Emil Wilhelm Frommel
Aus der Chronik eines geistlichen Herrn
Emil Wilhelm Frommel

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Drittes Kapitel

Das neue Haus und seine Insassen

Das »Ausziehen« hat der Verfasser im Laufe der Jahre redlich gelernt, und wenn das Sprichwort seine Wahrheit hat: »Dreimal umgezogen ist einmal abgebrannt,« dann ist er schon an fünfmal abgebrannt. Das erstemal aber geschah in früher Jugend, als der Vater zum Direktor der Galerie ernannt wurde. Da zogen wir aus, aus dem Hause am Spitalplatze in die schönste Gegend der Stadt, in die Nähe des Schlosses, des Theaters und des botanischen Gartens. Statt dem alten Landgraben die herrlichste Flora zu unsern Füßen. Die Treibhäuser statt des melancholischen Spitals, und statt dem Gejohle der »Dörflersbuben« der Gesang im Theater, den man bis zu uns herüber hören konnte bei den Proben. Und dann das originelle Schloß mit Turm und Türmchen, dem prächtigen Schloßgarten mit seinen alten schönen Bäumen; zum großen Hardtwalde nur ein paar Schritte – »Herz, was begehrst du mehr!« Ein Kind muß, wie die Pflanze, Licht und Luft haben, soll's anders gedeihen; aber wie viele Kinder müssen's entbehren! Ein eigenes Haus, ein eigener Garten, was ist's doch wert! So sein ganzes Glück nicht auswärts suchen zu müssen, sondern im Hause gern sein, unter den Augen der Eltern spielen und sich warm im Neste fühlen – das trägt doch für den spätern Menschen vieles aus.

Unten wohnte der Portier, ein alter, ehemaliger Hofbedienter und nachmaliger Galeriediener, der den Leuten die Galerie zeigte, die im mittleren Stocke des Gebäudes war, und oben auf wohnten wir. Die breiten Gänge hinauf waren mit weißen klassischen Gypsköpfen besetzt, die einst einer Bauernfrau einen tödlichen Schrecken einjagten, weil sie glaubte, sie lebten und wären doch nur Köpfe. Oben aber ein großer Raum von zwölf Zimmern in einer Flucht und ein langer Gang, das war ein Spielplatz samt dem hübschen Garten unten! Kurz, wir hatten's so gut, wie man's nur haben kann. Jetzt ist freilich das Vorderhaus zugebaut durch die neue schöne Akademie, und nur der Seitenflügel steht noch: immerhin aber das Stück des Hauses, darinnen wir unser Wesen hatten. Von meinen Habseligkeiten aus dem alten Hause ist ins neue Haus nur eins gekommen und bis zum heutigen Tage noch in meinem Besitz: mein weißes Taufhemdlein, unten mit einem grünen Eichenkranz in gestickten Perlen versehen. Mit dem Eichenkranz hatte es seine besondere Bewandtnis: die Mutter hatte als junges Mädchen in voller Jugendbegeisterung die Freiheitskriege durchlebt, der Bräutigam der Schwester war in der Schlacht von Belle-Alliance gefallen und so sollte ich »als Christ germanischer Nation« getauft werden. Wie ist mir das Taufkleid jetzt so eng geworden und bin draus heraus gewachsen! – und doch muß der Mensch wieder in es hineinwachsen, soll er anders ein fröhliches Gotteskind sein und bleiben; und nicht umsonst tragen (wenigstens die Mägdlein) das weiße Kleid an den Höhetagen ihres Lebens: an Taufe, Konfirmation und Hochzeit – und zuletzt kriegt jeder sein weißes Sterbekleid. –

Zu Bruder und Schwester und mir kam im neuen Hause noch ein schwarzäugiges Kindchen, und fünf Jahre später noch ein braunäugiges. Dieser letzte Bruder brachte uns Kindern etwas mit, jedem eine große Bonbonnière mit den verschiedenen Leibzuckersachen. Als wir an seine Wiege traten, lagen diese Dinger alle da mit Namen bezeichnet, die der kleine Bruder »aus dem Himmel« mitgebracht hatte. – Nur unser ältester Bruder Karl wollte nach genauerer Betrachtung finden, daß er irgendwo diese Bonbonnière schon einmal gesehen hätte – gerade so eine wäre auch »beim Zinko« (einem Konditor) einmal am Laden herausgelegen. Eine Ohrfeige von seiten der alten Wartfrau setzte diesen Skrupeln und Erinnerungen ein jähes Ende. – So waren wir denn unsere fünf.

