Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Aus der Familienchronik

Erstes Kapitel

Vom seligen Vater

»Aus dem Munde der jungen Kinder und
Säuglinge hast du dir eine Macht zubereitet
um deiner Feinde willen, daß du vertilgest
den Feind und den Rachgierigen.«
Psalm 8. V.3.

Wer seiner Zeit in der Geographie kein Faulenzer war, weiß, daß es noch bis auf den heutigen Tag von Kreuznach aufwärts nach dem Hunsrücken geht. Das wird wohl der größte Hundsrücken auf der Welt sein (wenn das Wort von Hund herkommen sollte), und ist gut und heilsam, daß der Hund dazu fehlt. Denn da könnte einem doch angst und bange dabei werden. Dieser Hundsrücken trägt auf seinem Rücken Städtlein und Dörfer, Wälder und Wiesen, und unter andrem auch das Städtlein Birkenfeld mit samt einem Schloß auf dem Berge. Im vorigen Jahrhundert gehörte es den Markgrafen von Baden, die zugleich die Herren der Markgrafschaft Sponheim waren und davon noch jetzt den Titel führen, es aber nicht mehr sind, wie heutzutage mancherlei Leute das nicht sind, was sie heißen. Jetzt ist das Ländchen, das in Mitteldeutschland liegt, der Verkehrserleichterung wegen zu Oldenburg geschlagen worden. Im Schlosse wohnte der herrschaftliche Forstmeister und der herrschaftliche Baumeister, und der letztere war mein seliger Großvater väterlicherseits.

Das Städtchen Birkenfeld liegt am Fuße des Schlosses und hatte mit seinen Erkern und Türmchen, den schwarzen Schieferdächern mit grünen Schlagladen ein trauliches Ansehen. Das Schloß war groß und weitläufig, faßte eine alte gotische Kirche und hatte Warttürme und Ringmauern. Trotzdem ging's aber ganz friedlich darin zu, denn es lag kein Kriegsvolk darin; auf den Wällen trocknete die Wäsche der Frau Forst- und der Frau Landbaumeisterin und in den Schießscharten hatte sich die Spatzen- und in den hohen Warttürmen die vornehmere Dohlenzunft ohne Hauszins einquartiert. Des Nachmittags kamen oft die Herren Beamten zu einander im großblumigten Schlafrock und rauchten lange kölnische Pfeifen zum Kaffee, und des Abends stiegen die »Herren« von Birkenfeld in Scharlach und Seide, oder goldgestickten Röcken mit langen Zöpfen und gepudertem Haar den Berg hinauf, oder die Herren vom Schloß kamen herunter, weil der Weg akkurat so weit war vom Schloß hinunter als vom Städtlein herauf. Da ward denn von guten und bösen Tagen geredet, von Franklin und Washington, vom Sultan weit hinten in der Türkei. Und es war alles Liebes und Gutes dabei.

Der Großvater trieb neben seinem Berufe noch Ackerbau und Viehzucht, oder wie man's jetzt nobler heißt: »Ökonomie;« denn es ist bald eine Schande, wenn man einen Bauern noch einen Bauern nennt. Er hatte viele Knechte und Mägde im Hause, um des vielen Viehs willen, das aufgezogen ward. Die Kinder hatten's dabei gut, denn sie brauchten sich nicht zu genieren wie die Stadtkinder, wenn sie noch ein dickgestrichenes Butterbrot haben, oder eine Schüssel süße Milch über den Durst trinken wollten, denn sie hatten's alles im Überfluß. Das war denn eine fröhliche Zeit für die Kinder des Herrn Landbaumeisters da droben auf dem Schloß. Denn ein Kind muß wie die Pflanze Luft und Licht haben, wenn's gedeihen soll, und was zu sehen kriegen, sonst lernt's nichts. Aber da war viel zu sehen und zu studieren. Vom Wartturm herunter sah man das ganze schöne Hunsrücker Land und drüber die Sonne auf- und untergehen. Unter der großen Linde im Schloßhof saßen abends die Knechte und Mägde und sangen, und an Markttagen kamen Besuche von auswärts. Da ging's im Schloßhof hoch her. Auf dem Wartturm gab's bei den Dohlennestern Naturgeschichte zu studieren, und der Schäfer wußte allerhand Sachen, die man nicht weiß, und hörte die Gräslein wachsen; und in der Kirche mit den gotischen gemalten Fenstern und den alten Grabsteinen der Herren von Birkenfeld gab's immer was Neues.

