgeschmierten Stiefel, die wir uns alle selbst kunstgerecht gewichst hatten. Nebenbei gesagt, hatte Spiritus eine stille Leidenschaft, die, wie er einmal in einem unbedachten Augenblicke verriet, im – Stiefelwichsen bestand. So hatte er auch am Morgen glänzende Proben seiner Kunstfertigkeit gegeben. Aber bei einigen unter uns hieß es nicht bloß auf die Stiefeln, sondern auch auf die am gestrigen Tage frischgelaufenen Blasen treten, was bekanntlich keine besondere Herzstärkung ist. Aber über dem prächtigen Morgen war bald alles Leid vergessen. Wallenstein schoß das Terzerol, das den Räubern gegolten hatte, in die Luft, und man wanderte fröhlich in den Morgen hinein. Der Wald wurde lichter, kleiner die Tannen; zuletzt war nur noch Heidekraut und Moos zu sehen. Der Wind fing schon an ganz erheblich zu pfeifen, als wir nach dreistündigem Marsche bergan die Höhe des 3600 Fuß aufsteigenden Berges richtig erklommen hatten. Auf der Spitze befand sich ein Turm, aber ohne Eingang, ein großer viereckiger Steinhaufen. Wir setzten uns hinter den Wind und langten die Eßwaren vor. Zwar lockte die schöne Aussicht, aber was ist die allerschönste Aussicht, wenn der Magen zwölf Uhr schlägt! In allen war das gleiche Gefühl. Spiritus packte wieder den weithin duftenden Käse aus, Wallenstein die hartgesottenen Eier, Maulwurf eine Unmasse Butterbrote; der Förster hatte in seiner Büchse noch eine Flasche Wein ohne Glas. Ängstlich wurde beobachtet, ob nicht einer zu viel trank. Wallenstein that einen kräftigen Zug, da riefen sie alle: »Halt, das ist aber einmal viel!« Er aber behauptete, es sei noch kein Tropfen in den Magen gekommen, sondern unterwegs im heißen Hals »rein verdunstet.« Ob dieser neuen Verdunstungstheorie wurde er gehörig bewundert.

Der Imbiß war genommen, und nun mit gestärktem Magen in die Gegend hinabschauend, welcher Blick! Da lag die lachende Ebene mit dem weiten Silberstreif des Rheins, den wir auf acht Stunden Weges verfolgen konnten, all die reichen Dörfer des Rheingaues und die alten Burgen auf den vorspringenden Bergen. Drüben das Elsaß mit den Höhen des Wasgaus, Straßburg mit seinem Münster so nahe, daß Wallenstein meinte, er sähe die Rothosen unten am Thore von Straßburg Schildwache stehen. Wie herrlich ist's doch, wenn das Auge schweifen kann in die Nähe und in die Ferne, wenn solch ein kleines Männlein mit seinen zwei Augen eine ganze Welt einsaugt, alles sieht und von niemand da unten gesehen wird! Da saß ich und dachte, wie die Straßburger Schulbuben jetzt auch heim gingen und ihr welsches Zeug im Tornister hätten, und wie traurig das sei, daß das schöne Land da drüben Deutschland geraubt worden. Da hätte ich stundenlang so hinabträumen können von Einst und Jetzt. Ich sah die kühnen Raubritter hervorbrechen aus ihren Hohlwegen, den biedern Handelsmann überfallend, der zur Frankfurter Messe zog; aber da zog es mich selbst hin in der heißen Mittagsluft und die Sinne schwanden über der Betrachtung, ich schlief fest ein; und noch einmal zog Straßburgs Münster und die alten Ritter durch den wirren, schönen Traum.

Unterdessen hatten die andern sich zerstreut, jeder wieder auf seinen Fang ausgehend. In Mozarts Nähe aber brummte etwas – und das Brummen weckte ihn. Es war Schiller, der über einem Gedichte saß, das er schon lange im Sinne haben mußte. Er hatte es fertig gemacht. Es galt dem Vehmgericht in Baden. Schüchtern sagte er zu Mozart: »Soll ich dir's 'mal vorlesen? Aber du darfst nicht lachen.«

»Lies nur, Schiller – deine Sachen sind alle gut, das hat der Herr Professor schon gesagt: ›Schillers Sachen sind alle moralischer Natur.‹«

Schiller räusperte sich und las:

Im Vehmgericht zu Baden
Ist's finster und sehr kalt,
Und graue Geister laden –
Der Fußtritt still verhallt!

Schiller stockte. »Nur weiter!« rief Mozart: »Der Fußtritt still verhallt.« –

Im Vehmgericht zu Baden
Ist steinern jede Thür;
Es waltet ohne Gnaden
Die heil'ge Vehme hier.

Da sitzen vermummte Gestalten,
Sie richten hier das Recht;
Sie haben heimliche Gewalten
Über König, Ritter und Knecht.

»Der ist ein bißchen holprig,« sagte Mozart. »Schadet nix. Nur weiter.«

Im Vehmgericht zu Baden
Da wird's dein Menschen weh; –
Gottlob, daß ich ohn' Schaden
Den Himmel wieder seh'.

»Das ist nicht übel, Schiller, das mußt du vorlesen. Aber du liest so schlecht. Gieb acht, ich will's einmal vorlesen. Das muß nämlich grauslich und mit hohler Stimme vorgetragen werden.« Schiller hörte zu – er kannte sein eigenes Werk nicht mehr.

»Ja, so ist's besser,« meinte Schiller.

»Wenn die andern kommen, so wird's vorgelesen« sagte Mozart. – Es wurde ein Trompetensignal gegeben und alle sammelten sich. Im Halbkreis sitzend wurde das Gedicht gelesen. Alle stimmten zu, daß es etwas ganz Vehmgerichtartiges habe, und Wallenstein meinte: »es habe ihm fast gar gegruselt,« was als großes Lob aufgenommen wurde.