Was ist's doch wert, Geschwister haben und nicht so das einzige Kind im Hause sein! Ein einzig Kind ist eben doch ein »Schreckenskind« und wie ein einziges Auge – erlischt das, so wird's finster im Haus. Aber so ein halb Dutzend Buben und Mägdlein in einem Haus und auch noch mehr, das giebt wohl Kopfbrechen für den Vater und Strumpfstopfen für die Mutter, dafür aber ist Leben da, Krieg und Frieden, wie's kommt. Vornehmlich aber giebt eines das Rasiermesser, die Putzschere und den Schleifstein für das andere ab; denn Geschwister wissen am besten, wo das eine und das andere seine Hühneraugen hat, und tritt ihm drauf und sucht sie ihm wegzutreten oder wegzuoperieren: und wo bei einem der Docht zu groß brennt, hilft das andere mit der Putzschere nach; und wo die rauhen Kanten sind, wird weggeschliffen frischweg, ohne Kompliment und Umstände. Und das ist ein Segen, denn später sagen einem die Leute wohl auch noch die Wahrheit, aber wie! – »Eine Mutter zieht sieben und siebenerlei Kinder,« heißt's im Sprichwort, sind sie doch verschieden wie die Vögel unter dem Himmel und wie die Blumen auf dem Felde. Wir waren's auch.


Die Schwester Bianca führte ihren Namen nach einer Italienerin, die als Freundin des Hauses hochgeschätzt wurde, und war das einzige Kind dieses Namens in der ganzen damaligen Stadt. Ein zartes, von Jugend an leidendes Kind mit großen, ungewöhnlich glänzenden Augen und braunen, über den Kopf gelegten dicken Zöpfen. Still für sich vergnügt war sie, wenn sie nicht krank war. Ich erinnere mich nur eines Augenblicks, wo sie übermäßig freudestrahlend aus der höhern Töchterschule heimkam, denn sie hatte das beste Zeugnis bekommen auf rotem Papier – eine Stufe der Vollendung, zu der wir »Buben« es nie bringen konnten. Dagegen war Bruder Karl ein anderer Geist. Noch habe ich ein Bild aus seiner Kindheit von ihm, ein rechtes Bubengesicht, so frisch und unternehmend in die Welt blickend mit seinen braunen Augen und den dicken, roten Pausbacken, in die die verschiedenen Onkels (»onkelmäßig« wie er behauptete) hineinkniffen; einen Urwald Haare auf dem Kopf, durch den der Kamm mühsam wie eine Lokomotive mit verschiedenen Haltstationen und Schmerzenspfiffen von seiten des Besitzers, durchdrang. Ging Einer seine eigenen Wege, so war er es. Er hielt sich meistens bei den Alten auf. Die alte Haan hatte ihn nach dem Tode seiner Mutter gepflegt und am Bette gehabt, und die Applone aus dem vorigen Kapitel war auch seine Freundin. So war in ihm bei allem Bubenmäßigen doch etwas Altväterliches. Zur Schule hatte er einen ziemlich weiten Weg, aber nicht bloß deshalb wurde er eine Stunde früher weggeschickt, sondern vornehmlich darum, weil er unterwegs an jedem Hause stehen blieb, die Fenster und die betreffenden Scheiben zählte, ob er sie noch richtig wüßte. Denn seitdem er zählen konnte, wußte er den Bestand an Fensterscheiben an jedem Hause auf dem Schulweg und kontrollierte jeden Tag. Auch zu Hause wurde alles mit Gründlichkeit visitiert, und hätte solches einmal schlimm für mich ablaufen können. Denn eines Tages (er war etwa sechs und ich zwei Jahre alt) fiel es ihm ein, sich genauer zu vergewissern, was das »glitzernde Ding im Auge« wäre – (der Augenstern). Zu solchem Behuf legte er mich kunstgerecht der Länge nach auf dem Boden, nahm eine Schere und war eben daran, mir die Augensterne auszustechen, als die Mutter hereinkam und ihn wegriß. Oft hat die Mutter mit tiefer Bewegung, wenn sie mir in die Augen sah, dieses Augenblicks erwähnt. – Ein anderes Experiment, wozu ich einmal herhalten mußte, bestand darin, daß er über dem Essen unter den Tisch schlüpfte und mich in die dicken, herabhängenden Beine kniff. Als ich schrie und die Mutter ihm Vorwürfe machte, warum er das thue, sagte er bedächtig und langsam (wie er immer sprach): »Ha, s'isch zu komisch! Wann m'r'n (man ihn) unten pfetzt (kneift), so schreit er oben!«