Aber da sollte etwas Neues kommen, was die Kinder noch nicht gesehen hatten, und das waren die Franzosen. Der geneigte Leser weiß, daß diese unruhigen Köpfe in den neunziger Jahren ihrem König den Prozeß gemacht und den Kopf abgeschlagen hatten. Und damit die Kopfabschneiderei schneller ging, hatten sie nicht etwa die Türken und Mameluken zum Beistand gerufen, sondern eine Maschine erfunden. Als nun die Reichsarmee sich aufmachte, den Frevel zu strafen, hatten sie es nicht gemacht wie der Mann, der zuvor gesessen und den Kosten überschlagen, ob er's habe, hinauszuführen, sondern sie hatten eine große Proklamation an die Franzosen erlassen und gemeint, das andere werde sich schon finden. Aber es fand sich das Gegenteil. Das Volk stand auf und die Reichsarmee wurde geschlagen, und die Franzosen kamen herüber und machten einen unerfreulichen Gegenbesuch.

So kamen sie auch auf den stillen Hunsrücken, der ihnen gewiß nichts zu Leide gethan hatte. Es war im Jahre 1795, als die Nachricht kam: die Franzosen kommen. Sie waren so schlecht empfohlen, daß man lieber dem Besuch auswich, und der Großvater mit seinen Kindern beschloß, der Mutter, die schon vorausgegangen war, nach Koblenz zu folgen. Es war tiefer Winter, der Schnee krachte unter dem beladenen Wagen und die Kinder krochen fast in den Großvater hinein vor Furcht, um so mehr, als sie mitten im Wald vor einer alten Ruine still hielten, weil man Menschenstimmen zu hören vermeinte. Die Flucht ging vorwärts nach Kirchberg und Koblenz, aber überall die Nachricht von den Franzosen, bis in einem kleinen Städtchen an der Mosel Ruhe gefunden wurde. Nach mehreren Wochen hieß es, die Franzosen seien zurück, und die Familie machte sich auf den Weg. Als sie aber in Birkenfeld ankam, war das Schloß von den Östreichern besetzt und sah wie eine kleine Festung aus, denn es wimmelte von Kriegsvolk darin. Alle Morgen wurde im Hofe von einem Mann in goldenem Rocke Messe gelesen und das Kriegsvolk kniete dabei nieder; des Mittags war türkische Musik während der Mahlzeit, und des Abends tranken und spielten die Soldaten mit Würfeln. Es war das bunteste Kriegsvolk, das man sehen konnte: Kroaten, Panduren, Rotmäntel mit langen Pistolen und eingelegten krummen Säbeln. Alles scheute sie, nur die Kinder hatten sie lieb, denn sie nahmen sie auf den Arm und tanzten mit ihnen herum, und setzten sie neben sich auf die ausgebreiteten roten Mäntel. Je besser den Kindern das lustige Treiben gefiel, desto weniger dem Großvater. Ein Ochse und Hammel nach dem andern wurde gschlachtet, und der Hahnen am Weinfasse wurde nicht kalt, und keiner fragte: »Was ist unsre Schuldigkeit?« sondern sie sagten: »Schreibt alles auf die Rechnung von unserm allergnädigsten Kaiser,« was etwa gerade so viel hieß als »schreibt's in den Schornstein hinein.« Und der Großvater sollte noch mehr verlieren. Eines Morgens hörte man eine starke Kanonade über dem Berge drüben. Die Östreicher rückten aus, nach kurzer Gegenwehr rückten die Franzosen vor das Schloß. Der französische General mit zwanzig Offizieren saßen nun da, wo die Östreicher gesessen hatten. Als der General nach acht Tagen abgezogen war, kamen unter einem andern französischen General die Arrièregarde; vielmehr ein Lumpengesindel, Bursche von fünfzehn bis siebzehn Jahren, verlumpt, ohne Strümpfe, viele ohne Flinte. Da ihrer so viele kamen und immer wieder neue, so nannten sie die Leute: »Grundelcher« oder »Gründlinge,« wie's auf hochdeutsch heißt, die sich ja bekanntlich auch zu Tausenden mehren. Als der Großvater den französischen General fragte, was er denn mit diesen kleinen Buben anfangen könnte, antwortete er: »Die schießen den größten Östreicher tot.« Sie trieben's noch viel ärger als die Östreicher, nahmen ohne weiteres alles was ihnen in die Augen fiel, plünderten die Ställe der Bauern und brieten die Tauben und Hühner, nachdem sie sie eine Weile erst blutend hatten herumfliegen lassen, weil der Koch behauptete, das Fleisch werde zarter. Da kam den Kindern immer mehr das Weinen an, zumal auch die Seuche unter dem zusammengeschleppten Vieh ausbrach und rings umher die armen verhungernden Leute sich aufmachten und um Gotteswillen um Brot baten.