Es ward wieder zum Aufbruch geblasen; nun ging es hinab von der Höhe zum Mummelsee, der etwa 800 Fuß tiefer als der Gipfel liegt; wir erreichten bald wieder die Bäume, große herrliche Tannen mit weit ausgebreiteten Zweigen, ein schmaler Fußpfad führte durch den dichten Wald. Durch die reichlich gefallenen Nadeln und die knorrigen Baumwurzeln war der Weg so glatt und holprig, daß da und dort einer im tollen Hinunterjagen sich überschlug. Bald blickte der tiefschwarze See durch die Bäume. Wie eine Camera obscura gab der unbewegte See leuchtend das Bild der Wölkchen am Himmel und der großen Tannen am Ufer wieder. Kein Leben war weit und breit wahrzunehmen. Nur einige Libellen flogen lautlos umher und einige Frösche sprangen bei unserer Annäherung von den großen bemoosten Steinen, welche am Rande des Sees lagen, in die Tiefe. Sonst war alles totenstill rings umher. Der See war rings von hohen Tannen umgeben, ihrer etliche waren vom Sturm hinein gestürzt worden und lagen mit ihren Stämmen und Ästen im Wasser.

Die Stille, die Einsamkeit ringsum, der leis rauschende Wald und der spiegelglatte See – das alles machte, daß keiner ein Wörtlein zu sprechen wagte. Endlich brach der Maulwurf das Schweigen. »Der See ist unergründlich tief. Junge Bursche aus Herrenwies wollten hier einmal kahnfahren, aber das Wasser des Sees trägt keinen Kahn. Einige schwammen in den See hinaus und ließen ein dreihundert Ellen langes Senkblei hinunter, aber sie fanden keinen Grund. So berichtet ein altes Werk über den See.« Der Maulwurf trug diese Mitteilung in einem ganz bedeutenden Amtstone vor, der keine Widerrede erlaubte. So starrten wir denn alle hinab in den »unergründlichen« See und er kam uns allen nun noch einmal so merkwürdig vor als vorher. Dem Spiritus jedoch wollte das Wort »unergründlich« nicht einleuchten, denn er meinte, es gebe nichts in der Welt, dem man nicht auf den Grund kommen könnte.

»Deiner Schnapsflasche kommt man freilich auf den Grund! Aber da will ich euch noch etwas anderes vom Mummelsee erzählen, auf dessen Grund man auch nicht kommen kann. Kommt, wir wollen uns hierher setzen auf einen Baumstamm.« Wir folgten alle. Wir wußten, daß Raphaels Vater diese Gegenden oft bereist hatte und viel schöne Geschichten erzählen konnte, wie er sie aus dem Volksmund gehört.