Auch die Strafen, die er abzubüßen hatte, machten keinen sonderlichen Eindruck auf ihn, weil er sie auch zu allerhand philosophischen Betrachtungen benützte. So hatte ihn die Mutter einst wegen einer Unart in das berüchtigte »Ofenloch« gesteckt. Welche Bewandtnis es mit diesem schauerlichen Verließe auf sich hat, wissen freilich norddeutsche Landeskinder kaum zu bemessen. Aber bei uns zu Hause, da wurde von außen gefeuert mit dicken, festen Buchenklötzen in den großen Porzellanofen hinein. Dazu aber ward der Schornstein benützt, der bis oben hinaufging. In dies Gemäuer stieg der Schrecken der Kinder, damals und heute: der Schornsteinfeger – und da hinein, wo's von oben her noch heulte und pfiff, wurde man gesteckt! Aber für Bruder Karl hatte dieser Ort längst alles Grauen verloren, seitdem er wußte, daß die Schornsteinfeger hinein und auch wieder herauskamen. Als er darum wieder einmal hinein mußte, ging er getrost. Die Mutter bekam Besuch und vergaß den Arrestanten total. Nach zwei Stunden erinnerte sie sich seiner plötzlich; sie riß das Schloß und die Thür im Schrecken auf; dann, als sie nichts sich bewegen hörte drinnen, dachte sie nicht anders, als daß der Junge erstickt sei. Sie fand ihn stillestehend, aber – auf einem Bein; das andere war in die Höhe gezogen. »Was machst du denn da?« rief die Mutter. »Ha,« erwiderte der gebesserte Malefikant, »ich hab' nur einmal gucken wollen, wie lang daß die Gäns auf einem Bein stehen können!« (Ziehen ja doch die Gänse gern das eine Bein hoch und stehen stundenlang auf dem andern.)

Nebenbei konnte er auch seinen Scharfsinn wie ein Untersuchungsrichter verwenden. Er beschuldigte mich einmal, ihm seinen Ball gestohlen zu haben, und sagte frischweg: »Du hast mir meinen Ball gestohlen.« Als ich meine völlige Unschuld beteuerte, stellte er das Verhör an und sagte zu mir, dem kaum vierjährigen Kinde: »Gieb einmal Achtung! Giebt's schwarze Gäule?« Antwort: »Ja.« »Giebt's weiße Gäul'?« »Ja.« »Giebt's braune Gäul'?« »Ja.« »Giebt's rote Gäul'?« »Ja.« »Giebt's blaue Gäul'?« »Ja.« »Giebt's grüne Gäul'?« – – »Ja.« – Da rief er triumphierend: »Siehst du, du lügst, und wer lügt, der stiehlt, hat die Mutter gestern gesagt. Du hast mir meinen Ball g'schtohlen.« Er drang zwar mit dieser Beweisführung nicht durch, wurde aber darob ebenso sehr bewundert als ausgelacht.

