Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Zweites Kapitel

Der schwarze Kronenthaler

Man sagt wohl: »Was ein Dörnlein werden will spitzt sich bei Zeiten,« aber nicht alle Dörnlein spitzen sich so früh; und auch nicht alles, was sich spitzt, wird darum schon ein Dörnlein. Der Heiland hat's einst seinen Jüngern verboten, ins Unkraut zu fahren und es auszureißen vor der Zeit, dieweil auch manches als Unkraut aussieht und es doch nicht ist, und manches wie Weizen sich gebärdet und doch als Unkraut sich ausweist. Der Verfasser denkt da an so manches Büblein, das während seiner Schulzeit zumeist sein Brot mit Thränen aß und seinen Cornelius Nepos samt dem Julius Cäsar und anderen Lateinern hinunterwürgte, wie einen Kolben Glaubersalz oder ein Täßlein Baldrianthee, und es kaum begreiflich finden konnte, wie der Herr Professor den Julius Cäsar so über den Schellenkönig loben könne. Da hat's mancher nicht weiter gebracht, als immer nur zum 74 Ersten, oder auch manchmal zum Allerersten, Notabene: von unten. Da hieß es auch oft: »Aus dem wird sein Lebetage nichts und wird einmal ein Zuchthäusler.« Aber item: das Büblein hat sich siebenmal gehäutet und ist ein braver Mann, ein tüchtiger Amtmann, oder geschickter Arzt, oder ein guter Pfarrherr geworden. Damit soll jedoch kein Loblied auf die Faulheit und Dummheit gesungen sein. Aber es wendet sich doch manchmal das Blättlein. Und andere wieder, die oben an saßen, und untadelich waren in Fleiß und Aufführung und so viel Lobstriche bekommen hatten, als Bäume im Schwarzwald sind, und jedes Jahr bei der Prüfung ihr silbernes Prämium mit Hochgefühl heimtrugen, sind später elendiglich verkommen, und als sie ins Staatsexamen kamen, litten sie an einem incurablen Durchfall, den keine Mixtur stillen konnte. So wendet sich's auch manchmal hier – und darum ist's gut, man hofft nicht zu wenig und auch nicht zu viel für die Kindlein, denn wer weiß, was noch kommen kann! So ist's in unserer Familie einem von der Frau Seite bereits schon im vorigen Jahrhundert passiert, und des zum Zeugnis ein Kronenthaler aufgehoben worden, der vor Schamröte und Alter ganz schwarz geworden ist. – Wer einmal ins Murgthal reist, links ab von Rastatt auf der Bahn (die des Verfassers Freund, ein Hamburger Kind, gebaut hat) kommt auch zu dem schönen Städtlein Gernsbach. Hat er dort bei dem Adlerwirt gerastet und ein Schöpplein Eberblut getrunken, vom Schlößlein hinten im Thal, dann kann er schon die hügelige Stadt hinaufsteigen und kommt dann auch oben an die katholische Kirche und das Pfarrhaus. Da sieht er eine hohe Mauer aufgeführt links an der Straße, die den Pfarrgarten stützt, damit er nicht herunterkommt. Und wer die Mauer ansieht, denkt dabei: »da möchtest du auch nicht herunterspringen aufs Pflaster, das könnte einen weidlichen Schaden absetzen.« So dachte wohl auch das Büblein, das später der Urgroßvater meiner lieben Frau geworden ist, aber es half nichts, er mußte doch einmal herunterspringen.

Es gehörte derselbe auch zu denen, die während dem Latein, statt in Rom oder Gallien, sich plötzlich wo ganz anders mit ihren Gedanken befinden: draußen im Wald bei einem Vogelnest, oder im Stall bei den Hasen, oder bei den schönen Äpfeln im Nachbarsgarten, oder bei dem Pfannkuchen, den eben die Tante backt. Wenn solche plötzlich aufgerufen werden, da gilt's mit Siebenmeilenstiefeln springen, um wieder schnell in Rom oder da zu sein, wo just der Julius Cäsar steht, und das geht manchmal auf der Hatze, wie wenn einer zu spät an den Bahnhof kommt zum Zuge. Der kleine Urgroßvater konnte nicht mit Wahrheit das schöne Studentenlied singen:

»Glühend für Wissenschaft« –

sondern es stachen ihm vor allem die schönen Äpfel, die der Herr Pfarrer auf seinem Apfelbaum droben in dem Garten mit der hohen Mauer hatte, so verlockend in die Augen, daß er es kaum erwarten konnte bis die lateinische Schule aus war, wo er mit etlichen Gesinnungsgenossen sich aufmachte, dem Herrn Pfarrer (das heißt seinem Apfelbaum) einen Besuch zu machen. Sie waren glücklich heraufgekommen und waren eben im besten Zug Naturgeschichte zu studieren und einen Apfel nach dem andern in die lebendige Botanisierbüchse zu schaffen, die anderwärts auch Magen heißt, ohne gerade sorgsam zu achten, in welche Klasse nach Linnaeus der Borsdorfer Apfel gehört – als der Herr Pfarrer, der eben vom Mittagsschläflein aufgestanden war, mit kirschrotem Angesicht im Garten erschien. Er hatte gar keine Freude an dieser Art Studium und ging mit Hilfe seines weißen Spitzes und eines gehörigen Bambusrohres den Naturforschern zu Leibe. Jählings stoben die Knaben vom Baume herunter, der eine da, der andere dorthin. Die meisten fanden den richtigen Ausgang, durch den sie gekommen waren, wieder, nur der kleine Urgroßvater wurde betäubt, und bedachte nicht daß die bösen Geister immer da wieder hinaus müssen, wo sie hereingekommen sind. Der Spitz und der Bambus und der kirschrote Herr Pfarrer hatten ihm den Weg verlegt. So blieb ihm nichts übrig, als auf die Mauer hinauf zu springen, um wenigstens mit dem Spitz fertig zu werden, damit er nicht in zu nahe Berührung mit seinen Waden käme, und gedachte mit dem Herrn Pfarrer und seinem Stocke schon ins reine zu kommen. Aber der ließ den gefangenen Pechvogel nicht los, sondern rief dem Pfarrknecht, daß er von der einen Seite der Mauer herkäme, er wolle von der anderen kommen und der Spitz solle unten Wache halten mitsamt der Haushälterin. Als das Büblein die wohldurchdachte Schlachtordnung des Herrn Pfarrers durchschaute, blieb ihm nichts übrig als auf seine Rettung bedacht zu sein. Die war aber nur da, wo die Mauer fünfundzwanzig Fuß hoch war, und es hieß: entweder da hinab – oder der Spitz und Bambus, der Herr Pfarrer und der Pfarrknecht und die Haushälterin kommen über dich! Es galt kein langes hin und her, er mußte sich entschließen, denn die beiden rückten immer näher auf der langen Mauer, ganz ruhig, als ob ihnen der Fang nicht entgehen könnte. Den Knaben schauerte es, da hinunter aufs Pflaster zu springen. Da biegt um die Ecke ein windiges Männlein, der Schneidermeister, der an der Brücke wohnte, den der Kleine sehr wohl kannte. Der ging eben so sachte an der Mauer hin, daß der bedrängte Naturforscher sich ihn ausersah, und als er eben in die richtige Schußlinie kam – da mit einem Sprung herunter auf den Rücken des Schneiderleins, der unter seiner Last zusammenkrachte, und mitsamt seinem Reiter, der sich ihm um den Hals geklammert hatte, auf der Straße kollerte. Als er sich eben von seinem Schrecken erholt hatte und den Kleinen, der sich aus dem Staub machen wollte, sah, rief er: »Wart! Sp..... – du schlecht's Büble, aus dir wird dein Lebtag nichts.« Der Herr Pfarrer aber und der Pfarrknecht, denen der Fang entgangen war, respondierten: »Ja, ja. Ihr habt recht, Meister!«

Wie's dann zu Hause abgelaufen, und ob das Schneidermeisterlein auf Schmerzensgeld geklagt und der Herr Pfarrer auf seine Äpfel, das weiß ich nicht, oder ob alle, und sonderlich der Kleine, es fürs Klügste gehalten zu schweigen – kurz, die Geschichte war vergessen und doch nicht ganz. Der Lateiner häutete sich nämlich und wurde ein braver Student, und machte seine Examina mit Glanz, also daß sich alle Konsistorialen über den wohlgelahrten Magister verwunderten. So kam's, daß die Verwandtschaft ganz besonders darauf drang, daß der junge Herr Vetter, der »geistlich« studiert hatte, auch einmal in Gernsbach, seiner Vaterstadt, predigen sollte. Und der junge Magister hatte nichts einzuwenden und predigte fröhlichen Herzens in der Stadtkirche. Die Predigt war vorüber, die Verwandtschaft ließ sich beglückwünschen über dem berühmten Vetter, der es »gar zu schön und sauber« gemacht hätte. Als der junge Prediger in der Sakristei noch etwas zu verhandeln hatte, kam nach der Predigt ein kleines, dürres Männlein herein, das hatte Hände wie eine Nähjungfer und mehr Adern drauf als Fleisch, das gab ihm die Rechte und die Linke griff in die Westentasche und sprach dabei:

»Lieber Herr Magister! Nichts für ungut, aber Ihr habt mir gar wohl gefallen in Eurer Predigt, und ist schier ein Wunder, daß ein so junger Mann solchen Geist hat. Das hätte ich nicht hinter Euch gesucht und vermutet. Wißt Ihr noch, wie Ihr mir einst auf den Buckel gesprungen seid, als Euch der Herr Pfarrer wegen des Äpfelstehlens verfolgte? Da habe ich gesagt: »Aus Euch wird Euer Lebetage nichts.« Und jetzt seid Ihr doch etwas und zwar was Rechtes geworden, trotzdem daß Ihr in Eurer Jugend Euch habt gelüsten lassen und einem ruhigen Bürger auf den Buckel gesprungen seid, daß er leichtlich das Rückgrat hätte brechen können. Drum habe ich Euch Abbitte thun wollen und mich gefreut, daß Ihr Euch also gebessert habt. Und weil Ihr ein Gernsbacher Kind seid, so bin ich ganz stolz darauf, und Ihr müßt hier für Eure Predigt einen funkelnagelneuen Kronenthaler haben zum Andenken an den Schneider und an Eure erste Predigt. Gott befohlen. Adjes, Herr Magister.«

Der junge Magister stand im Kirchenrock und hörte mit niedergeschlagenen Augen die Predigt des Schneiderleins an, die ihm zur besonderen Demütigung diente. Nachdem er demselben gedankt, steckte er den Kronenthaler zu sich, der in der Familie geblieben ist, zum Zeichen, daß auch aus manchem Büblein, dem man's nicht angesehen hat, etwas Tüchtiges werden kann – Notabene aber nur, wenn er sich siebenmal häutet.


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