Raphael begann denn folgendermaßen: »Hier in dem See, wenn es Abend wird und still ringsum und nur die Tannenwipfel rauschen, tauchen aus dem dunkeln Wasser beim Mondenschein die Seejungfrauen herauf, die man auch »Mümmlein« heißt, woher der See auch seinen Namen »der Mummelsee« hat. Tief unten ist ein herrlicher Palast, und alles darin von hellem, lauterem Gold und Kristall, Auf dem goldenen Stuhle sitzt der Seekönig, eine goldene Krone auf dem Haupte, ein langer silberweißer Bart wallt ihm bis auf die Brust herab. Dieser hat die Macht über die Seejungfrauen, alle müssen ihm folgen, und wehe, wenn eine nicht gehorsam ist. Unten müssen sie arbeiten, das Gold blank machen und die Kristalle schleifen, doch nach der Arbeit erlaubt ihnen der alte Seekönig, in der Nacht herauf zu tauchen und an der Oberfläche des Sees zu verweilen. Darauf freuen sie sich alle. Aber einst gingen sie auch zu den Menschen im Thal und freuten sich, wenn sie bei ihnen sein konnten. Denn gern sahen sie der Menschen Thun und Treiben und ihre Liebe, und wären am liebsten oben geblieben, statt wieder in den dunkeln See zu tauchen. Sie bekamen an stillen Winterabenden die Erlaubnis, hinunter ins Thal zu gehen zum nächsten Dorf, zu braven Bauersleuten. Dort setzten sie sich mitten unter die Frauen und Jungfrauen, die abends mit ihren Spinnrocken zu einander kamen. Die jungen Bursche saßen auf der Ofenbank oder lagen oben auf dem Ofen, sahen zu und schnitzten ihre Handwerksgeräte. Aber auch die Seejungfrauen setzten sich an den Spinnrocken und spannen mit, so fein, wie es keine von den Dorfmägdlein konnte. Der Reihe nach erzählte man, bald eine von den Jungfrauen aus dem Dorf, bald eine von den Seejungfrauen. Aber die letzteren erzählten am schönsten, denn sie sprachen vom See und seiner Herrlichkeit, von den reichen Perlengeschmeiden, von den goldenen Armspangen und von ihrem Singen und Treiben da unten. Da lauschten die Bursche hoch auf und wären am liebsten selbst mit hinunter in den See gegangen. Aber die Seejungfrauen redeten ihnen solches Vorhaben aus; denn im See könne kein sterblicher Mensch leben. Wenn die alte Schwarzwälder Uhr warnend elf schlug, dann standen die Mümmlein hastig auf und eilten fort. Niemand durfte sie begleiten, noch ihnen nachsehen, denn sonst, so hieß es, kämen sie nie wieder. Jedesmal aber, wenn sie dagewesen, hatten die Dorfmägdlein dreimal so viel gesponnen als sonst, und da und dort fand sich auch ein schönes Stücklein Goldfaden auf der Spule. Dann und wann kamen die Seejungfrauen auch zu kranken Bauerfrauen, brachten ihnen Arznei aus Waldkräutern und Seeblumen, hüteten ihre Kinder und sangen sie in Schlaf. Wo ein solches Mümmlein bei einem Kranken gewesen, brauchte man keinen Arzt, denn der Kranke wurde schnell gesund. So waren denn die Mümmlein rings in der Umgegend gekannt und geliebt. Da blieben sie einmal aber Wochen lang aus, niemand wußte, was geschehen war und warum sie nicht kamen. Die Ursache davon war, daß junge Burschen und Mädchen in der Mainacht zum See hinaufgegangen waren und sie belauscht hatten. Das hatte der Seekönig gemerkt und mit seinem goldenen Dreizack schlug er voll Zorn in den See, so daß er wallte und brauste und fast gar die thörichte Schar ergriffen hätte. Zur Strafe sollten daher die Mümmlein nicht wieder ins Thal kommen, denn die Menschen seien undankbar und verdienten es nicht mehr. Da war großer Jammer im Dorf und auf den einzelnen Höfen und jedermann riet, wer wohl die Schuld davon trüge. Um diese Zeit begab es sich, daß eines der Mädchen, das in der Mainacht mit am Mummelsee gewesen war, krank wurde. Als der Vater hinauf zum See gehen und die Mümmlein zu seinem kranken Kinde holen wollte, da richtete sich das Mädchen hoch auf und sagte traurigen Blickes: »Ach, die Mümmlein kommen nicht, ich weiß warum; geh nicht zum See, sonst ist's dein Tod.« Als der Vater in sie drang, da erzählte sie, wie sie hinaufgegangen wäre mit ihren Gespielen und die Mümmlein belauscht hätte; sie weinte bitterlich dabei und sagte: »Dieser Schuld wegen muß ich jetzt auch sterben.« In der Nacht aber, als sie alle glaubten, daß es mit ihr zu Ende gehe, that sich die Thüre auf und ein Mümmlein kam und setzte sich an ihr Bett und legte ihr Umschläge von Schilf auf die fieberkranke Stirn. Da schlug das Mädchen die Augen auf und schaute das Mümmlein erschreckt an; die aber sprach zu ihr: »Weil du noch so jung bist und dein Unrecht bekannt hast, darum habe ich mich aufgemacht, dir zu helfen; aber versprich es mir, daß du nie wieder des Nachts an den See gehst; denn wenn dies noch einmal geschieht, dürfen wir niemals wieder kommen, und unsere schönste Freude ist dann auch dahin, denn wir sind gar zu gern bei den Menschen.« Dann gab sie dem Vater noch einige Arzneien, küßte das kranke Mägdlein und ging schnell hinaus. Nach dieser Zeit kamen sie wieder und alles war wie vorher, nur daß sie noch ängstlicher nach der Uhr schauten und früher aufbrachen, damit sie ja vor Mitternacht zum See kämen. Da geschah es an einem Winterabend, daß eines der Mümmlein eine wunderschöne Erzählung angefangen hatte; atemlos hörten die Bursche zu und die Mägdlein spannen nicht mehr vor lauter Hören. Als die Geschichte gerade am schönsten war, schlug es elf Uhr; schnell brach das Mümmlein ab und versprach die Fortsetzung beim nächsten Besuch. Sie wußte nicht, daß einer der Bursche verstohlen den Zeiger der Uhr um eine Stunde zurückgerückt hatte. Wohl schlug die Uhr nur elf; als aber der Wächter draußen ins Horn stieß und die zwölfte Stunde mit dem Lied absang: »Hört, ihr Leut', und laßt euch sagen, unsere Glock' hat zwölf geschlagen! Nur zwölf Stunden hat der Tag, wer weiß, wie bald man sterben mag,« wurde sie totenblaß und schrie vor Entsetzen auf: »O weh, o weh, nun ist's für immer vorbei!«

Und seit dieser Zeit steigt kein Mümmlein mehr ins Thal herab; denn der Seekönig hatte es geschworen, daß, wenn sie einmal zu spät zurückkämen, kein Mümmlein mehr zu den Menschen hinauf dürfe. Nur dann und wann tauchen sie in stillen Mitternachtsstundcn aus dem See herauf und man hört sie leise klagen, aber kein Mümmlein kommt mehr zu den Menschen herab ins Thal.«

Als Raphael geendet, schwieg die ganze kleine Gesellschaft. Es giebt ja ein Schweigen, wobei keiner der erste sein will, der wieder zu sprechen anfängt, weil man fühlt, daß man nichts Unpassendes sagen dürfe. Selbst der philisterhafte Spiritus wagte kein Wörtlein. Allzulange hielt das Schweigen jedoch nicht an, und der Maulwurf zeigte, daß er sich ganz auf der Höhe der Stimmung befand. »Daher kann ich es nur auch erklären,« sagte er, »warum man erzählt, man dürfe keinen Stein in den See werfen. Man behauptet, daß man damit den Seekönig reize und dann stets ein Gewitter komme.«

»Was der nicht alles wissen will!« rief Wallenstein; »wißt ihr was, mir wollen einmal einen Stein hineinwerfen und probieren, ob ein Wetter kommt!«