Bei ihm mußte man sich sehr in acht nehmen, nicht irgend etwas zu sagen, was nicht so ganz richtig war, denn schnell war er bei der Hand zur Anwendung im gegebenen Fall. So hatte er sich einst auf dem Jahrmarkt vertrödelt und war mit mehreren »Buben« herumgelaufen, hatte Streit bekommen und war von ihnen in den Straßenkot geworfen worden und kam heulend nach Hause. Als die Mutter ihn abgescholten hatte wegen seines Ungehorsams, fügte ein Freund des Hauses noch hinzu, um ihm die Sache recht eindrücklich zu machen: »Siehst du, deswegen hat dich der liebe Gott auch in den Dreck geworfen, das ist die Strafe dafür, daß du nicht heimgekommen bist.« Bruder Karl schlug die Augen nieder und schwieg. Ein paar Tage drauf gab er dem kleinen Bruder Max einen Stoß, daß er in den aufgeweichten Schmutz im Garten fiel. Die Mutter sah diesem Gewaltakte zu und rief: »Was fällt dir denn ein, den Max hinzuwerfen?« Bruder Karl, in der größten Gemütsruhe entgegnete: »Ich hab ihn nicht hing'schmissen.« Das ging der Mutter doch über die Bäume, und eben wollte sie ihn gehörig dafür herkriegen und sagte nur noch: »Ich habe es ja gesehen, daß du und kein anderer ihn hingeworfen; wer hat ihn denn hingeworfen?« »Der liebe Gott hat ihn hing'schmissen.« »Was?« rief die Mutter entsetzt, »der liebe Gott soll das gethan haben? Du hast's gethan; der liebe Gott thut so was nicht.« – »So,« sagte der Bruder; »dann hat er mich aber selbigmal auf der Messe auch nicht hing'schmissen, wie der Herr .... g'sagt hat.« So kam er diesmal mit dem blauen Auge davon.

Hatte je ein Bube einen Sammeltrieb, so war er es. Er erstreckte sich auf alles im Hause. Vornehmlich waren's die Schlüssel, die er zusammenbrachte und in seinem Zimmer wie in einem Hamsterbau verwahrte. Sie lagen alle geordnet nebeneinander; dann kamen die Scheren an die Reihe, je nach der Größe. Er mußte sich's drum gefallen lassen, daß alle paar Tage eine Razzia in den Hamsterbau von seiten der Mutter und der Jungfer gemacht und seine Schätze geplündert wurden. Vorsorglich hatte er auch einmal den ganzen Schlüsselbund der Mutter unter sein Kopfkissen gelegt und sanft darauf geschlafen. – Kurz, er war nicht wie andere Kinder. Sinnend und in sich verschlossen konnte er jahrelang Erlebnisse, Beobachtungen auf Reisen in sich tragen, und war kein Wort aus ihm herauszubringen; plötzlich brach's los und er erzählte dann so lebendig und anschaulich, daß man meinte, er habe es gestern erst erlebt. Ein eigentümlicher Unternehmungsgeist pulsierte aber in ihm, trotz seines beschaulichen Lebens. Lange trug er sich mit der Herausgabe einer Zeitung, »Vorzeit und Gegenwart« genannt. Endlich kam die Sache zur Reife; unter den Onkeln und Tanten wurde ein von ihm verfaßter Prospekt verteilt und Abonnenten gesucht, die bis auf zwanzig stiegen; das erste Blatt erschien. Er, der vierzehnjährige Junge, war der Redakteur, Bruder und Vettern die Mitarbeiter. Er selbst zeichnete sehr hübsch die Illustrationen dazu, deren erste der Trifels war, Richard Löwenherzens Gefängnis. Eine kurze Beschreibung der Burg und ein selbstverfaßtes Gedicht beschloß den »gelungenen« Artikel. Bruder Max lieferte einen »Gang nach Leopoldshafen,« dem berühmten Ankerplatz der Rheinkähne; Rätsel und Sinnsprüche aus Dichtern schlossen die vier Seiten lange Nummer, die wir dann im Schweiße unseres Angesichtes zwanzigmal abschrieben. Nach halbjährigem Dasein versagte aber der Witz und der Stoff. Als die Eisenbahn von Mannheim nach Karlsruhe eröffnet wurde, gab Karl ein Büchlein heraus mit den Ansichten der Hauptstationen samt Umgegend. Per »Stehwagen« hatte er die Reise billig gemacht und die Skizzen gesammelt und hübsch auf Kupfer radiert. Wir mußten dann für den Verkauf sorgen und brachten sie bei dem Portier der Eisenbahn glücklich unter. Seine Freude über den ersten Absatz war nicht zu beschreiben.