Das Lumpengesindel zog wieder weg, dafür kam der General Ney mit frischen Truppen, die etwas manierlicher waren. An ihrer Stelle rückten Preußen ein. An einem Abend leuchtete der Himmel blutigrot, – die Franzosen hatten das Städtlein Kusel verbrannt. Die Preußen blieben den Winter durch und zogen im Frühjahr weg. Da kam in einer Nacht ein Schwarm französischer Husaren in das Schloß. Die Kinder schliefen schon, nur der Großvater war noch auf und ging ihnen auf die Hausflur entgegen. Sie drängten ihn in die Stube und forderten mit geschwungenen Säbeln von dem Großvater Geld. Als er ihnen ruhig sagte, daß er bereits ein ausgeplünderter Mann sei und keines mehr habe, drangen sie auf ihn ein, der Wortwechsel wurde immer heftiger. Der Großvater verteidigte sich mit einem Stuhl gegen sechs dieser Kerle, während die andern das Haus durchsuchten. Da wachte mein Vater, der damals ein Knabe von sechs Jahren war, auf, hört die Stimme seines Vaters und ahnt die Gefahr. Blitzschnell fuhr er aus dem Bette und kroch in seinem Hemdlein unter einem hohen Kasten durch, der die beiden Stuben trennte. Als er aber durch war und den Kopf vorstreckte, sah er einen Husaren seinen Säbel über den Großvater schwingen und zum Hieb ausholen. Wie eine Katze kletterte er von hinten an dem Husaren hinauf und hielt sich an seinen Arm, so daß er den Säbel im Schreck sinken ließ. Der Säbel fuhr in die Lehne des Sofas hinein und gab eine tiefe Wunde, aber sie blutete nicht. Dem Großvater aber hätte sie das Leben gekostet. Erstaunt über den beherzten Knaben, der nun eben so schnell am Hals seines Vaters hing, um ihn zu decken, wurde das rohe Volk zufrieden, ließ sich speisen mit dem letzten Rest dessen, was noch da war, und zog in der Nacht wieder ab. Der Großvater aber schloß das Kind in seine Arme und herzte es wie seinen Lebensretter, und behielt zu dem Kind seit jener Zeit, wiewohl er alle seine Kinder lieb hatte, doch eine besondere Zuneigung.

Das war auch die letzte Angst, die sie auf Birkenfeld ausstehen sollten. Der Großvater hatte alles verloren durch den Krieg und war aus einem reichen Besitzer ein armer Landbaumeister geworden. Seiner Frau zarte, Gesundheit war durch die vielen Schrecken gebrochen, und als ihm der Ruf nach der Heimat eine Stelle als Baurat gab, zog er im Jahre 1799 vom Hunsrücken herunter nach der Residenz, wo auch bald darnach sein treues Weib, die Hunsrückerin, starb.

Wenn er da am Aktentisch arbeitete, überflog ihn manchmal ein düsterer Schatten, unter dem aber die freundlichen Augen plötzlich leuchtend hervorbrachen: er dachte der schönen Zeit auf dem Hunsrücken und auf dem Birkenfelder Schloß, der leidigen Franzosen und seines Kindleins, das ihm das Leben gerettet. Mein Vater stand schon in den Siebzigern, als er diesen Zug aus seinem Jugendleben niederschrieb. Er hatte Italien, Frankreich, England und Deutschland in seinem Leben durchwandert, aber so lange, so gern und mit so viel reinem Glück dachte er an keinen Ort und keine Zeit zurück, als an die Jugendzeit auf Schloß Birkenfeld auf dem Hunsrücken.


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