»Das läßt du bleiben!« riefen Maulwurf, Schiller und Raphael wie aus Einem Munde. Nur der Spiritus und der Förster stimmten ihm bei, wiewohl letzteren eine geheime Angst ankam, es möchte am Ende doch etwas Wahres an der Geschichte sein. Während man sich noch stritt, blies Mozart das Lied vom schönen grünen Wald, um die Stimmung wieder herzustellen und, wenn es möglich wäre, die Nixen heraufzurufen. Der Steinmetz war seitwärts gegangen, nach Steinen zu suchen, um irgend ein interessantes Stück von hier mit nach Hause bringen zu können. Als er aber nichts fand, warf er unmutig einen großen Stein in die Tiefe. Da fuhren die Knaben zusammen. »Wer hat das gethan?« riefen sie, und selbst der Spiritus war erschrocken darüber, daß einer es doch gewagt hatte. Alle warteten in ängstlicher Spannung, ob nichts Wunderbares geschehe. Der Himmel war noch blau und spiegelte sich im See; aber bald zog ein Lüftlein daher und jagte die Wolken am Himmel zusammen, der bald grauschwarz darein sah. Dicke Tropfen sielen herunter, der Wind strich durch die Wipfel und von fern grollte der Donner. Da ward uns doch allen angst und bange; denn der See wurde unruhig und trat aus dem Ufer, und von oben prasselte der Regen und die Blitze leuchteten über uns hin durch den finster gewordenen Wald, den wir in wilder Flucht hinunter jagten. Hinterdrein trabte der unschuldige Missethäter, der Steinmetz, dessen Lederbeutel dann und wann beim schnellen Springen aufklirrte. Keiner dachte daran, daß auch ohne den Steinwurf das Gewitter am heißen Sommertage über die Höhe gekommen sein würde. Bei dem unheimlichen Zusammentreffen des furchtbaren Gewitters mit dem Vorausgegangenen wurde uns allen höchst grausig zu Mute. Bis auf die Haut durchnäßt kamen wir unten in dem Wirtshause an, das etwa anderthalb Stunden tiefer als der See liegt. Aber hier war keines Bleibens. Der Wirt mußte wohl auf dem Felde beim Ernten sein, denn alles war fest geschlossen und nur unter dem breiten Vordach des mit Stroh gedeckten Hauses konnten wir uns einigermaßen decken. Wir schauten nach der Karte, es mußte wohl noch eine Stunde nach Allerheiligen, dem alten Kloster sein; so beschlossen mir denn in schnellem Trabe, trotz des argen Wetters, hinabzugehen. Wir brachen auf. Gesprochen wurde unterwegs nicht viel, denn dazu war keine Zeit. Jeder hatte nur auf seinen Weg zu sehen.

Unterdessen heiterte sich der Himmel wieder auf, da und dort blickte ein Sonnenstrahl durch den Wald, und das Gewitter zog grollend immer ferner, wie ein geschlagener Feind, dessen Nachhut dann und wann noch einmal dreinfeuert. Wohl schüttelte der frische Wind noch manchmal ein ordentliches Spritzbad von den triefenden Tannen auf die wandernde Schar, die lachend und eilig darunter hinweglief. Aber wie duftete es nun nach dem erquickenden Regen aus den Zweigen und Wiesen so würzig und labend! Die Vöglein, die während des Gewitters sich versteckt hatten, wagten sich wieder aus dem Dickicht hervor, der Specht fing wieder zu hacken an, der Häher schrie, und da und dort lief ein erschrockenes Häslein, das über dem Gewitter seine sonstige Geistesgegenwart und Mannhaftigkeit verloren hatte, wieder tiefer in den Wald zurück.

Da fanden denn die Buben auch die Sprache wieder, die sie während des Gewitters fast verloren hatten. Doch wollen wir sie darüber nicht schelten. Wenn unser Herrgott im Donner redet, dann muß das Menschlein auf Erden zuhören und fein stille sein. Es ist doch auch gut und schön, wenn Menschen stille sind, zum Exempel, wenn sie die Sonne still hinter den Bergen sinken sehen. Da ist Schweigen viel besser, als »Ach wie schön!« sagen. Nicht wahr, mein Büblein? Die Narren haben ihr Herz im Munde, die Weisen aber ihren Mund im Herzen.

So ging es denn unter fröhlichen Gesprächen dem alten Kloster Allerheiligen zu, dessen verfallene Ruine uns bald aus dem tiefen Thalkessel entgegenblickte.

Kloster Allerheiligen war einst eine berühmte Abtei, von gelehrten Cisterciensermönchen bewohnt. Die Sage berichtet, daß die Mönche, die von reichen Rittern und Herren einen schweren Sack voll Gold zur Erbauung eines Klosters erhalten hatten, denselben einem Esel aufluden, den sie frei in den Wald laufen ließen. Wo der Esel sich lagern und den Goldsack abwerfen würde, dort sollte das Kloster erbaut werden. Und der Esel trabte in den vielgrünen Wald hinein und die Mönche in gebührender Entfernung hinter ihm her. Er stieg den Berg hinan, aber das Bergsteigen war nicht seine Passion, darum wandte er sich um, einer Thalschlucht zu, deren Wasser er rauschen hörte. Da, auf einem schönen samtgrünen Flecke scharrte er dreimal, und warf, wie ein müder Handwerksbursche seinen Ranzen, so seinen schweren Sack ab, indem er zu sich selbst in der Eselssprache sagte: »Hier ist's ganz pläsierlich, die Quelle rauscht, die Vögel singen und Gras und Disteln giebt's hier genug, – hier willst du ausruhen.« Die Mönche kamen herzu, bezeichneten die Stelle, lichteten den Wald, erbauten das Kloster, und lebten dort als gelehrte, brave Leute. Denn man muß nicht denken, daß die Mönche in grauer Vorzeit nur Faulenzer gewesen seien.