– – Die beiden lieben Geschwister – sie ruhen schon lange im Grabe. In der Blüte ihres Lebens starben sie. Schwester Bianca im dreiundzwanzigsten, Karl im zweiundzwanzigsten Jahre. Ein schwerer Typhus, von dessen Folgen sie sich nicht erholen konnte, nahm die zarte Schwester weg; Bruder Karl hatte sich zu einem Eisenbahnzuge verspätet, und lief einen stundenlangen Weg in kürzester Zeit und setzte sich erhitzt in den zugigen Wagen. Bald darauf fing er zu kränkeln an und starb nach monatelangem Leiden. – Aber beide gingen im Frieden heim, mit rührendster Liebe an unserer Mutter, die ihre Stiefmutter war, hängend. Das Bild der beiden, ihr seliger Heimgang, bleibt dem Herzen unvergeßlich.


Zu uns Geschwistern kam noch unser Vetter, des Vaters Schwestersohn, dessen Vater früh gestorben war, der jetzige Maler Lindemann-Frommel. So war das halbe Dutzend vollzählig. Hinten aber am Ende des Hauses in zwei großen Zimmern hausten »die Atelierherren,« Kupferstecher und Schüler des Vaters, ihrer acht bis zehn, junge und alte. Fast zünftig wurde hier von der Pike auf gedient: die Lehrjungen, die fegen und putzen, Stichel schleifen und mit der Pechfackel grundieren, das Frühstück beischleppen mußten; dann die Gesellen, von denen jeder an seinem Pult, mit großem Seidenschirm versehen, arbeitete, und die Altgesellen, die ihre besondere Stube hatten –, Bauernbuben und Stadtkinder, Schwaben und Engländer, alles wimmelte bunt durcheinander. Bald sang der Schwabe »Silber« ein Lied vom »Uahland,« bald der Engländer Lambert sein Rule Britannia, bald war es wieder totenstill und man hörte nur den Grabstichel durch den Stahl gehen. Dort wurden die Werke illustriert, wie Zschokkes romantische Schweiz, der Rhein, Tyrol; die Aeneide, der Horaz – alles nach Zeichnungen des Vaters. In's Atelier sich zu schleichen und bei diesen »herrlichen Jünglingen« mit den langen fliegenden Haaren, den Sammtbaretts und weißen Blousen sich aufzuhalten, welch eine Wonne!

Diesem Hinschleichen (denn 's war eigentlich in den Arbeitsstunden verboten) hab' ich's zu danken, daß ich noch ein Conterfei von mir aus frühester Jugend besitze. Unter all den Herrlichkeiten im Atelier schlief ich nämlich einmal an einem Sommernachmittag, auf einem Pult liegend, ein. Der Maler Mosbrugger benutzte diese Gelegenheit, mich aufs Pauspapier mit etlichen genialen Strichen in ganzer Häßlichkeit zu zeichnen. (Denn meine gute Mutter, die mich von Jugend an nicht in der Wiege, sondern in einem großen Waschkorb erzog, deckte mich schonend zu wenn Besuch kam – alles von wegen der Häßlichkeit. Selbst das kalte Wasser, in welchem ich, ein Winterkind, gebadet wurde, half dem Unglücke nicht auf, aber es benahm mir für's ganze Leben die Wasserscheu.) Daher also datiert noch dies Bild, mir immer, nach einer feinen Bemerkung eines Unparteiischen zum Trost: »wie sich doch ein Mensch mit einigem guten Willen im Lauf der Jahre verschönern könne.«

So war das Haus belebt und durchzogen von Kunst und Kunstjüngern, denn schon unten der Portier trieb auf eigene Faust allerhand Künste, und gab sich den Schliff eines Kunstverständigen. Wenn er Fremden die Galerie zeigte, ließ er mitunter seine Kunstansichten einfließen, z. B.: »Sehen Sie, meine Herrschaften, dies Bild ist von M ..., eine liederliche Haut! sag ich Ihnen – aber im Grau in Grau malen geht er keinem aus dem Weg.« Kam er an ein Bild von Franz van Mieris, dem berühmten Holländer, so murmelte er wohl leise: »von mir isch.« »Was, von Ihnen?« »Ja, wissen Sie, so dann und wann mal ich auch noch, aber 's geht halt nimmer wie früher.« »Sehen Sie, der Mann schreibt sich jetzt Laokoon (auf die Laokoon-Gruppe zeigend), aus Gips leider, aber weil er die Götter beleidigt, von den Schlangen gefressen. Schön gemacht, aber unpraktisch, wie Lessing sagt.« Leider wurden seine weiteren Kunststudien durch seine Pensionierung unterbrochen, die in den dreißiger Jahren erfolgte.


Freilich das Beste habe ich noch nicht genannt, was im Hause war. Das waren bis jetzt alles erst Sternlein und Trabanten, aber die Sonne im Hause, das waren doch Vater und Mutter, um die sich alles bewegte.

's wird einem Kinde schwer, von Vater und Mutter was zu sagen, geschweige denn davon zu schreiben. Haupt und Herz am Leibe sind schon nicht leicht zu beschreiben und auch nicht am Leibe der Familie, wo der Vater das Haupt und die Mutter das Herz ist. Jeder meint, daß er die besten Eltern gehabt – und so ist's auch recht. Er soll nur allewege bei diesem Glauben bleiben. Und so will ich's auch frischweg sagen: daß wir den liebevollsten Vater und die treueste Mutter hatten. Der Vater, durch und durch eine Künstlernatur, harmonisch durchgebildet, hatte aus einer schweren, kampfvollen Jugend sich einen frommen, heiteren und milden Sinn durchgerettet. Ich habe ihn kaum je verstimmt oder gar heftig gesehen. Schläge gab's von ihm nicht, aber mit viel Liebe und Milde, auch dann und wann mit fröhlichem Humor, half er einem zurecht, wenn man sich verhaspelt hatte, wie das Strickgarn der Tante, das wir zur Geduldsprobe zeitweilig zwischen den beiden Händen halten mußten, bis langsam alle Knöpfe gelöst waren, – oder wie eine Fliege, die den Weg aus dem Glase nicht mehr findet. Denn das kommt etlichemal bei den Buben und sogar auch bei den Mägdlein vor. Einen fleißigeren Mann wie ihn gab's nicht. Des Morgens regelmäßig um fünf Uhr auf und nüchtern gearbeitet bis sieben Uhr, wo er beim Frühstück eine Tasse schwarzen Kaffee mit uns trank, mit welcher er, bis mittags ein Uhr, ununterbrochen arbeitend, ausreichte. Nach dem Mittagessen das kurze, aber süße Schläfchen, das nicht länger als zehn Minuten dauern durfte, und dann wieder an die Arbeit bis spät die Sonne sank. Darnach ein regelmäßiger Spaziergang mit Mutter in der Abenddämmerung, und dann vor dem Abendessen beim Lampenschein Kohlenzeichen oder Radieren, – kurz, ich habe den Vater niemals im Leben müßig gesehen. Aber deswegen war's doch nicht so, wie bei manchen Vätern, deren Kindern das Herz klopft, wenn sie einmal in Vaters Zimmer kommen und Angst haben, zu stören, und die Rede hören müssen: »Was ist denn schon wieder?« sondern frisch und fröhlich gings mit dem Schulranzen oder mit der Flinte und Säbel hinein, und dem Vater die kleinen Leiden und Freuden erzählt, wahrend er ruhig, seine Palette haltend, weiter malte. Des Abends aber erzählte er aus seinem Leben, seinen Reisen in Italien, Frankreich und England; der ganze Schatz seines Herzens lag offen; war's aber ganz besonders schön, dann griff er nach der Guitarre, die er meisterhaft spielte, und sang mit seiner hohen, klangreichen Tenorstimme deutsche und italienische Lieder. Man wußte nicht warum, aber in Vaters Stube war's halt gar zu schön und traulich. Es war, als ob die Ruhe seines heiteren Gemüts sich über den ganzen Raum hergelagert hätte. Und doch – wie oft hat es der Vater gesagt – ›lieben Kinder! dankt's eurer Mutter, wenn aus euch was geworden ist!‹