Wir dachten nun freilich weniger an die Verdienste der braven Mönche, als an unsere nassen Kleider, trockenen Kehlen und knurrenden Magen. Neben der abgebrannten Kirche, die der Blitz zu Anfang dieses Jahrhunderts zerstört hat, war ein Teil des Klosters mit seinem Refektorium und kleinen Zellen zu einem Försterhause umgewandelt worden, das zugleich Wirtshaus war. Darin hauste und wirtschaftete ein alter Förster, kurzweg der wilde Jäger genannt, ein kleiner untersetzter Mann mit langem Vollbarte, der ihm bis auf die Brust herabging. Der alte Förster stand schon unter der Hausthür, strich sich seinen langen Bart, setzte seinen großen Schlapphut mit den Reiherfedern zurecht, lachte dann ganz weidmannsmäßig, daß es weit in den Wald hineinschallte, und rief: »Alle Hagel, Bomben und Granaten! Kommt ihr endlich, ihr gebadeten Stadtmäuse! Gelt ihr Knirpse, der Regen macht naß im Gebirg? Potz Mohren und Türken, wie seht ihr aus! Da muß die Mutter schaffen, daß sie euch auszieht, hab' schon vom Jägerburschen, der oben am Mummelsee war, gehört, was ihr für Fürchteputze seid. Kommt nur herein, es ist alles gerüstet.«

Ob dieser Anrede waren wir alle etwas stark verblüfft; Raphael und Schiller, Spiritus und Förster verkrochen sich sogar etwas hinter den Maulwurf und den Wallenstein, welcher letztere sich aber von dieser biderben Anrede ganz angeheimelt fühlte. »Guten Tag, Herr Forstmeister,« sagte er (denn er wußte, daß der Förster diese Anrede gern hörte); »ja, uns ist's schlecht gegangen. Nicht wahr, wir können heute nacht hier bleiben?«

»Versteht sich! Nur vorwärts, ihr Stadtmäus', ihr gebadeten!« rief im tiefsten Baß der Förster.

Des »Forstmeisters« Ehefrau, die aus der Residenz gebürtig war, hörte uns gleich am Dialekt an, woher wir kamen, und wollte auf breitester Grundlage ihre Erlebnisse von Jugend an erzählen, »weil sie auch da her wäre,« als ihr Mann sie mit den Worten unterbrach: »Mutter, vergiß deine Red' nicht, aber die Stadtbuben sind pudelnaß und kriegen heut nacht Zahnreißen und Leibgrimmen, wenn du ihnen nicht Socken giebst und Wollenblumenthee machst.«

»Was, Wollenblumenthee! – warum nicht gar!« rief entsetzt Wallenstein, dem alles, was nach Thee roch, unausstehlich war; »ich trinke keinen!«

»Potz Wildsau und Fuchspelz – wollt ihr still sein, ihr Herren! Wenn ich einmal sage: das wird gemacht, so geschieht's,« rief der »»Forstmeister«. Flugs zog die ganze Gesellschaft die Kleider aus, die Stiefeln flogen von den Füßen, was bei manchem recht schwer hielt, da sie gründlich naß waren. Der Jägerbursche mußte beim Ausziehen weidlich mithelfen. Um den großen Kachelofen, in welchem trotz des Sommers lustig das Feuer brannte, wurden auf langen Stangen die Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehangen. Dann trat unter die im leichtesten Nachtkostüm dasitzende Gesellschaft der Forstmeister mit dampfendem Wollblumenthee. Da mußte jeder so warm wie möglich eine Tasse hinunter trinken, bis wir wieder Wärme in den Gliedern fühlten. Mozart blies zum Tanze auf und um den Forstmeister herum, der in der Mitte stand, tanzte das lustige Septett. Jeder von uns bekam ein Paar grobe Socken aus der Truhe der Knaben des »Forstmeisters«, die unsere Füßlein gewaltig stachen und kratzten, denn unsere Mütter hatten sie nicht gestrickt.

Als die Kleider getrocknet waren und jeder sich wieder behaglich warm fühlte – nur die Stiefeln wollten nicht so schnell trocknen – führte uns der Forstmeister in das »Herrenzimmer«, wo noch andere Gäste saßen. Zwar genierten wir uns ein wenig, da wir alle in Socken ankamen; aber was konnte es helfen! »Niemand guckt euch auf die Füße,« sagte unser Wirt, »und die Mönche, die früher hier gehaust haben, waren alle barfuß.«

»Das sind gebadete Stadtmäuse aus Karlsruhe, meine Herrschaften,« mit diesen Worten stellte uns der Forstmeister vor. Diese Herrschaften aber bestanden aus dem Stadtrechner des kleinen Städtchens Oppenau, dem Amtmann von Oberkirch und seinem Adjunkten; einem alten Feldscher, der sich Doktor nennen ließ, und dem Schullehrer, der auf Kost und Logis angestellt, die Wanderschule hielt. Das waren die Honoratioren, die damals zweimal in der Woche sich beim Forstmeister zusammenfanden. Denn zu jener Zeit war das Kloster Allerheiligen noch nicht so besucht wie heutzutage. Dazumal angelten noch keine flachshaarigen Engländer Forellen im klaren Bach, und unser derber »wilder Jäger« freute sich über jeden Besuch, der zu ihm in seine Einsamkeit kam. Ihm war es mehr um Gesellschaft und aufmerksame Zuhörer zu thun, als um die paar Kreuzer, die er verdiente. Er unterhielt mit seinen Jagdgeschichten die ganze Gesellschaft und hatte dabei neben sich ein Hubertusmesser liegen, das so groß war, wie das Sauls des Gaditers, mit welchem er beim Erzählen aufschneiden konnte, daß den Leuten Hören und Sehen verging. Nachdem er auch an diesem Abend von Wölfen und wilden Ebern, von weißen Hirschkühen und auch von der Dummheit des »Forstgehilfen« ein Mehreres berichtet hatte (wobei Wallenstein offenen Mundes ihm auf den Socken immer näher geschlichen kam), da brachte der alte Stadtrechner von Oppenau, namentlich um unsertwillen, das Gespräch auf das alte Kloster und auf die Mönche von Allerheiligen. »Ja«, sagte der Forstmeister, »das sind so Geschichten, von denen ich selber nicht gern erzähle;« dabei blinzelte er lächelnd und mit einem Seitenblick auf uns nach seinen Gästen hinüber. »Selbst unser einem gruselt's, wenn man nur daran denkt. Aber in den heiligen Zeiten, wie zum Exempel am Advent, oder vor Ostern, oder an Fronleichnam, da wird's drüben in der alten Abtei lebendig. Nachts um zwölf Uhr steht der Prior da in weißer Kutte mit dem Krummstab und liest die Messe mit hohler Stimme, und rings um ihn sitzen im Chor auf den Steinen die Mönche und murmeln in ihre langen Bärte hinein. Und dann singt es wunderschön durch die Hallen und geht es hier herein ins Refektorium, da hört man, wie sie die Gläser vom Simse holen, da rappelt's und tappelt's aus der Küche heraus und der feinste Hirschbraten riecht durch das ganze Haus.« Der Alle schien sich an unsern immer länger werdenden Gesichtern weidlich zu ergötzen, er ließ aber nichts davon merken, blinzelte nur öfters nach den Herren hinüber und erzählte fort: »Dann gehen die Mönche einzeln durchs Haus und suchen ihre alten Zellen auf. Einer ist einmal ganz lange vor meinem Bett stehen geblieben, bis ich halt meine Jagdflinte heruntergeholt hab' von der Wand. Da hat er mir eins mit dem dicken Strickende auf den Kopf gegeben, daß ich ganz durmelich geworden bin. In Sommerszeiten, läßt sich aber kein Mönch blicken, darum könnt ihr ganz ruhig sein, meine Herrn,« schloß der Förster und schaute verschmitzt lachend in unsere immer bleicher werdenden Gesichter.