Die Mutter, von deren Vater des mehreren in der »Familienchronik« und in »Vergangenen Tagen« steht, war durch den Ernst der Zeiten in der Jugend schon zu einem Charakter gereift. In Paris geboren, war sie mit ihren Eltern nach Bremen gezogen, hatte dort die Zeit der Freiheitskriege durchlebt, und war zuletzt in Straßburg im Elsaß zur Jungfrau herangereift. Eine stattliche Erscheinung mit schönen, braunen Augen und zartestem, rosigem Teint, dabei voll Verstand und fein gebildet, so reichte sie dem Vater die Hand in der Pfarrkirche zu St. Aurelien in Straßburg. Es bezeichnet ganz den Vater, wenn er des Morgens an seinem Hochzeitstage hinausgeht auf die Wälle der Stadt und von dort das Pfarrhaus und die Kirche, das alte Weißturmthor noch schnell zu Papier in sein Skizzenbuch malt und die Mutter darunter schreibt: »Am Hochzeittage.« Sie trat die beiden Kinder der ersten Frau an, und als erstes Wort in ihrem Wörterbuche stand das Wort »Pflichttreue.« Nie hat sie das Vergnügen der Pflicht vorgesetzt, wenn's ihr auch noch so sauer ward. Dem Vater nahm sie alles Schwere weg, damit er seiner Kunst leben konnte, und trug die Last des Hauses allein, während sie dem Vater den Schmuck und den goldenen Schein in dasselbe zu legen überließ. So hielt sie über uns alle das festeste Regiment, nur auf zwei Dinge unerbittlich haltend: auf unbedingten Gehorsam und unbedingte Wahrheit. Widersprechen, Opponieren gab's nicht bei ihr, und nichts haßte sie mehr als Lügen. Mit einem hohen, idealen Sinn verband sie ein scharfes, sittliches Urteil – wehe dem, der sich in ihrer Gegenwart ein rohes oder gar gemeines Wort erlaubte! Ihre feurige, fast französische Natur hatte etwas Republikanisches; sie kannte nur eine Autorität, das Gesetz, unter welches sie sich selbst beugte. Aber es lag auch das Schnelle, leicht Erregbare des französischen Charakters in ihr. Darum that sie leicht auch des Guten zu viel, und mancher Puff und Ohrfeige, deren es viele gab, kam auch einmal an den Unschuldigen. Aber sobald sie's erkannt hatte, war sie die erste, Abbitte zu thun, auch vor dem Kinde, wenn ihre Heftigkeit sie hingerissen. Alles glich doch in letzter Instanz ihre unwandelbare Treue aus – wir wußten doch alle: »Ein treueres Herz giebt's nicht.« Was sie für Recht einmal vor ihrem Gewissen erkannt, das focht sie durch mit aller Energie und Rücksichtslosigkeit, und Furcht vor Menschen kannte sie nicht. Sie sagte offen ins Gesicht, was sie dachte. Aber nie hat sie hinter dem Rücken eines Menschen geredet, und es auch nie gelitten, daß es vor ihr geschah.

So hat sie in uns den Sinn für Autorität, aber auch den Widerstand gegen jede Willkür, den Haß gegen alles Gemeine und Unedle, die Selbständigkeit des Wollens, mit einem Wort den Charakter und Willen in uns gepflegt und gestählt. –

Was beide Eltern aber uns wurden, als ihnen das Licht des Evangeliums heller aufging, und welch stiller, innerer Frieden nach schweren Kämpfen ihren Lebensabend vergoldete, welche überströmende Liebe und Milde aus dem verwitweten Mutterherzen floß – der selige Heimgang beider – das gehört in eine andere Zeit und an einen andern Ort, Nur so viel: soll ich den süßesten Teil meiner Jugenderinnerungen nennen, so wie er jetzt verklärt und abgeklärt vor meinem innern Auge steht, die beste Habe und Gabe fürs Leben, so schließen ihn die beiden Worte ein, die alles sagen: Vater und Mutter!


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