Unserem »Förster« fiel eben wieder seine Tante von Baden ein, aber er schämte sich, den Gedanken laut werden zu lassen, und raunte nur leise dem Spiritus ins Ohr: »Wenn ich nur bei meiner Tante in Baden geblieben wäre.« Zum Glück kam bald die Försterin mit einer dampfenden Mehlsuppe, einem Gebirge von Kartoffeln und Leberwürsten, und alle Angst wurde tapfer hinunter gegessen. Trotz der Erzählungen des Forstmeisters, die heute »extra Aufgeschnittenes« enthielten, übermannte uns die Müdigkeit und der Schlaf, und süß und ruhig schlummerten wir in den ehemaligen Zellen der Mönche.

Es war früh morgens um vier Uhr, als der »wilde Jäger« mit einem ungeheuren Sprachrohr von unten herauf uns mit dem Gruße wach rief: »Aus dem Bett, ihr faulen Schlafratten, ihr Residenz-Schlafkappen! Wartet, ich hol' euch an den Beinen heraus! Nur herunter, hemdärmelig an den Brunnen! Waschschüsseln giebt's nicht, ihr Herren, und auch keine Toilettenseifen, aber frisches Klosterwasser, den Schoppen zu einem Kreuzer, – kommt, ich zapfe euch vom besten, jedem so viel er will.« Der Maulwurf kam zuerst herunter und mußte sich vom Forstmeister waschen lassen. Dieser befahl ihm nämlich, sein Gesicht unter die Brunnenröhre zu halten, und dann pumpte er ihm das eiskalte Wasser über den Kopf, daß es nur so platschte.

»Das ist Naturbleiche,« sagte er lachend, »da wird man weiß wie die schönste Leinwand.«

Der Maulwurf lobte, sich vor Kälte schüttelnd, pflichtmäßig diese Morgen-Erfrischung durch Klosterwasser und trank auch gleich einen Schoppen davon. Einer nach dem andern von uns mußte herunter, denn der »wilde Jäger« behauptete, das müsse man uns noch wochenlang anmerken, daß wir bei ihm im Wald über Nacht gewesen. Daß er so freundschaftlich und ohne viel Federlesens mit uns verfuhr, mochte daher kommen, daß ihm unsere Eltern in der Residenz wohl bekannt waren und er darum schon etwas weidmännisch zutraulich mit uns umgehen zu können glaubte. Schließlich aber thut's den Buben auch schon ganz gut, wenn man sie nicht in Baumwolle wickelt.

Nach dieser Brunnenkur stieg der wilde Jäger mit uns an die Wasserfälle hinab. Durch einen engen Schlund sich durch Felsen zwängend, stürzt der Bach hinab und bildet eine Reihe der schönsten Fälle. Kühne Brücken laufen hart am Abhang und an den Felsen gelehnt, längs des Baches hin. Alles dieses war ein Werk des alten Forstmeisters, der uns während des Ganges schauerliche Kriegsgeschichten aus der Schwedenzeit erzählte. Wir stiegen den Berg wieder hinauf und begaben uns in den alten Klostergarten, in welchem uns ein weißgedeckter Tisch mit einer dampfenden Schüssel empfing. Es war Suppe, kräftig und auf die Dauer. »Kaffee ist nichts für euch,« sagte der wilde Jäger, »der verfliegt im Magen, aber Weidmannssuppe, die hält vor.« Dann kamen Linsen und geräucherter Speck; kurz, es war echte Weidmannskost. Jeder bekam noch eine Knackwurst auf den Weg, die Flasche wurde mit Wasser und Oberkircher Kirschwasser gefüllt, und dann ging's unter der Begleitung des Jägerburschen hinunter nach Ottenhöfen. – Die Rechnung war aufs billigste gestellt; Mozart mußte der Forstmeisterin noch ein Ständchen bringen, in das die Sippschaft zum Dank für die warmen Socken im Chor einfiel. Der wilde Jäger drückte jedem die Hand, daß man aufschreien mußte vor Abschiedsschmerz. Bald lag die Abtei hinter uns samt dem wilden Jäger und seiner guten Ehehälfte, die uns noch viele Grüße an ihre liebe Vaterstadt mitgab.

Es war gegen elf Uhr, als wir in Ottenhöfen einrückten beim weithin berühmten Pflugwirt. Wir überlegten, ob wir der Kosten wegen Table d'hôte mitessen konnten oder nicht; denn wir wollten es auch einmal »gut« haben, wiewohl Wallenstein behauptete, beim »wilden Jäger« habe es ihm am besten geschmeckt. Aber das Wort »Table d'hôte« wirkte zu verführerisch auf uns, so etwas konnten wir nicht alle Tage haben. Der Maulwurf unterhandelte mit dem Pflugwirt, und weil wir unser acht waren, verstand sich der Mann zu der billigen Forderung von achtzehn Kreuzern oder fünf Groschen per Mann »samt dem Wein.« Wir packten unsere Ranzen aus, legten frische Kragen an und machten uns möglichst »fein,« denn das Haus war von Gästen ziemlich voll, die alle mitspeisen wollten. Mozart blies zum Sammeln und punkt ein Uhr marschierten wir alle in den Speisesaal, in welchem viele Herren und Damen aus Straßburg und Baden-Baden, Achern und der Umgegend an langer Tafel saßen. Der Maulwurf hielt die Etiquette aufrecht und sorgte dafür, daß keiner zu viel aß und trank, indem er uns allen immer die achtzehn Kreuzer und die Regeln der Bescheidenheit vorhielt. Die Tischgesellschaft ergötzte sich an unserem fröhlichen muntern Treiben und an unseren Erzählungen vom »wilden Jäger.« Namentlich war es eine Familie, ein schwarz gekleideter Herr mit einer ebenfalls schwarz gekleideten, blassen Dame und einem Töchterlein in unserem Alter, die uns mit lebhaftem Interesse zuhörten. Der sinnige, stille Schiller kam gerade neben die blasse, schöne Frau zu sitzen, und das Büblein gab ihr so nette Antworten, daß sie ihre volle Freude an ihm hatte. Wir mußten dann zum Dessert unsere Nachtgeschichte auf den Hornisgründen erzählen, was allgemeines Vergnügen erregte, und zum Schluß wurde dreistimmig gesungen, welchen Gesang Mozart sanft mit seiner Trompete begleitete.

Nun machte einer von den Gästen den Vorschlag, in aller Stille für uns Geld zu sammeln, da er dachte, wir seien hungrige Scholaren. Maulwurf aber wies die Gabe freundlich und fest zurück, »denn,« sagte er, »wir sind mit wenigem fröhlich.« Dafür bestellten uns nun die Gäste einen großen Leiterwagen, auf dem Strohbündel lagen und den zwei mutige Pferde zogen, damit wir in der Juli-Hitze den Weg nicht zu Fuß machen mußten. Diese Freundlichkeit nahmen mir mit Dank an. Einige von den Gästen, darunter die schwarz gekleidete Familie, hatten ihre Equipagen bei sich und nahmen denselben Weg nach Baden zurück, wie wir. Abwechselnd durfte nun einer um den andern mit in der Kutsche der freundlichen Familie fahren; zuweilen setzte sich auch der Herr zu uns auf den Leiterwagen. So ging es über Achern nach Bühl, unter der alten Windeck und dem Schloß Lauf vorbei, immer am Saume des schönen Gebirges entlang. Dem Maulwurf und Wallenstein zu lieb, die Brüder waren, wären wir gar zu gern nach der alten Burg Hohinrode, der Stammburg ihrer Ahnen, gegangen, und nach dem Edelfrauengrab, von dem sich auch noch manches Schöne erzählen ließe.

Der kleine Schiller aber deklamierte den Brüdern zum Trost das bekannte Gedicht von Chamisso: »Das Schloß von Boncourt.«

Der Herr, der mit uns auf dem Strohsitze saß, hörte freundlich zu. »Woher kennst du das Gedicht, Kleiner?« sagte er. »Unsere Mutter,« erwiderte Schiller, »liest uns manchmal am Abend vor. Alle ihre Lieblingslieder hat sie in ein Buch geschrieben, da lerne ich ihr zu lieb manches Gedicht auswendig, das ihr besonders wert ist.«

»Da hast du wohl eine gute Mutter, mein Kind,« versetzte der Herr. »Hast du noch mehr Geschwister?«

»Ja, noch vier kleinere; ich bin der älteste.«

»Und dein Vater?«

Da traten dem Schiller die Thränen in die Augen. »Er ist seit vier Jahren tot,« antwortete er fast tonlos. Wir alle kannten diesen wunden Fleck und wurden daher auch stumm und still. Sinnend saß der fremde Herr und drückte dem Knaben warm die Hand. Bald aber brach die Fröhlichkeit wieder durch, als wir nach Affenthal hereinfuhren, dem berühmten Weinort. Die Vorstellungen, welche der Name dieses Ortes erweckte, der doch irgendwie etwas mit Affen zu thun haben mußte, brachten einen unaufhörlichen Lachreiz bei uns hervor. Jeder von uns wollte den biedern Bauersleuten etwas von den Affen ansehen. Am Wirtshause angekommen ließ der fremde Herr für uns alle Brot, Käse und Affenthaler kommen. Wir griffen tapfer zu, denn so ein Bubenmagen arbeitet besser als die schnellste Mühle. Von dem Linsengericht des wilden Jägers und seinem Speck, und von der Table d'hôte des Pflugwirts war absolut keine Nachwirkung mehr zu verspüren, und es läutete schon wieder im Magen wie beim Müller, wenn der Gang leer läuft. Der fremde Herr freute sich königlich unseres Appetits, und selbst über die Züge der blassen Dame kam ein leichtes Lächeln. Es war gegen halb fünf Uhr geworden, als wir zur letzten Station aufbrachen, zum Kloster Fremersberg. Bis dahin sollte der Wagen uns noch bringen. So ging es denn vorüber an Steinbach, dem Geburtsort des berühmten Erbauers des Straßburger Münsters, Erwins von Steinbach, und dann hinauf durch die Halden und Weinberge zum alten Kloster, das damals zum Wirtshause umgewandelt war.

Fern winkte uns schon das große weiße Sandsteinkreuz entgegen, das der selige Großherzog Leopold an der Stelle des Hochaltars hatte errichten lassen. Bald fuhren wir durch das Thor bei dem hübschen Gasthause vor. Es war schon etwas abendlich geworden, als wir vom Wagen herunter kletterten.

Welche entzückende Aussicht ringsum! Drüben auf spitzem Kegel inmitten der hohen Tannen die einsame feste Iburg mit ihrem aus gewaltigen Quadern erbauten Turme. Dort senkte sich der Wald, Dörfer lagen im Abendschein der Sonne, da und dort stieg der Rauch aus den Schornsteinen. Im tiefen Violett lagen die Vogesen und doch so klar, daß man die fernen Ortschaften drüben unterscheiden konnte. Zu unsern Füßen zog der nahe Rhein. Unten im Thal läuteten die Glocken das Ave Maria der scheidenden Sonne nach. Wir sahen die Leute und die Herden heimziehen. Ringsum war alles so still, als wäre es Sonntag. Mozart blies zum Sammeln, und zwar das schöne Lied seines Namensvetters: »Goldne Abendsonne.« Wir sammelten uns am Fuße des großen Sandsteinkreuzes, das rings von hohen Malvenstauden umgeben war, und setzten uns auf die steinernen Bänke. Auch die fremde Familie, die uns längst nicht mehr fremd war, setzte sich zu uns. Schiller zog aus seinem Ränzchen ein Blatt. Zaghaft und schüchtern begann er; nach und nach aber hob sich die Stimme des schönen Knaben mit den wallenden Haaren und den sinnigen, blauen Augen. Er las die Geschichte des Klosters Fremersberg vor, aus der ich aber nur das Gedicht, das von seiner Gründung erzählt, mitteilen will.

Der Wald erbraust, der Sturmwind saust;
Wohl dem, der jetzt in Frieden haust!
Es zuckt und blitzt, der Donner rollt,
Als ob der Himmel brechen wollt'.

Und Markgraf Jakob irrt umher
Im finstern Walde kreuz und quer,
Getrennt von seinem Jagdgeleit,
Schon stundenlang und stundenweit.

Er reitet her, er reitet hin;
Die Zwerg' und Elfen necken ihn.
Bald gleitet er auf nassem Grund,
Bald ritzt ein Zweig sein Antlitz wund.

Der Fürst zum Tod ermüdet spricht:
»Mein Herr und Christ, dich laß ich nicht!«
Er stößt ins Horn zum letztenmal –
Da blinkt von fern ein Rettungsstrahl.

Zwei Fackeln schimmern durchs Gesträuch;
»Schutzengel Gottes, nahet euch
Und reichet hilfreich eure Hand
Dem Greise, dem die Kraft entschwand!«

Einsiedlermönche führten ihn
Zur Klause, die von fern erschien,
Ein schlichtes Mahl, ein trocknes Kleid,
Ein ländlich Bett war schnell bereit.

Er schlief, wie's Vöglein auf dem Baum;
Und träumte einen Jakobstraum,
Bis sich der helle Morgenstrahl
Hold grüßend durch das Fenster stahl.

Und also herzbeseligt ganz
Von stiller Andacht Friedensglanz
Sprach er: »Ein Kloster werd' erbaut,
Wo ich den Rettungsstern geschaut;

Damit noch mancher Wandersmann,
Vom Sturm verfolgt, da rasten kann.
Damit noch manches Rettungslicht
Aus diesem Waldesdunkel bricht.«

Und wie er's sprach, so ward's vollführt!
Von Jakobs Fürstenstab berührt
Erhob sich die bescheidne Klaus
Zu einem schmucken Gotteshaus.

Die Sonne war mittlerweile hinuntergesunken. Alle waren still geworden. Da stand die ernste, blasse Dame auf, küßte Schiller, der fast erschrak, auf die Stirne, und sagte zu ihm: »Du bist ein liebes Kind.« Der fremde Herr erhob sich auch, nahm Schillern an der Hand und verlor sich mit ihm und der Dame in den dichten Gebüschen. Was sie mit einander geredet, erfuhren wir damals nicht, erst später ward es uns kund. Die fremde Herrschaft hatte nämlich vor kurzem den einzigen Sohn verloren, der in Schillers Alter war und ihm sehr ähnlich gewesen sein soll. Daher zog es die Eltern auch so innig zu dem schönen Knaben. Sie fragten ihn nach seiner Mutter und schrieben Namen und Wohnung auf. Bald darauf machten sie seiner Mutter den Vorschlag, ihnen den Knaben zu überlassen, sie wollten für ihn sorgen, als ob sie seine rechten Eltern wären. Aber die Mutter konnte sich nicht von ihrem Kinde trennen. Da setzten die guten Menschen ihm ein Stipendium aus und ließen ihn studieren. Leider aber starb er in der Blüte der Jahre. –

Als Schiller mit verweinten Augen wieder zurückkam, blies Mozart zum Sammeln und Geschwindschritt. Wir eilten neben dem Wagen der fremden Herrschaft her, und kamen nach einer Stunde auf der Höhe oberhalb Badens an. Unten flammten die Tausende von Lichtern auf dem Platze des Konversationshauses, und es wogte von geputzten Gästen. Wir gedachten beim Scheiden der schönen Tage, der Stille und Einsamkeit im grünen Wald, am Mummelsee und beim wilden Jäger. Der Förster eilte zu seiner »Tante,« die andern in das alte Wirtshaus zum »Baldreit« – wir reichten uns die Hände und nahmen Abschied. »Es war doch herrlich!« sagte der Maulwurf zum Schluß. Der Verfasser aber, welcher der Mozart in der Gesellschaft war, bläst zwar nicht mehr auf der Trompete, aber zwischen den Lippen summt ihm das Lied, dessen Vers zu Anfang des Büchleins stand:

Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar;
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war!

Damit haben wir das erste Stockwerk durchgangen. Möge der Gang den geneigten Leser nicht ermüdet haben!


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